12-Stunden-Tag – Sinn und Unsinn geänderter Grenzwerte

01. Oktober 2019

Die türkis-blaue Bundesregierung ist Geschichte, noch bevor sie annähernd in die Zielgerade der Legislaturperiode einbiegen konnte. Was bleibt, sind eine Vielzahl an unsozialen und arbeitnehmerInnenfeindlichen Gesetzen, wie beispielsweise die Möglichkeit zur Ausdehnung der Arbeitszeit. Diese Änderung musste allerdings zwangsläufig zu einer Neubeurteilung bestehender Grenzwerte für gefährliche Stoffe am Arbeitsplatz führen, welche nun – etwas verzögert – auch umgesetzt wird.

„Speed kills“

Als ob das türkis-blaue Regierungsteam geahnt hätte, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, wurden tiefgreifende Reformen in Höchstgeschwindigkeit auf den Weg gebracht. Aus ExpertInnensicht kann hier vieles nur als überhastet und wenig durchdacht bezeichnet werden. Der 12-Stunden-Tag etwa wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion per Initiativantrag durch das Parlament geboxt.

Während der Boulevard diese „Dynamik“ weitgehend feierte, wurden die kritischen Anmerkungen vieler ExpertInnen in der Praxis bald virulent. Ein Beispiel betrifft die verschiedenen Grenzwerte am Arbeitsplatz, welche bisher gesetzlich auf einen 8-Stunden-Tag festgelegt waren. Bei längeren Arbeitszeiten stellte sich schlicht die Frage, an welchen Grenzwerten sich Betriebe und Beschäftigte künftig orientieren sollten. Schließlich handelt es sich häufig um gefährliche, krebserzeugende Arbeitsstoffe. „Speed kills“, hatte Andreas Khol (ÖVP) einst seiner Partei während des ersten fehlgeschlagenen schwarz-blauen Experiments ausgerichtet. Dies scheint auch hier zu gelten.

Erlass zu Grenzwerten

Nun sind krebserzeugende Arbeitsstoffe der aktuelle Schwerpunkt der europäischen Kampagne für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Neben der Arbeiterkammer und dem ÖGB befassen sich auch die AUVA und die Arbeitsinspektion eingehend mit der Thematik. Die auf fundierter wissenschaftlicher Einschätzung beruhende erschreckende Zahl von über 1.800 arbeitsbedingten Krebstoten jährlich in Österreich wurde medial häufig aufgegriffen und konnte somit auch von der ehemaligen Regierung nicht gänzlich ignoriert werden.

Vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (BMASGK) wurde deshalb Mitte Februar ein Erlass bezüglich der Vorgehensweise bei der Anpassung von Grenzwerten an alle Arbeitsinspektorate ausgegeben. Neben gefährlichen Arbeitsstoffen werden darin auch die Grenzwerte von Vibrationen und optischer Strahlung behandelt. Für chemische Arbeitsstoffe soll künftig ein Reduktionsfaktor entlang der Tagesarbeitszeit nach dem Modell von Brief und Scala errechnet werden. Entsprechend der Formel, welche diesem Modell zugrunde liegt, ergibt sich bei Ausdehnung der Arbeitszeit von acht auf zwölf Stunden, also um 50 Prozent, eine Reduzierung des Grenzwertes (exakt: des Tagesmittelwertes) um die Hälfte.

 

Beispiele für Arbeitszeiten und die sich daraus ergebenden Reduktionsfaktoren:

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

 

 

 

 

h = Arbeitsstunden,

RF = Reduktionsfaktor

Quelle: Erlass Anpassung von Grenzwerten, Geschäftszahl: BMASGK-461.308/0002-VII/A/4/2019

 

MAK- und TRK-Werte

In der Anlage zur Grenzwerteverordnung (GKV) sind eine umfassende Anzahl von chemischen Arbeitsstoffen erfasst. Als Grenzwerte sind entweder sogenannte MAK-Werte oder TRK-Werte angegeben. MAK steht für „Maximale Arbeitsplatz-Konzentration“. Solche Werte können für Stoffe angegeben werden, bei denen nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand ein Grenzwert definiert werden kann, unter dem eine Exposition ohne gesundheitliche Folgen bleibt. Die Grenzwerte sind als Tagesmittelwerte oder Kurzzeitwerte angegeben. Bei einer Ausdehnung der Tagesarbeitszeit muss der Tagesmittelwert herabgesetzt werden, um unterhalb der gesundheitlich problematischen Wirkschwelle zu bleiben. Denn durch längere Arbeitszeiten wird die Aufnahme des Stoffes durch den Organismus ausgedehnt, während gleichzeitig die Regenerationszeit verringert wird.

TRK-Werte geben die Technische Richtkonzentration an. Da es für diese krebserzeugenden Stoffe keine ungefährlichen Grenzwerte gibt, wird jener Wert angegeben, welcher nach Stand der Technik bestenfalls erreichbar ist. Der Grenzwert orientiert sich hier also tatsächlich nicht an der Gesundheitsgefahr, sondern an der technischen Machbarkeit! Arbeiterkammer und ÖGB fordern bereits seit geraumer Zeit eine Umstellung auf ein System risikobasierter Grenzwerte, welche eine deutliche Reduktion der Krebserkrankungen und damit verbundenen Todesfälle zur Folge hätte.

Sinn und Unsinn von Grenzwerten

MAK-Werte orientieren sich bei der Grenzwertfestlegung grundsätzlich an der Wirkung auf gesunde Personen im erwerbsfähigen Alter. Die zugrunde liegenden Studien beurteilen für gewöhnlich die Wirkung auf männliche, normalgewichtige Exponierte mit durchschnittlichem Minutenatemvolumen (also etwa ohne massive körperliche Anstrengung) – ein Idealtypus, dem bei Weitem nicht alle potenziell betroffenen ArbeitnehmerInnen entsprechen. Trotz dieser Problematik können MAK-Werte als nützliche Grenzwerte angesehen werden, bieten sie doch eine gute Orientierung für Arbeitgeber und Beschäftigte, die sich bei Einhaltung der Grenzwerte relativ sicher fühlen dürfen. Die Anwendung des entsprechenden Reduktionsfaktors entlang einer etwaigen ausgedehnten Arbeitszeit kann zielführend angewendet werden.

Bei den TRK-Werten bleibt das grundlegende Problem auch bei Anwendung des Reduktionsfaktors bestehen. Es gibt keine Null-Risiko-Schwelle, bei deren Unterschreitung man von gesundheitlicher Unversehrtheit ausgehen kann. Die Einhaltung eines Grenzwertes, der sich rein an der technischen Machbarkeit orientiert, kann eine etwaige Krebserkrankung nicht ausschließen. In der betrieblichen Praxis vertrauen jedoch viele Anwenderinnen fälschlicherweise auf die Einhaltung des TRK-Wertes, da sie dessen Unterschreiten als „sicher“ fehlinterpretieren. Grundsätzlich ist selbstredend auch hier eine Reduktion bei längerer Arbeitszeit zu begrüßen. Letztendlich muss aber der Sinn einer Reduktion eines nicht sicheren Grenzwertes auf ein ebenso nicht sicheres Niveau hinterfragt werden.

Minimierungsgebot

Dem Gesetzgeber sind die Defizite von MAK- und insbesondere von TRK-Werten durchaus bewusst, weshalb er zusätzlich zu den Grenzwerten ein Minimierungsgebot festgeschrieben hat (§ 45 Abs. 3 und 4 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz). Demzufolge müssen Arbeitgeber danach trachten, die Grenzwerte nicht nur einzuhalten, sondern so weit wie möglich zu unterschreiten. Dies kann die Arbeitsinspektion zwar theoretisch einfordern. Allerdings kann die Behörde nicht hinreichend einschätzen, inwieweit eine Unterschreitung möglich ist, und somit auch keinen Zielwert für eine entsprechende Aufforderung ableiten. Ohne erweiterte Kompetenzen für die Arbeitsinspektion und klare Vorgaben seitens des Gesetzgebers bleibt das Minimierungsgebot letztlich totes Recht. Und dies bedeutet, insbesondere bezogen auf TRK-Werte, dass tatsächlich veraltete Grenzwerte bei krebserzeugenden Arbeitsstoffen Anwendung finden, bei denen eigentlich nur eine absolute Expositionsvermeidung Sicherheit bietet.

Fazit

Die Reduzierung von Grenzwerten für chemische Arbeitsstoffe bei langer Arbeitszeit war wichtig. Letztlich kann dies jedoch lediglich als ein erster Schritt in die richtige Richtung gedeutet werden. Für die Arbeitsinspektion ist die Anwendung des Reduktionsfaktors eigentlich nichts Neues, da auch schon vor den jüngsten Änderungen im Arbeitszeitrecht länger als acht Stunden gearbeitet wurde und auch in diesen Fällen Reduktionsfaktoren errechnet werden mussten. Es ist jedoch äußerst fraglich, ob dies auch dort Wirkung entfalten kann, wo gerade keine Arbeitsinspektion ist. Messverfahren und die Berechnung von Reduktionsfaktoren stellen für betriebliche AkteurInnen oft eine Überforderung dar – speziell in kleineren Unternehmen. Tatsächlich sind sich viele gar nicht bewusst, dass sie mit Stoffen arbeiten, welche der GKV unterliegen, und setzen dementsprechend keinerlei präventive Maßnahmen. Um hier tatsächliche Verbesserungen zu bewirken, bräuchte es umfassende Beratung der Betriebe, aber auch strenge Mess- und Kontrollverfahren. Die Ressourcen hierfür müssten bei der Arbeitsinspektion und auch der AUVA deutlich ausgebaut werden. Die gescheiterte türkis-blaue Regierung hat jedoch stattdessen vehement die finanzielle Aushungerung dieser beiden zentralen Arbeitnehmerschutz-Organisationen betrieben.

Neben dem Ausbau des Beratungs- und Kontrollsystems braucht es außerdem eine Abkehr von den TRK-Werten hin zu risikobasierten Grenzwerten. Im Gegensatz zu manchen übereilt umgesetzten politischen Projekten der letzten Monate wäre hier tatsächlich eine rasche Umsetzung wünschenswert. Der Status quo bedeutet, weiterhin die circa 1.800 arbeitsbedingten Krebstode in Österreich zu akzeptieren. Dagegen bietet jede Grenzwertabsenkung die Chance, Leben zu retten.