Arbeitsbedingter Krebs – die unterschätzte Gefahr

22. Februar 2023

In Österreich sterben, nach wissenschaftlicher Schätzung, jedes Jahr etwa 1.800 Menschen an arbeitsbedingtem Krebs. Politik und Wissenschaft sind sich in ihren Botschaften weitgehend einig: Vorsorge rettet Leben! Dies gilt insbesondere auch für die Arbeitswelt. Betriebliche Akteur:innen wissen aber zu wenig über die Gefahren am Arbeitsplatz. Hinzu kommt die mangelnde Bereitschaft des Gesetzgebers, dringend notwendige rechtliche Änderungen und Verschärfungen vorzunehmen. Es ist höchste Zeit, die Thematik offensiv anzugehen.

Stillstand in der Gesetzgebung

Die Arbeitsinspektion stellte 2019, im Zuge eines Kontrollschwerpunkts, erhebliche Mängel beim Umgang mit krebserzeugenden Arbeitsstoffen in vielen Betrieben fest. Trotz des klaren Handlungsauftrages, der sich dadurch für den Gesetzgeber ergibt, herrscht seither auf diesem Gebiet Stillstand. Seit 2018 („Türkis-Blau“) beschränkt sich die Bundesregierung im Bereich des Arbeitnehmer:innenschutzrechts auf Deregulierung und die Umsetzung von europäischen Mindeststandards. Eine sich ändernde Arbeitswelt und neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert.

Krebs als Berufskrankheit

In den Jahren 2015 bis 2021 wurden in Österreich 898 Krebsfälle als Berufskrankheit anerkannt. 729 davon waren Krebserkrankungen des Rippenfells, der Lunge und des Kehlkopfs, verursacht durch die Arbeit mit Asbest. Ein großer Teil dieser Erkrankungen endete tödlich.

An zweiter Stelle sind berufsbedingte Krebserkrankungen verursacht durch Hartholz zu verzeichnen (2015 bis 2021: 128 Fälle). Viele Krebsfälle werden hingegen in Österreich gar nicht als Berufskrankheiten anerkannt. Beispielsweise der weiße Hautkrebs, der in Deutschland bereits in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurde. Verursacht wird er durch UV-Strahlung. Auch Formaldehyd in Desinfektionsmitteln oder medizinische Produkte, wie z. B. Zytostatika, sind eindeutig krebserzeugend. Die Berufskrankheitenliste (Anlage 1 zum ASVG) bildet die tatsächlichen Gefährdungen längst nicht ab. Vielmehr wirkt die Liste willkürlich und antiquiert.

Mängel in der betrieblichen Prävention

Die Arbeitsinspektion hat im Rahmen des oben erwähnten Kontrollschwerpunkts festgestellt, dass von 300 überprüften Unternehmen, die mit krebserregenden Stoffen arbeiten, ein Drittel schlussendlich nicht sagen konnte, welche und wie viele Beschäftigte den verwendeten karzinogenen Stoffen ausgesetzt sind und mit welcher Intensität! Folgerichtig ist davon auszugehen, dass in diesen Betrieben auch keine gezielten Schutzmaßnahmen gesetzt wurden. Darüber hinaus hatten 38 Prozent der Betriebe kein Verzeichnis gefährlicher Arbeitsstoffe, wie eigentlich gesetzlich vorgesehen. Das fehlende Wissen und die mangelhafte Dokumentation machen die künftige Anerkennung einer Berufskrankheit für etwaige Betroffene schwer bis unmöglich. Siehe dazu Bericht zum Schwerpunkt krebserzeugende Arbeitsstoffe.

Mängel in der Gesetzgebung und Vollziehung

Grundsätzlich wären Arbeitgeber verpflichtet, sämtliche Gefahren für Sicherheit und Gesundheit zu ermitteln, zu beurteilen und Maßnahmen dagegen zu setzen (§ 4 ASchG – ArbeitnehmerInnenschutzgesetz). Dieser Verpflichtung wird nicht nur im Bereich der gefährlichen Arbeitsstoffe oft mangelhaft nachgekommen. Um hier ein besseres Präventionsniveau zu erreichen, bräuchte es eine deutliche Erhöhung der Strafrahmen sowie eine Ausweitung von Kompetenzen und Ressourcen für die Arbeitsinspektion. Dies wäre auch für eine bessere Umsetzung des Minimierungsgebotes notwendig (§ 45 ASchG). Demnach müssen Unternehmen Grenzwerte nicht nur einhalten, sondern ein möglichst weites Unterschreiten anstreben. Die Arbeitsinspektion kann hier in den meisten Fällen defacto lediglich Empfehlungen aussprechen. Eine Vorschreibung zur Ausschöpfung des vollen Präventionspotenzials kann hier durch die Behörde kaum gemacht werden.

AUVA-Angebote in Gefahr

Zur laschen Gesetzgebung und Vollziehung gesellen sich noch erhebliche Wissens- und Informationsdefizite in den Unternehmen. Die Arbeitsinspektion kann aufgrund ihrer geringen Ressourcen auch ihre Beratungsfunktion nur bedingt wahrnehmen. Um diese Lücke zu schließen, ist die AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) ein wichtiger Player in der österreichischen Präventionslandschaft. Doch auch hier werden seit Jahren auf politischer Ebene Sparprogamme beschlossen, indem die Beiträge der Arbeitgeber zur sozialen Unfallversicherung mehrmals reduziert wurden. Diese Einsparungen gehen zwangsläufig zulasten des Präventions- und Beratungsangebotes, da sich im Bereich der Versicherungsleistungen kaum etwas einsparen lässt.

Neue Grenzwerte für krebserzeugende Arbeitsstoffe erforderlich!

In Österreich werden krebserzeugende Stoffe nach wie vor nach technischen Richtkonzentrationen (TRK) bewertet, die oft seit mehr als 20 Jahren nicht mehr adaptiert wurden. Diese Grenzwerte orientieren sich nicht an einer sicheren, nicht gesundheitsgefährdenden Expositionsmenge, sondern schlicht an der technischen Machbarkeit. Tatsächlich sind für die Mehrheit der Karzinogene, für die TRK-Werte definiert sind, keine sicheren Grenzwerte festzulegen. Das Risiko einer Krebserkrankung besteht auch bei minimalster Exposition. Es wäre dringend an der Zeit, das System auf moderne Schutzstandards zu adaptieren. Deutschland und die Niederlande können hier als Vorbild dienen: Dort wurden „risikobasierte Grenzwerte“ für krebserzeugende Arbeitsstoffe eingeführt. Diese ermöglichen eine transparentere Risikobewertung, höheren Präventionsschutz und eine Risikobegrenzung für arbeitsbedingte Krebserkrankungen. Das System verlangt von politischen Entscheidungsträger:innen, klar zu formulieren, wie viele Krebserkrankungen sie bei Anwendung eines bestimmten Stoffes bereit sind zu akzeptieren. Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass dieses Konzept zu einer deutlichen Senkung der Grenzwerte, im Vergleich zu den aktuellen TRK-Werten, führen kann und somit zu höherem Gesundheitsschutz und zu einer besseren Risikobewertung durch betrieblichen Akteur:innen der Arbeitnehmerschutzes.

Zeit zu handeln

Der Stillstand in der Weiterentwicklung des Arbeitnehmer:innenschutzes ist zu beenden. Dies gilt insbesondere für die Prävention von arbeitsbedingten Krebserkrankungen. Die wissenschaftlichen Einschätzungen gehen von ca. 1.800 Toten pro Jahr in Österreich aus. Die Untätigkeit der Bundesregierung bedeutet, diesen erschreckenden Umstand zu akzeptieren. Es bedarf einer Änderung der Grenzwertesystematik hin zu risikobasierten Grenzwerten. Die Strafrahmen bei mangelhaften Schutzmaßnahmen, unzureichender Erfassung und Dokumentation und Nichtbefolgung des Minimierungsgebotes müssen drastisch erhöht werden. Die Arbeitsinspektion als vollziehende Behörde muss mit ausreichend Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden, um den Schutz vor arbeitsbedingtem Krebs wirksam durchzusetzen.

Zudem braucht es im Sozialversicherungsrecht eine Überarbeitung der Berufskrankheitenliste und grundsätzliche Änderungen – wie beispielsweise eine Beweislastumkehr hin zum Arbeitgeber –, damit Betroffene schneller und leichter zu ihrem Recht kommen. Die Einsparungen in der sozialen Unfallversicherung müssen zurückgenommen werden, damit Unternehmen – insbesondere kleine und mittlere Betriebe – ausreichend, qualitätsvoll und zeitnahe Präventionsberatung in Anspruch nehmen können. Die Gefahr darf nicht länger ignoriert und unterschätzt werden.

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