In der EU sowie in Österreich sind arbeitsbedingte Krebserkrankungen die häufigste Todesursache infolge der Arbeit. Trotz dringenden Handlungsbedarfs lässt sich der Gesetzgeber für lebensrettende Maßnahmen Zeit. So ist die Einführung risikobasierter Grenzwerte in Österreich längst überfällig. Dadurch ist das Risiko einer Krebserkrankung durch Arbeit in einigen Sektoren weiterhin enorm hoch. Außerdem ist die Erfassung berufsbedingter Expositionen gegenüber krebserzeugenden Stoffen mangelhaft.
Arbeitsbedingte Krebserkrankungen – Vielzahl an ArbeitnehmerInnen ist betroffen
Grundsätzlich darf Arbeit nicht krank machen. Das sagt die Gesetzgebung, und sie wird dabei von der Europäischen Grundrechtecharta unterstützt, die in Artikel 31 Absatz 1 festhält: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.“ Die Häufigkeit arbeitsbedingter Krebserkrankungen und daraus resultierender Todesfälle zeigt aber, dass der ArbeitnehmerInnenschutz in der EU sowie in Österreich regelrecht vernachlässigt wird.
Eine Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI) zeigt das Ausmaß des Problems: Es wird geschätzt, dass in der EU jährlich etwa 147.000 ArbeitnehmerInnen an Krebs erkranken, weil sie am Arbeitsplatz krebserzeugenden Chemikalien (Karzinogenen) ausgesetzt (exponiert) sind. Am häufigsten kommt es zu Lungenkrebs, gefolgt von Brustkrebs und von Blasenkrebs. Neben den Chemikalien spielen auch noch andere Krebsauslöser – etwa UV-Strahlung oder Schichtarbeit – eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Krebs durch Arbeit.
Hohe Dunkelziffer – fehlende Expositionsdaten
Tatsache ist, dass es eine hohe Dunkelziffer an Erkrankungs- und Todesfällen gibt. Viele arbeitsbedingte Krebserkrankungen werden als solche nicht erkannt. Hinzu kommt, dass nicht jede gemeldete Krebserkrankung mit Verdacht auf berufsbedingte Verursachung als solche auch anerkannt wird. Am Beispiel von Österreich können wir sehen, dass das Anerkennungsverfahren sehr restriktiv ist. Bei Frauen kommt verschärfend hinzu, dass es noch große Lücken bei der gendergerechten Beurteilung von Krebsrisiken und bei der Prävention von Berufskrankheiten gibt. Ein Bericht der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) verdeutlicht die Problematik der fehlenden Expositionsdaten. ArbeitnehmerInnen-SchützerInnen können aktuell nicht nachvollziehen, wie viele ArbeitnehmerInnen mit Karzinogenen arbeiten und ob bzw. welche Schutzmaßnahmen angewendet werden. Das bedeutet, dass oft lange Zeit nicht erkannt wird, dass ein bestimmter Stoff krebserzeugend wirkt. So unterbleibt auch die Expositionsüberwachung gegenüber Karzinogenen, und es kommt damit in der Praxis auch zu einer mangelhaften Umsetzung von bestehenden rechtlichen Standards. Das Risiko einer arbeitsbedingten Krebserkrankung steigt dadurch. Es kommt hinzu, dass mittlerweile viele ArbeitnehmerInnen Arbeitsbiografien in mehreren EU-Mitgliedsländern haben. In jedem EU-Land gibt es wiederum unterschiedliche Standards in der Krebsprävention – falls diese überhaupt angewendet werden. Die EU-Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der ArbeitnehmerInnen gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit gibt den Mitgliedstaaten nur Mindeststandards für Grenzwerte vor. Wenn die Betroffenen ohne ihr Wissen im In- und/oder Ausland mit Karzinogenen gearbeitet haben, wird der Verdacht auf eine Berufskrankheit ausbleiben. In der Folge kommt es auch zu keiner Meldung und/oder Anerkennung einer Krebserkrankung als Berufskrankheit. Dies führt dazu, dass die betroffenen ArbeitnehmerInnen nicht jene Versicherungsleistungen erhalten, auf die bei einer Berufskrankheit Anspruch besteht, etwa Rehabilitation und Entschädigungen.
Die Rolle der Grenzwerte – lebensrettende Maßnahme in der Krebsprävention
Man könnte meinen, dass die Einhaltung von Grenzwerten zuverlässig vor der Krebsentstehung schützt. Doch bei vielen krebserzeugenden Stoffen ist das nicht der Fall. Denn auch bei noch so kleinen Konzentrationen bleibt bei ihnen ein bestimmtes Risiko der Erkrankung an Krebs bestehen.
Bei diesen Stoffen lässt sich der Grundsatz, dass Arbeit keinesfalls krank machen darf, nicht mit völliger Sicherheit realisieren. Denn theoretisch kann schon ein Molekül eines solchen genotoxischen (das Erbmaterial schädigenden) Karzinogens einen Schaden bewirken, der zur Krebsentstehung führt.
Ein wichtiger Weg zum Schutz der Gesundheit der ArbeitnehmerInnen ist der Ersatz dieser Stoffe durch weniger oder nicht gefährliche Stoffe oder Prozesse (Substitution). Doch in einigen Bereichen stößt dieser Ersatz der krebserzeugenden Arbeitsstoffe an Grenzen. Beispiele sind Quarzstaub in Steinbrüchen, Holzstaub in Tischlereien, Vinylchlorid in der PVC-Produktion – sie können nicht durch weniger gefährliche Stoffe ersetzt werden, weil sie untrennbar mit den jeweiligen Prozessen verknüpft sind. Wenn der Ersatz nicht möglich ist, sind Grenzwerte ein wesentliches Instrument für die Minimierung von Belastungen durch krebserzeugende Arbeitsstoffe.
Risikobasierte Grenzwerte einführen und Krebsrisiko langfristig minimieren
Früher wurde in diesen Fällen mit sogenannten TRK-Werten gearbeitet, den sogenannten „Technischen Richtkonzentrationen“. Sie wurden in Hinblick auf die technische Machbarkeit im Betrieb festgelegt; was sie für das Krebsrisiko der ArbeitnehmerInnen bedeuteten, wurde nicht berücksichtigt. Sie sind völlig veraltet und mit teilweise exorbitant hohen Krebsrisiken verbunden.
Heute setzt sich das System risikobasierter Grenzwerte immer mehr durch. Dabei werden Grenzwerte aus zwei Komponenten abgeleitet: aus der Expositions-Risiko-Beziehung und aus einem politisch festgelegten Risikowert.
Die Expositions-Risiko-Beziehung (ERB) ist ein Ergebnis der Toxikologie und beschreibt, wie hoch das Risiko einer Krebserkrankung in Abhängigkeit von der Exposition ist. Gemeinsam mit dem Risikoniveau lässt sich mit ihr ein Grenzwert festlegen, dessen Unterschreitung garantiert, dass auch das Risiko einer Krebserkrankung als Folge der Verwendung des Arbeitsstoffes entsprechend beschränkt ist.
Risikobasierte Grenzwerte sind in Deutschland mittlerweile Alltag und sollen mittelfristig auch in Österreich die TRK-Werte ablösen. Sie geben eine Leitlinie für Schutzmaßnahmen, die eine immer weitere Verringerung des Krebsrisikos zum Ziel haben. Unabhängig davon muss weiterhin gelten, dass krebserzeugende Stoffe ersetzt werden müssen; dass, wenn das nicht möglich ist, die Exposition der ArbeitnehmerInnen durch technische und organisatorische Schutzmaßnahmen so weit wie möglich verringert werden muss; und dass der Einsatz persönlicher Schutzausrüstung – beispielsweise Atemschutz – nur als letzter Ausweg verwendet werden soll, wenn trotz des Ausschöpfens vorrangigerer Schutzmaßnahmen Restgefahren nicht ausgeschlossen werden können.
Forderungen
Ein am deutschen Vorbild orientiertes Konzept für eine Umsetzung risikobasierter Grenzwerte in der österreichischen Grenzwerteverordnung (GKV 2018) wurde bereits im Sozialministerium ausgearbeitet. Auf Wunsch der Interessenvertretungen der ArbeitgeberInnen wurde der Entwurf allerdings in die Schublade gelegt.
Bis zur Umsetzung risikobasierter Grenzwerte sollte für Karzinogene das mit dem TRK-Wert verknüpfte Krebsrisiko in der GKV angegeben werden. Für die Betroffenen in den Betrieben soll transparent sein, ob ihr Risiko etwa 1:10 oder 1:1.000 beträgt. Außerdem sollten zwischenzeitlich die teils jahrzehntealten TRK-Werte für krebserzeugende Arbeitsstoffe nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft abgesenkt werden. Derzeit scheint die Absenkung von veralteten österreichischen Grenzwerten für Arbeitsstoffe nur zu erfolgen, wenn dies aufgrund von EU-Richtlinien zwingend erforderlich ist.
Das Europäische Gewerkschaftsinstitut hat eine Liste jener krebserzeugenden Arbeitsstoffe herausgegeben, für die auf EU-Ebene prioritär Grenzwerte festgelegt werden sollen. Auf europäischer Ebene gilt es, das System der Grenzwertfestlegung für Arbeitsstoffe so zu gestalten, dass arbeitsplatzbezogenes Fachwissen genutzt wird. So können die Daten, die die Hersteller der Stoffe nach Bestimmungen des EU-Chemikalienrechts vorlegen müssen, sinnvoll ergänzt werden, um den bestmöglichen Schutz der ArbeitnehmerInnen sicherzustellen.
Zentral ist, dass alle Maßnahmen zur Prävention von arbeitsbedingten Krebserkrankungen ausgeschöpft werden müssen. Für den Fall, dass diese trotzdem eintreten, muss die Anerkennung von Berufskrankheiten angepasst werden, damit die Betroffenen die Leistungen aus der Sozialversicherung erhalten. Denn nur ein Bruchteil der Fälle von Krebs durch Arbeit wird auch wirklich von der Sozialversicherung als Berufskrankheit anerkannt. Um diese Lücke zu schließen, müssen die exponierten ArbeitnehmerInnen die erforderlichen Informationen über den Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und einer Krebserkrankung haben. Ein wichtiger Schritt dazu ist eine moderne, transparente Dokumentation der Exposition von ArbeitnehmerInnen gegenüber krebserzeugenden Arbeitsstoffen. Ideal wäre eine elektronische Expositionsdatenbank wie in Deutschland, in welcher ArbeitgeberInnen die gesetzlich verpflichtende Dokumentation und Meldungen vornehmen – in die aber auch die einzelnen ArbeitnehmerInnen Einsicht haben.
Doch in erster Linie geht es darum, dass es gar nicht zur Krebserkrankung kommt. Dazu müssen die politischen Anstrengungen dringend verstärkt werden: Jede arbeitsbedingte Krebserkrankung ist eine zu viel.