Die Ankündigung von Lieferando Österreich, alle festangestellten Mitarbeiter:innen zu kündigen und zukünftig auf freie Dienstverträge umzustellen, zeigt die Dringlichkeit, die EU-Plattformarbeitsrichtlinie auch in Österreich endlich umzusetzen. Die Spirale des Lohndumpings und der Prekarisierung dreht sich jedenfalls immer schneller.
Ein Teufelskreis der Ausbeutung
„Es geht nur noch darum, wer die Arbeit noch billiger erledigt“, so ein Insider der Branche. Diese bittere Erkenntnis ist Ergebnis der Strategie vieler Plattformunternehmen, Kosten durch die Auslagerung von Risiken und die Umgehung herkömmlicher Arbeitsverhältnisse zu senken. Die Leidtragenden sind die Arbeitnehmer:innen, die damit in einen gnadenlosen Wettbewerb um Aufträge und Einkommen gedrängt werden.
Schlechte Bezahlung, viel Risiko, keine Perspektive
Die realen Arbeitsbedingungen der vielfach migrantischen Beschäftigten in der Branche machen eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft nahezu unmöglich. 10-bis-12-Stunden-Schichten bei Wind und Wetter sind in der Praxis nicht unüblich. Als freie Dienstnehmer:innen und „Selbstständige“, die um jeden Auftrag kämpfen müssen, werden sie pro Lieferung bezahlt, statt nach Arbeitszeit. Wöchentlich wechselnde Arbeitszeiten und die Ungewissheit, genügend Schichten oder Bestellungen zu erhalten, um die Rechnungen zu bezahlen, prägen ihren Alltag. Die Plattform bestimmt, wie viele Personen um eine begrenzte Anzahl von Aufträgen konkurrieren. Die Beschäftigten tragen dabei das gesamte Risiko. Die Plattformbetreiber können bedenkenlos mehr Personal binden, um Auftragsschwankungen zu begegnen, da ihnen dadurch keine direkten Kosten entstehen. Die Beschäftigten hingegen tragen das volle Risiko dieser Schwankungen und sind einer größeren Konkurrenz um die gleiche Anzahl von Aufträgen ausgesetzt. Dabei bleiben keine Zeit und Energie übrig für Sprachkurse, Weiterbildungen oder gar ein soziales Leben abseits der Arbeit – es ist schlicht nicht planbar.
Dazu kommt der enorme psychische Druck, der durch die intransparenten Algorithmen der Apps entsteht. Welche unangekündigten (automatischen) Sanktionen sind aktuell vorgesehen? Wie viele Stornierungen sind erlaubt, bevor eine Sperrung erfolgt? Drohen Kündigung oder Sperrung am Monatsende wegen angeblich nicht zugestellter Ware ohne Möglichkeit zur Rechtfertigung? Welche Sanktionen folgen bei Schichtabbruch? Funktioniert das GPS ohne Unterbrechung oder ist man schon automatisch auf unbezahlter Pause? – Das sind Fragen, mit denen sich die Fahrer:innen tagtäglich konfrontiert sehen. Die ständige Sorge, dass das Einkommen die eigenen Lebenskosten nicht decken könnte, untergräbt jegliche Perspektive auf eine langfristige Integration.
Die Kombination aus prekären Arbeitsbedingungen, mangelndem Schutz und sozialer Isolation treibt Plattformarbeiter:innen in einen Teufelskreis der Ausbeutung, in dem jeder Faktor den anderen verstärkt und die Abhängigkeit vom Plattformarbeitgeber zementiert.
Die EU-Plattformarbeitsrichtlinie: ein Hoffnungsschimmer?
Ein Ziel der EU-Plattformarbeitsrichtlinie ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit. Erfüllt eine Plattform bestimmte Kriterien, wird laut Richtlinie ein Anstellungsverhältnis angenommen. Die Plattform hat aber die Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen (widerlegbare Vermutung). Außerdem werden Plattformen zu mehr Transparenz beim Einsatz von Algorithmen verpflichtet – und zwar unabhängig vom Anstellungsverhältnis.
Die Entstehung dieser Richtlinie war von langen und schwierigen Verhandlungen geprägt. Mächtige Mitgliedstaaten und Plattformunternehmen mit intensiver Lobbyarbeit versuchten, eine ambitioniertere Regulierung zu verhindern. Der schließlich gefundene Kompromiss überlässt die konkrete Ausgestaltung der Kriterien für die Vermutung eines Anstellungsverhältnisses den einzelnen Mitgliedstaaten.
Die Regierung ist gefragt: Minimallösung oder starkes Umsetzungsgesetz
Die Kündigungswelle bei Lieferando in Österreich kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt. Die Regierung steht vor der Aufgabe, die EU-Richtlinie jetzt in nationales Recht zu übertragen. Die Tragweite der Lieferando-Entscheidung unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer ambitionierten Umsetzung, die über eine reine Minimalvariante hinausgeht. Es gilt, klare Kriterien für die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses zu schaffen. Dabei müssen konkrete Transparenzregeln im Rahmen der algorithmischen Steuerung gesetzt werden und Schlupflöcher wie „freie Dienstverträge“ effektiv geschlossen werden. Viele der in der Richtlinie geforderten Mechanismen, insbesondere in Bezug auf die algorithmische Steuerung der Arbeitsabläufe, Transparenz und deren Kontrolle, würden sich idealerweise in Kollektivverträgen und Betriebsvereinbarungen darstellen lassen. Doch dafür braucht es auch Betriebsräte – und genau die wurden durch den Schwenk zu freien Dienstverträgen bei Lieferando abgeschafft. Die durch die Übernahme der Lieferando-Mutter durch einen Investor beschleunigte Marktkonzentration darf weder zur Untergrabung sozialer Standards noch zur Schaffung unfairer Wettbewerbsvorteile durch deren Umgehung führen.
Aus Sicht der Arbeitnehmer:innen in Österreich müssen bei der Umsetzung der EU-Plattformarbeitsrichtlinie folgende Maßnahmen Priorität haben:
- Ein klares und umfassendes Umsetzungsgesetz, das die Kriterien für ein Arbeitsverhältnis präzisiert und sicherstellt, dass auch in Fällen von wirtschaftlicher Abhängigkeit und algorithmischer Steuerung ein Anstellungsverhältnis angenommen wird.
- Die Einbeziehung von freien Dienstverträgen in das Umsetzungsgesetz, um deren missbräuchliche Nutzung zur Umgehung von Arbeitnehmer:innenrechten zu verhindern. Zum Beispiel durch Ausweitung der Gültigkeit der Arbeitsverfassung und des Kollektivvertrags auf „freie Dienstnehmer:innen“ in der Plattformökonomie oder im besten Fall durch Unterbindung dieser Beschäftigungsform in der Branche. Ohne Einbeziehung von freien Dienstnehmer:innen in den Wirkungsbereich von Kollektivverträgen, Betriebsvereinbarungen und insbesondere Betriebsräten als Kontrollinstanz und Anlaufstelle für die Beschäftigten bleiben mögliche Regelungen schwer bis nicht durchsetzbar, was wiederum für eine Unterbindung dieser Vertragsform spricht.
- Das Schaffen der Möglichkeit einer Verbandsklage, um generelle Missstände nicht auf den Rücken von Einzelpersonen auszutragen. Die bisherigen Schutzmechanismen reichen nicht aus, um den Beschäftigten ihre Rechte zukommen zu lassen, aufgrund der großen Hemmschwelle, Dauer und Ungewissheit.
- Die aktive Einbindung der Sozialpartner in den Prozess der Gesetzesentwicklung, wie in der EU-Richtlinie ausdrücklich vorgesehen.
- Starke Kontrollmechanismen und effektive Sanktionen für Plattformen, die gegen die neuen Bestimmungen verstoßen.
Die Entscheidung von Lieferando in Österreich ist ein alarmierender Weckruf, der die Dringlichkeit einer starken Regulierung der Plattformökonomie verdeutlicht. Ein Modell, das bei Essenszusteller:innen funktioniert, wird Schule machen und auch für andere Branchen zur Anwendung kommen. Um Ausbeutung durch Scheinselbstständigkeit entgegenzuwirken und faire Arbeitsbedingungen zu schaffen, muss Österreich die Chance nutzen und ein ambitioniertes Umsetzungsgesetz schaffen. Eine zögerliche oder minimalistische Umsetzung würde das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik untergraben, faire Arbeitsbedingungen im digitalen Zeitalter zu gewährleisten, und einer weiteren Prekarisierung in anderen Branchen Tür und Tor öffnen. Die zentrale Aufgabe ist nun, die politische Bereitschaft in konkrete und wirksame Maßnahmen zu überführen, die eine tatsächliche Verbesserung für die Fahrer:innen bringen.