Arbeitsrecht für Essenszusteller:innen – warum eigentlich nicht?

01. Oktober 2021

Bei einer Untersuchung der faktischen Arbeitsbedingungen zeigt sich, dass eine große Anzahl an Essenzusteller:innen nicht als Arbeitnehmer:innen eingestuft wird und ihnen so wesentliche mit diesem Status verbundene Rechte vorbehalten werden. Es spricht vieles dafür, dass es sich dabei um Scheinselbstständigkeit handelt, die aber gerichtlich mühsam in jedem Einzelfall durchgesetzt werden muss. Dies kann jedoch rechtlich geändert werden.

Fairwork-Studie erstmals auch für Österreich

Derzeit läuft, durch die AK Wien und die Stadt Wien gefördert, eine groß angelegte Studie zur Erforschung der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in der Plattformwirtschaft, die von Leonhard Plank und seinem Team an der TU Wien durchgeführt wird. Sie ist Teil des internationalen Forschungsprojektes Fairwork, das am Oxford Internet Institute und am WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung angesiedelt ist. Über ein globales Netzwerk von Forscher:innen werden die Arbeitsbedingungen auf digitalen Plattformen erhoben und auf der Grundlage der fünf Grundsätze für faire Arbeit gerankt. Das Fairwork-Projekt ist derzeit in 20 Ländern auf fünf Kontinenten aktiv, wobei eng mit Plattformbeschäftigten, Plattformen, Aktivist:innen und politischen Entscheidungsträger:innen zusammengearbeitet wird. Ziel ist es, die dort vorherrschenden Arbeitsbedingungen zu verbessern und so dazu beizutragen, die Zukunft der Arbeit gerechter zu gestalten.

Erste vorläufige Ergebnisse liegen nun zum Bereich der Essenzustellung vor: Bei den beiden großen Player, Mjam und Lieferando, wurden Beschäftigteninterviews durchgeführt und es wurde auch in deren Verträge Einschau gehalten. Aus arbeitsrechtlicher Perspektive ergibt sich hier ein sehr interessantes Bild.

Erste vorläufige arbeitsrechtliche Ergebnisse für den Bereich der Essenszustellung

Die beiden großen marktbeherrschenden Essenszustellungsunternehmen unterscheiden sich nämlich dadurch, dass die einen ihren Fahrradbot:innen, den Ridern, Arbeitsverträge anbieten und die anderen im Wesentlichen nur freie Dienstverträge. Auch wenn die sozialversicherungsrechtliche Stellung (und auch der soziale Schutz) eigentlich gleichwertig ist, so gibt es arbeitsrechtlich doch massive Unterschiede: Nur auf Dienstverträge kommt das Arbeitsrecht (insbesondere bezahlter Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) und der erstmals 2019 abgeschlossene Kollektivvertrag für Fahrradbot:innen zur Anwendung. Dieser Kollektivvertrag enthält ohnehin nicht allzu hohe Mindestentgelte (€ 8,90/h) sowie einen Anspruch auf Urlaubszuschuss und Weihnachtsremuneration und Kilometergeld für beigestellte Fahrräder (€ 0,24/km). Bei freien Dienstnehmer:innen ist das alles Vereinbarungssache und kann auch darunter liegen – es sei denn, es handelt sich um einen Fall der Scheinselbstständigkeit und eigentlich Arbeitsverhältnisse (dazu sogleich).

Konkret werden bei Lieferando mit den Ridern umfangreiche, viele Seiten umfassende und zweisprachig abgefasste Teilzeitarbeitsverträge (z. B. mit 10 h/Woche) abgeschlossen, die als „Abruf-Arbeitsverhältnis“ bezeichnet werden. Es gibt einen fixen Stundenlohn über dem Kollektivvertrag, die Einteilung der Schichten erfolgt dann wöchentlich auf Basis der bekannt gegebenen Verfügbarkeiten. Dabei müssen übrigens mehr Stunden angeboten werden, als dies als Arbeitszeit vereinbart ist. Zudem gibt es eine generelle unbezahlte Rufbereitschaft, offensichtlich um allfällige Lücken bei den Schichten abzudecken.

Bei Mjam hingegen gibt es einen schlanken freien Dienstvertrag ohne eine formelle Arbeitsverpflichtung und mit einem umfassenden Vertretungsrecht. Es gibt eine Bezahlung pro Bestellung, bei vereinbarten Schichten werden dabei zwei Bestellungen pro Schicht garantiert. Zudem gibt es für das vom Rider beigestellte Fahrrad ein freiwilliges, jederzeit widerrufliches Kilometergeld über dem Satz des Kollektivvertrages. Man kann das Rad aber auch von Mjam gegen Entgelt mieten. Faktisch muss – den Interviews zufolge – zumindest eine Schicht pro Monat gearbeitet werden, um aktive:r Fahrer:in zu bleiben. Die Ablehnung von konkreten Aufträgen wird mit einer „Zwangspause“ sanktioniert, in der man keine Aufträge bekommt. Es gibt auch ein internes Badge-System, das bei besserem internem Ranking bei der Schichtzuteilung Präferenzen einräumt.

Auch wenn diese ersten Ergebnisse noch weiter vertieft werden müssen, so ist eines klar: Den Interviewten ist der Unterschied zwischen Arbeitsvertrag und freiem Dienstvertrag durchaus bewusst. Obwohl es hier tatsächlich eine echte Alternative gibt wählen die Rider zum Teil die Selbstständigkeit in Form des „freien Dienstvertrages“ ohne umfassenden Schutz insbesondere bei Krankheit. Dies wird damit begründet, dass sie so zumindest formal größeren Einfluss auf das Arbeitsvolumen und die Arbeitszeit nehmen können. Es kommt hier somit zum Austausch von Freiheit gegen Schutz, einer spricht plakativ vom „price of freedom“.

Freiheit und Schutz sind kein Widerspruch (auch wenn es viele behaupten)

Damit wird das wiedergegeben, was auch in der politischen Diskussion und vor allem auch durch die Plattformen suggeriert wird: Es gehe eben schlicht nicht anders – wer mehr Freiheit haben möchte, der muss den arbeitsrechtlichen Schutz zumindest teilweise aufgeben. Und dieses Narrativ verfängt offensichtlich in der Plattformwirtschaft besonders gut. Das zeigt insbesondere die Ablehnung einer harten gesetzlichen Vermutung für einen Arbeitnehmer:innenstatus in einem kalifornischen Gesetz, dem AB 5, durch eine letztlich erfolgreiche Volksabstimmung über die sogenannte Proposition 22. Plattformbeschäftigte wurden in einer mit mehr als 200 Millionen Dollar von Plattformunternehmen finanzierten Kampagne von den „alternativen Fakten“ überzeugt, dass es bei einer Qualifikation als Arbeitnehmer:innen vorbei ist mit der Freiheit. Das ist natürlich schlicht falsch, wie jede:r weiß, der sich mit dem Arbeitsrecht näher befasst. Es gibt natürlich auch Arbeitsverträge, die Gleitzeit ohne Kernzeit und mobiles Arbeiten, das heißt Flexibilität im Sinne der Beschäftigten, ermöglichen. Was rechtlich aber nicht zulässig ist, ist eine Hyperflexibilität für die Arbeitgeber, wie sie vor allem die berüchtigten Null-Stunden-Verträge vorsehen. Damit wird auch klar, warum Arbeitsverträge von dieser Seite nicht gewollt sind und teilweise viel Geld aufgewendet wird, damit die Scheinselbstständigkeit nicht effektiv bekämpft werden kann.

Scheinselbstständigkeit als Dauerbrenner besonders bei der Essenzustellung

Bei einem genaueren Blick ist es gut argumentierbar, dass auch dort, wo freie Dienstverträge abgeschlossen werden, in Wahrheit echte Arbeitsverträge vorliegen. Das wurde schon 2017 für den in Mjam aufgegangenen Zustelldienst Foodora von Thomas Dullinger im Buch „Arbeit in der Gig-Economy“ überzeugend argumentiert. Und es spricht in der Tat vieles dafür, dass dies zumindest für die Dauer einer Schicht weiterhin so ist. Im Lichte der erst am 1.12.2020 ergangenen Entscheidung des deutschen Bundesarbeitsgerichts (9 AZR 102/20) kann man sogar von einem durchgängigen Arbeitsvertrag ausgehen. Dies ist demnach nämlich auch dann der Fall, wenn eine Plattform Anreizsysteme in Form eines Level-Systems einsetzt. Damit werden Plattformbeschäftigte zu kontinuierlicher Arbeit veranlasst. Dies macht auch Mjam in Form seines Badge-Systems, das den Ridern bei der Schichteinteilung Priorisierungen ermöglicht.

Es wundert daher auch nicht, dass in ganz Europa mittlerweile Gerichte die Scheinselbstständigkeit gerade bei Essenszusteller:innen aufdecken und diese als Arbeitnehmer:innen umklassifizieren (eine Übersicht aller Fälle von Christina Hießl wurde im Mai 2021 veröffentlicht). Der wohl bekannteste ist Spanien, wo das Höchstgericht im September 2020 (rec. 4746/2019) die Fahrradbot:innen der Plattform Glovo als Arbeitnehmer:innen einstufte (Einschätzung von Adrian Todolí-Signes). Nunmehr gibt es in Spanien seit dem Juli 2021 sogar das Ley Riders, das speziell für Fahrradbot:innen eine widerlegliche Vermutung zugunsten eines Arbeitsverhältnisses vorsieht. Zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit wird nunmehr davon ausgegangen, dass ein Arbeitsverhältnis der Rider besteht, es sei denn, die Plattform beweist das Gegenteil. Dies erleichtert ihnen eine Klage zur Feststellung des korrekten Vertragsstatus massiv.

Was plant die Europäische Kommission?

In dieselbe Kerbe schlägt auch die aktuelle Initiative der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten, die sich derzeit in der zweiten Konsultationsphase mit den Sozialpartnern befindet. Warum es diese grundsätzlich braucht, wurde bereits in einem A&W Blogbeitrag im Februar 2021 ausgeführt: Plattformarbeit – die Zeit ist reif für den nächsten Schritt.

An dieser Stelle soll auf einen besonders wichtigen Aspekt eingegangen werden, nämlich der Durchsetzung des korrekten rechtlichen Status und die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit. Die Europäische Kommission betont die praktischen Schwierigkeiten des Nachweises, die noch nicht konsistente Praxis der Gerichte in den einzelnen Mitgliedstaaten und insbesondere auch das Widerstreben der Plattformen, für sie unvorteilhafte Gerichtsentscheidungen auch tatsächlich umzusetzen. Sie sieht es daher als Hauptziel einer möglichen Plattformarbeitsrichtlinie an, die von Plattformen aufgedrängte Scheinselbstständigkeit in der Form zu bekämpfen, dass Beschäftigte leichter ihre korrekte rechtliche Einordnung und damit die aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte durchzusetzen können (z. B. Mindestentgelte, bezahlter Urlaub und Krankenstand, Kündigungsfristen). Besonders das hier bestehende Machtgefälle wird dabei ausdrücklich betont. Es werden dabei folgende Möglichkeiten zur Problemlösung erwogen, die zum Teil schon länger in Fachpublikationen und auch von der AK in einem Grundlagenpapier gefordert werden:

  • Widerlegliche gesetzliche Vermutung eines Arbeitsverhältnisses zur Plattform
  • Umkehr der Beweislast oder zumindest Abschwächung des Beweismaßes bei der Statusdurchsetzung
  • Niederschwellige Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des rechtlichen Status von Plattformbeschäftigten
  • Abstrakte behördliche Zertifizierung des rechtlichen Status der Vertragsbeziehungen

Das Europäische Parlament hat in Folge am 16. September 2021 eine Entschließung angenommen, in der unter anderen die Kommission aufgefordert wird, „in ihren künftigen Vorschlag eine widerlegbare Vermutung eines Arbeitsverhältnisses für alle Plattformbeschäftigten (…) aufzunehmen, um die korrekte Einstufung von Plattformbeschäftigten zu erleichtern, in Kombination mit der Umkehr der Beweislast und möglichen zusätzlichen Maßnahmen“. Dabei wird betont, „dass somit die Partei, bei der geltend gemacht wird, dass es sich um den Arbeitgeber handelt, nachweisen muss, dass kein Arbeitsverhältnis vorliegt, wenn Plattformbeschäftigte die Einstufung ihres Beschäftigungsstatus (…) anfechten“. Zu Recht wird dabei auch hervorgestrichen, „dass die widerlegbare Vermutung eines Arbeitsverhältnisses nicht dazu führen darf, dass automatisch alle Plattformbeschäftigten als Beschäftigte eingestuft werden“. Bei tatsächlicher Selbstständigkeit wird somit niemand in ein Arbeitsverhältnis gezwungen, wie dies bisweilen von Plattformseite behauptet wird.

Wie geht es nun weiter?

Es ist dem Vernehmen nach mit einem Richtlinienvorschlag der Kommission im Dezember 2021 zu rechnen. Wie so häufig bei arbeits- und sozialrechtlichen Initiativen auf EU-Ebene wird dieser im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs wohl stark umkämpft sein. Es zeigt sich nämlich, dass die Plattformen gerade auf der politischen und medialen Ebene großen Einfluss haben, wenn es um die Zurückhaltung bei deren Regulierung geht.

Die aktuelle Untersuchung der arbeitsrechtlichen Aspekte der über Plattformen arbeitenden Essenszusteller:innen in Österreich haben erneut gezeigt, wie schwierig es ist, die für die Arbeitnehmer:inneneigenschaft erforderliche Leistungsverpflichtung ebenso wie die persönliche Abhängigkeit zu beweisen. Die Plattformen loten alle Grauzonen aus, und die schriftlichen Verträge bilden nur unzureichend die tatsächliche Praxis ab. Letztlich sind die Rider mit einer App konfrontiert, die die Arbeit organisiert. Wie und unter welchen Kriterien die über diese erfolgten Angebote und Anweisungen zustande kommen, das wissen sie freilich nicht. Sie stehen einer digitalen Blackbox gegenüber, was zu einem Beweisnotstand führt und es ihnen fast unmöglich macht, das Vorliegen der für den Arbeitsvertrag konstitutiven persönlichen Abhängigkeit im Streitfall zu beweisen. Das ist eine unbefriedigende Situation, da die so nur schwer aufzudeckende Scheinselbstständigkeit einen starken Anreiz dafür schafft, Plattformbeschäftigte falsch einzuordnen, das Arbeitsrecht zu vermeiden und die damit verbundenen Kosten zu sparen. Dazu kommt, dass Plattformbeschäftigten vorgaukelt wird, dass es hohe Flexibilität nur unter Aufgabe des arbeitsrechtlichen Schutzes gäbe. Gerade in einer solchen Situation ist es auch zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und einem race to the bottom wichtig, die Durchsetzung des korrekten arbeitsrechtlichen Status zu erleichtern, wie dies die Europäische Kommission und auch das Europäische Parlament beabsichtigen.

Es wird in den nächsten Monaten wichtig sein, die einzelnen nationalen Regierungen davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist, um faire Arbeitsbedingungen auch in der Plattformwirtschaft zu gewährleisten. Es gilt zu vermeiden, dass diese zu einem “digitalen Wilden Westen” verkommen, in dem nur mehr das Recht des Stärkeren gilt. Auch Plattformbeschäftigte haben eine korrekte arbeitsrechtliche Einstufung und die damit verbundenen Rechte verdient.

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