Wie die Po­si­tion auf dem Arbeits­markt über das Wahl­recht ent­schei­det

01. Juli 2024

Jede sechste in Österreich lebende und erwerbstätige Person war 2021 auf Bundesebene nicht wahlberechtigt. In Wien traf das auf jede:n Dritte:n zu. Diese Menschen, die Teil der österreichischen Gesellschaft sind, Steuern zahlen und mit ihrer Arbeitskraft zum wirtschaftlichen Wohlstand beitragen, haben kein Recht auf eine demokratische Beteiligung in Form von Wahlen. Die Statistik Austria prognostiziert, dass dieser Teil der Bevölkerung weiterhin wachsen wird. Es besteht die Gefahr eines ernsthaften Demokratiedefizits in Österreich. 

Staatsbürgerschaft als „teures Gut“ 


Der Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft ist einer der restriktivsten weltweit. Folgerichtig gehört Österreich im EU-Vergleich zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Nicht-Staatsbürger:innen und den niedrigsten Einbürgerungsraten. Grund dafür sind die strengen Einbürgerungskriterien die neben einem Wissenstest, einer Mindestaufenthaltsdauer, rechtlicher Unbescholtenheit, einem Nachweis der Deutschkenntnisse und der Zurücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft zusätzlich ein Mindesterwerbseinkommen beinhalten. Besonders das Kriterium des Mindesterwerbseinkommens lohnt einer näheren Betrachtung. So zeigt unsere Analyse, dass 30 % der Arbeiter und fast zwei Drittel aller Arbeiter:innen (unabhängig von der Staatsbürgerschaft) dieses Kriterium nicht erfüllen. Auch wenn Angestellte in Österreich tendenziell ein höheres Gehalt beziehen, fällt hier ebenfalls eine von drei Frauen beim Mindesterwerbskriterium durch, unter den Männern einer von zehn.  

Dazu kommt, dass in Österreich lebende, ausländische Erwerbstätige vergleichsweise niedrigere Einkommen als Österreicher:innen beziehen und diese weniger stark steigen als die von österreichischen Kolleg:innen.  

Wir können also festhalten, dass die individuelle finanzielle Situation entscheidend für den Zugang zur politischen Beteiligung in Form von nationalen Wahlen ist. 

Mehrheit der Arbeiter:innen in Wien darf nicht wählen 


In den 1970er-Jahren lag der Anteil ausländischer Staatsbürger:innen unter den Erwerbstätigen bei gerade einmal 4 %, bis 2010 hat sich dieser Wert auf 10 % erhöht. Seitdem ist ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen.  

© A&W Blog


Stand 2021 ist jede sechste Person, die in Österreich lebt und arbeitet, bei nationalen Wahlen nicht wahlberechtigt. In Wien beinahe ein Drittel. Dabei ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte vor allem bei den Arbeiter:innen, die wie oben erwähnt tendenziell weniger verdienen, mit 31 % österreichweit und 60 % in Wien besonders hoch. Das heißt in Wien hat mehr als die Hälfte der Arbeiter:innen bei Nationalratswahlen kein Recht auf politische Mitbestimmung. Da Parteien ihre Forderungen meist an ihren potenziellen Wähler:innen ausrichten, werden die Interessen von großteils nicht-wahlberechtigten Gruppen oft ignoriert. 

Die Situation der Angestellten (inklusive öffentlich Bediensteter) ist weniger drastisch, hier besitzen österreichweit 14 % keinen österreichischen Pass. In Wien liegt dieser Anteil bei 25 %.  

Bereits an der basalen Unterscheidung des beruflichen Status in Arbeiter:innen und Angestellte lässt sich demonstrieren, dass das formale Wahlrecht mit dem sozialen Status zunimmt.  

Migrant:innen gehören häufig zu den Nicht-Wähler:innen 


Verschärfend kommt hinzu, dass österreichische Staatsbürger:innen mit Migrationshintergrund –  Personen, die selbst oder deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden – eine geringere Wahrscheinlichkeit haben wählen zu gehen als Staatsbürger:innen ohne Migrationshintergrund. In Österreich haben 41% aller im Inland ansässigen Arbeiter:innen und jede:r Fünfte unter den Angestellten und öffentlich Bediensteten einen Migrationshintergrund. In Wien liegen diese Werte bei 79 % und 41 %. Das heißt, dass in Wien sechs von zehn Arbeiter:innen kein Wahlrecht haben und weitere zwei, überdurchschnittlich häufig nicht wählen gehen.  

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Ausländer:innenanteil nach Berufen 


Zurück zum formalen Wahlrecht: Unsere detailliertere Untersuchung über den Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Wahlrecht ergibt eine Verknüpfung der Merkmale Staatsbürgerschaft und Berufsgruppe. Die verwendeten ISCO-Kategorien basieren auf definierten Anforderungsniveaus und implizieren eine berufliche Hierarchisierung von Führungspersonen über Bürofachkräfte bis hin zu Hilfskräften. Die Entlohnung sinkt ebenfalls tendenziell entlang der Hierarchie, weshalb die Berufsgruppen als soziale Schichten interpretiert werden können.  

Schon ein Vergleich der beiden Enden der Skala deutet darauf hin, dass der Anteil nicht wahlberechtigter Erwerbstätiger umso höher liegt, je geringer der soziale Status ist. Unter den Hilfsarbeitskräften ist der Anteil an Personen ohne österreichischen Pass mehr als doppelt so hoch wie unter den Führungskräften und den Personen in akademischen Berufen. Dieser liegt bei beiden Letzteren bei rund 15 %. Auch die Berufsgruppen der unteren Mittelschicht (Dienstleistung, Handwerk und Maschinenbediener:innen) weisen mit 20–25 % deutlich höhere Anteile an ausländischer Beschäftigung auf als die besser bezahlten Berufe. 

Bei sinkender Bezahlung steigt Ausländer:innenanteil 


Auch innerhalb von Berufsgruppen werden vergleichsweise gering bezahlte Tätigkeiten überdurchschnittlich oft von Nicht-Österreicher:innen ausgeübt. So haben unter den Dienstleister:innen besonders häufig die vergleichsweise schlechter bezahlten Reisebegleiter:innen, Kellner:innen und Friseur:innen keinen österreichischen Pass.  

Die auffälligste Gruppe ist jedoch die der Hilfsarbeitskräfte. Sie umfasst vorrangig Reinigungstätigkeiten und Hilfsarbeiten bei der Herstellung von Waren und im Transport. Die Bezahlung ist in dieser Gruppe deutlich geringer. Mehr als die Hälfte der in diesen Berufen tätigen Menschen haben einen Migrationshintergrund, 42 % kein Wahlrecht bei nationalen Wahlen. In Wien haben 85 % aller Hilfsarbeitskräfte einen Migrationshintergrund und zwei Drittel kein Wahlrecht auf Bundesebene. 

Folgt man also den Berufskategorien lässt sich (bis auf erklärbare Anomalien) ein steigender Anteil an Ausländer:innen bei sinkendem Anforderungsniveau und Entlohnung beobachten. In anderen Worten: Je geringer der soziale Status, desto höher der Anteil an nicht wahlberechtigten Personen.  

Fazit 


Es sind besonders häufig Angehörige unterer sozialer Schichten, die schon im Vorhinein vom politischen Prozess ausgeschlossen werden. Die eigene finanzielle Situation, und somit vor allem die Höhe des Einkommens, ist entscheidend für die Beteiligung am demokratischen Prozess. Durch die Verwehrung des demokratischen Beteiligungsrechts großer Teile der einkommensschwächeren Schicht wird die politische Interessensvertretung der gesamten Gruppe geschwächt. Wenn zwei Drittel der Hilfsarbeiter:innen in Wien nicht wählen dürfen, sinkt auch das politische Gewicht der Österreicher:innen im verbleibenden Drittel erheblich. Laut Prognosen wird sich dieser Trend in den nächsten Jahren verstärken. 

Es ist an der Zeit einen Staatsbürgerschaftsprozess anhand vernünftiger Kriterien ohne finanzielle Hürden einzuleiten. Vor allem in Österreich geborenen und aufgewachsenen Kindern sollte der Zugang erleichtert werden, so wie es in vielen EU-Ländern bereits der Fall ist.  
Die Beibehaltung des Status quo oder sogar eine zusätzliche Verschärfung dient rein der Schwächung der Demokratie.    


Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Kurzfassung einer in der Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) 4/2023 erschienenen Analyse.   


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