Die Verhandlungen zum Entwurf der EU-Plattformarbeitsrichtlinie sind nun nach zwei Jahren abgeschlossen. Besonders kontrovers diskutiert wurde die zentrale Bestimmung einer widerleglichen Rechtsvermutung eines Arbeitsverhältnisses, die vor allem darauf abzielt, Scheinselbstständigkeit strukturell zurückzudrängen und Rechtssicherheit in Bezug auf den Arbeitsstatus zu schaffen. Praktisch bedeutsam sind jedoch auch die neuen Bestimmungen in Bezug auf Datenschutz, algorithmisches Management, Kommunikationskanäle und Information für Plattformbeschäftigte und ihre Interessenvertretungen.
Bestehende und bekannte Regelungsbedarfe
In der Vorweihnachtszeit ist die prekäre, aufgrund vereister Straßen und schwerer Lieferlasten gefährliche Arbeitssituation von Fahrradbot:innen, der geradezu prototypischen Gruppe der (ortsgebundenen) Plattformbeschäftigten, besonders sichtbar. Sie machen einen immer größeren Anteil der in der Unfallstatistik der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) erfassten Arbeitsunfälle aus. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die Plattformbranche wächst rasant und mit ihr weitet sich die Grauzone zwischen rechtlich abhängiger und selbstständiger Beschäftigung immer weiter aus. Arbeitnehmer:innen-Interessenvertretungen äußern vor dem Hintergrund dieser Entwicklung seit Jahren massive Bedenken hinsichtlich der Umgehung des Sozialschutzes, der Steuergesetze und vor allem des Arbeits- und Sozialrechts. Diese und andere bestehende rechtliche und reale Problembereiche sind seit Langem in fachlichen und gewerkschaftlichen Kreisen Diskussionsgegenstand und durch internationale (Forschungs-)Projekte wie „Fairwork“ mittlerweile auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Ebenso war lange bekannt, was es braucht, um die Rechte von Plattformarbeiter:innen zu stärken, ihre Arbeitssicherheit und soziale Lage zu verbessern und Scheinselbstständigkeit effektiv zu bekämpfen: einen Rechtsrahmen auf EU-Ebene. Denn der Plattformmarkt ist grenzüberschreitend strukturiert, was eine nationale Regulierung und Rechtsdurchsetzung in Einzelfällen erheblich erschwert. Die Kommission unter Präsidentin von der Leyen hat auf die Forderungen der Gewerkschaften reagiert und im Dezember 2021 einen sozial- und wirtschaftspolitisch durchaus innovativen und interessenausgleichenden Richtlinienentwurf vorgelegt, nach intensiven Verhandlungen und Diskussionen im Trilog wurde am 12. Dezember 2023 nun ein Kompromiss gefunden.
Die folgenden Regelungsbereiche sollen hier genauer vorgestellt werden: Datenschutzaspekte, algorithmisches Management und Kommunikationskanäle für Plattformbeschäftigte. Die Regulierungsvorschläge in diesen Bereichen haben dabei gemein, dass sie darauf abzielen, dem Grundgefühl von Plattformbeschäftigten, nämlich fremdbestimmt und ausgeliefert zu arbeiten und keine Möglichkeit zu haben, sich untereinander oder mit ihren Vertretungen auszutauschen, beizukommen.
Datenschutzaspekte und algorithmisches Management
Bemerkenswert ist zunächst, dass der Entwurf für eine „Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Plattformarbeiter:innen“ zwar nur auf Plattformarbeiter:innen mit einem Arbeitsvertrag oder in einem Arbeitsverhältnis anwendbar sein soll, jedoch in Bezug auf algorithmisches Management einen weiteren Anwendungsbereich aufweist – also auch für echte Selbstständige gelten soll. Dies wird damit begründet, dass sich diese Systeme automatisierter Überwachung und Entscheidungsfindung auf echte Selbstständige ähnlich wie auf Plattformarbeiter:innen auswirken. Die meist wirtschaftlich abhängigen Einzelunternehmer:innen werden also als gleichwertig schutzbedürftig eingeordnet. (Die übrigen Bestimmungen zielen vor allem auf die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ab, damit können diese schon ex definitione nur Arbeitnehmer:innen betreffen.)
Plattformarbeitende werden bezogen auf ihre personenbezogenen Daten dahingehend geschützt, dass die Nutzung automatisierter Systeme zur Überwachung und Entscheidungsfindung besonderen Transparenzbestimmungen unterliegt. Außerdem wird die Einhaltung der Rechte der Plattformarbeitenden und deren Gesundheit und Sicherheit durch eine menschliche Kontrolle der automatisierten Entscheidungen gewährleistet. So ist auch eine Informationspflicht für Plattformen gegenüber den Beschäftigten über Art und Umfang automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme vorgeschrieben. Die Einsatzmöglichkeiten solcher Systeme werden insoweit beschränkt, als automatisierte Systeme, beispielsweise in Bezug auf deren Risiko auf die körperliche und psychische Gesundheit der Plattformarbeitenden, menschlicher Kontrolle unterliegen müssen.
Ähnlich dem spanischen „Ley Riders“ ist ein Recht der Plattformarbeitenden auf eine schriftliche Erklärung von Entscheidungen vorgesehen, welche durch Algorithmen getroffen werden und sich erheblich auf die Arbeitsbedingungen auswirken. Dazu zählen insbesondere
- der vertragliche Status,
- die Arbeitszeiten,
- die Entlohnung,
- die Zuteilung von Aufträgen oder
- die Beendigung des Vertragsverhältnisses.
Im Falle einer für die Plattformbeschäftigten unzufriedenstellenden Erklärung der jeweiligen Entscheidung oder wenn diese sich in ihren Rechten verletzt sehen, ist die Plattform zu einer menschlichen Überprüfung der jeweiligen Entscheidung sowie zu einer etwaigen Verbesserung verpflichtet. Darüber hinaus hat innerhalb einer Woche eine begründete Antwort an den bzw. die Plattformarbeiter:in zu ergehen.
Wichtig ist auch, dass Plattformarbeitende vor Benachteiligung und negativen Konsequenzen durch die Plattformunternehmen geschützt werden, wenn sie Rechte ausüben, die ihnen aufgrund der Richtlinie zustehen. Sofern Plattformarbeitende, die ihre Rechte geltend machen, entlassen, gekündigt oder gleichartig negativ behandelt werden, liegt es im Zweifelsfall an der Plattform, das Nichtbestehen eines diesbezüglichen Zusammenhangs zu beweisen. Bei dieser die Beweislast umkehrenden Schutznorm handelt es sich um eine Form des aus dem europäischen Gleichbehandlungsrecht bekannten Benachteiligungsverbots.
Neue Rechte und Möglichkeiten für Interessenvertretungen
Auch den Interessenvertretungen kommen plattformspezifische Unterrichtungs- und Anhörungsrechte in Zusammenhang mit dem Einsatz bzw. wesentlichen Veränderungen bei automatischen Überwachungs- und Entscheidungssystemen zu. Die dort verankerten Rechte auf Informationhinsichtlich des Einsatzes von Algorithmen werden dadurch flankiert, dass Plattformarbeiter:innen bzw. deren Vertretungen Expert:innen zur Beratung beiziehen können, die von Plattformen mit mehr als 500 Plattformarbeitnehmer:innen in einem Mitgliedstaat in einem angemessenen Umfang zu bezahlen sind.
Darüber hinaus besteht für Interessenvertretungen die Möglichkeit, an Verfahren zur Rechtsdurchsetzung teilzunehmen und im Namen der von ihnen vertretenen Plattformarbeitenden zu handeln. Der Richtlinienvorschlag sieht explizit die Möglichkeit vor, mehrere Plattformarbeiter:innen im selben Verfahren vertreten zu können, um (grenzüberschreitende) Rechtsdurchsetzung effektiv(er) und kosteneffizient(er) zu gestalten.
Für die praktische gewerkschaftliche Arbeit von großer Bedeutung ist zudem, dass die Mitgliedstaaten die digitalen Plattformen verpflichten müssen, interne Kommunikationsmöglichkeiten für Plattformarbeitende zu schaffen. Diese müssen so eingerichtet werden, dass sich Beschäftigte ohne Überwachung oder Einflussnahme durch die Plattform untereinander austauschen und ihre Interessenvertretung erreichen können – „in view of defending their interests towards the employer, despite the lack of a common place of work“ (Artikel 15 des RL-Entwurfs). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es in aller Regel keinen physischen Betrieb gibt, in dem Begegnungen und/oder auch etablierte Formen zur kollektiven Diskussion, Wahrnehmung und Verhandlung von Interessen, wie insbesondere Betriebsversammlungen, stattfinden können.
Neben den Plattformarbeitenden sichert die Richtlinie auch staatlichen Behörden Zugang zu wesentlichen Informationen, beispielsweise über die Anzahl und Art der dort aktiven digitalen Plattformen und die Zahl der für diese tätigen Beschäftigten. Außerdem sind der jeweilige Beschäftigungsstatus sowie allgemeine Geschäftsbedingungen, welche auf die Vertragsverhältnisse anzuwenden sind, zu melden. Diese Informationspflichten bestehen neben den Behörden auch gegenüber Vertreter:innen der Plattformbeschäftigten. In Österreich wären dies jedenfalls die Fachgewerkschaften und ex lege die Arbeiterkammern sowie Betriebsräte.
Die Beschlussfassung zur neuen Richtlinie war ein lange überfälliger und wichtiger erster Schritt zur tatsächlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen. Die hier skizzierten neuen Rechte in Bezug auf Datenschutz, algorithmisches Management, Kommunikation und Information werden einen wichtigen Beitrag zu einer solchen Verbesserung leisten.