Zu streiken stellte für Lohnabhängige in Österreich bislang eine ausgesprochen seltene Erfahrung dar. Aus diesem Grund entstanden – im Unterschied etwa zu Deutschland – in der Vergangenheit kaum gesellschaftspolitische oder rechtliche Kontroversen rund um das Thema. Gab es für den einen Teil der (eher) männlichen abhängig Beschäftigten schlicht keine Notwendigkeit, zu Arbeitskampfmaßnahmen zu greifen, weil deren Interessen auch auf dem Verhandlungsweg durchgesetzt werden konnten, war es für den anderen Teil der (eher) weiblichen Lohnabhängigen beinahe denkunmöglich, in den Streik zu treten. Es bestanden hohe institutionelle und organisationale – Stichwort geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad –, aber auch emotionale Barrieren. Allmähliche Veränderungen in der Logik der Interessenartikulation und sozialpolitische Zuspitzungen (Stichwort sozialer Ausgleich in der Inflationsfrage) trugen jedoch dazu bei, dass in Österreich eine neue Streikfreudigkeit spürbar ist. Dadurch gewinnen ganz neue Fragen an Bedeutung, die in der neuen WISO-Ausgabe 3/2023 „Streikerfahrungen“ aufgearbeitet werden.
Die Arbeitsbeziehungen in Österreich sind traditionell durch kompromissorientierte Konfliktlösungsstrategien, die vielfach eine hohe gesellschaftliche Tragfähigkeit bewiesen haben, gekennzeichnet. In diesem Rahmen ist es zwar sehr wichtig, streikfähig zu sein, und daran bemessen sich die Möglichkeiten der verschiedenen Beschäftigtengruppen, ihre Interessen mit Nachdruck artikulieren zu können. Zum Streik kam es tatsächlich aber in den seltensten Fällen, vielfach reichte die Streikdrohung aus. Der kämpferische Streik wird symbolisch durch das friedliche Ritual der Kollektivvertragsverhandlungen ersetzt, das mit Versammlungen in den Betrieben begleitet wird.
2023: ein Jahr arbeitsbezogener Proteste
Allerdings gibt es auch eine oftmals vergessene Geschichte des Arbeitskampfes in der Zweiten Republik, wie die ÖGB-Streikstatistik ausweist. Spitzenwerte erreicht die Anzahl gezählter Streikstunden etwa in der durch akute Versorgungsprobleme und Spannungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gekennzeichneten Nachkriegszeit, die sich 1950 in einer spontanen Streikwelle (Stichwort Oktoberstreik) entzündeten oder als Ausdruck von Protesten gegen die Pensionsreform der ersten schwarz-blauen Regierung im Jahr 2003 (nachzulesen im von Susanne Pernicka herausgegebenen Buch: „Sozialpartnerschaftliche Handlungsfelder: Kontinuitäten, Brüche und Perspektiven“). Jahre, in denen gar keine Streiks gezählt wurden, sind eher die Ausnahme als die Regel. Auch wenn die Zahlen für 2023 hinsichtlich Streikbeteiligung und Streikstunden noch nicht vorliegen, wird es jedenfalls als eines der streikfreudigsten Jahre der letzten Jahrzehnte in die Geschichte eingehen. Die Webseite des ÖGB weist für 2023 35 Protestaktionen aus, die von der Übergabe von Petitionen über öffentliche Betriebsversammlungen bis zu Warnstreiks und unbefristeten Streiks reichen. Um die Dimension des Protestjahres 2023 zu verdeutlichen: Die umfangreiche Mobilisierung der Beschäftigten in der Metallindustrie im Spätherbst für einen Lohnabschluss über der rollierenden Inflation (durchschnittliche Inflationsrate der letzten zwölf Monate, jahresübergreifend) wird in dieser Aufzählung als eine Protestaktion gewertet.
Das Besondere an 2023 war zum einen die Vielfalt an Protesten von ganz unterschiedlichen Berufsgruppen von Lohnabhängigen, zum anderen die erkennbaren Wechselwirkungen in den Protestdynamiken und -formen. So kann als Neuheit gelten, dass nach dem Arbeitskampf der Industriebeschäftigten auch die Beschäftigten im Handel einen Streikbeschluss fällten, und damit – als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins – wirksam ihren Anliegen in der Öffentlichkeit Nachdruck verliehen. Aber auch Anleihen von Arbeiter:innen bei Organizing-Strategien sind erkennbar, als beispielsweise Beschäftigte eines metallverarbeitenden Traditionsbetriebs in Schwertberg/OÖ den Streik mit einer Demonstration durch den Ort verbanden.
Kollektivvertragsverhandlungen unter Druck
Die Metaller:innen standen bei der vergangenen Herbstlohnrunde in spezieller Weise unter Druck: einerseits durch das Verwerfen von etablierten Spielregeln wie der Benya-Formel und mit Erstangeboten der Unternehmerseite weit unter der Inflationsrate, andererseits durch Angriffe auf die Institution der wiederkehrenden jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen selbst. Ausdruck findet Letzteres u. a. in der despektierlichen Etikettierung der Verhandlungen als „Theater“, verbunden mit der Absicht, den Prozess der Aushandlung von Lohnhöhe und vieler weiterer essenzieller Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses auf einen technokratischen Ablauf mit mehrjährigen Festlegungen im Voraus zu entkernen. Es geht dabei um Entpolitisierung im Wortsinn: Der jährlichen Sensibilisierung und Meinungsbildung unter den Beschäftigten soll ein Ende bereitet werden.
Langfristiger Trend zu Arbeitskämpfen in Care- und Bildungsberufen
Mit grundlegenden Fragen zur Streikentwicklung und Streikfähigkeit beschäftigt sich die WISO-Ausgabe 3/23 „Streikerfahrungen“. Während in den traditionell gut organisierten und tendenziell männlich dominierten Branchen die Durchsetzungsfähigkeit der Lohnabhängigen unter Druck gerät, muss sie in den anderen – frauendominierten – Branchen und Sektoren erst errungen werden, wie Susanne Pernicka in ihrem Beitrag beschreibt (vgl. Pernicka). Aus einer langfristigen und international vergleichenden Perspektive lässt sich ein Trend zu Arbeitskämpfen und Protesten in überwiegend von Frauen ausgeübten Berufsfeldern ausmachen. Dieser Trend umfasst auch Bereiche wie Care – etwa die Arbeit im Krankenhaus, in der Pflege oder in elementaren Bildungseinrichtungen –, in denen Streiks ehemals als denkunmöglich galten. Die dort Beschäftigten haben gewissermaßen eine doppelte Streikhemmung zu überwinden. Zum einen aufgrund latent immer noch wirksamer geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Zuschreibungen als Frau, die eine (arbeits-)kämpferische Haltung nicht vorsehen, zum anderen aufgrund des starken emotionalen Bezugs zur Tätigkeit an sich. Aber gerade die gefühlsmäßige Identifikation mit der Tätigkeit (und damit verbunden ein starkes Berufsethos) scheint sich in einigen Fällen von einem streikhemmenden in einen streikdynamisierenden Faktor verwandelt zu haben. Damit wird aber auch klar, dass kollektiv geteilte Emotionen eines bestimmten Berufsfeldes eine eigenständige Ressource von gewerkschaftlicher Gegenmacht sein können. Darüber hinaus wohnt Streiks in Care-Berufen ein die Gesellschaft transformierendes Potenzial inne: Bestehende Machtrelationen sind zeitweise aufgehoben und können kritisch reflektiert werden.
Die Transformation der emotionalen Grundhaltungen der Beschäftigten erfolgt aber nicht subjektlos, sondern ist auch ein Ergebnis von langjährigem Organizing, wie der Gewerkschafter aus Oberösterreich, Martin Windtner, darlegt. Organizing ist zunächst eine Strategie zur Selbstermächtigung von Beschäftigten in Branchen, in denen diese am Beginn auf wenig institutionalisierte Macht (eher niedriger gewerkschaftlicher Organisationsgrad, schwieriges Terrain für Betriebsrät:innen) zurückgreifen können. Wesentlich für dieses Konzept ist die partielle Abkehr vom Prinzip der stellvertretenden Interessenvertretung und die systematische Unterstützung der Beschäftigten in der Artikulation ihrer Interessen und Bedürfnisse. Organizing-Aktivitäten bewegen sich lange Zeit unterhalb der Ebene von Streiks, sind strategisch geplant und suchen Öffentlichkeit herzustellen – im Betrieb und darüber hinaus. Sie schaffen somit die Voraussetzung für eindrucksvolle und effektive Streiks im Ernstfall: Die Streikerfahrungsberichte von Christoph Leitner-Kastenhuber über den Warnstreik in den oberösterreichischen Privatkrankenhäusern und von Selma Schacht über den Streik der Freizeitpädagog:innen geben wertvolle Einblicke in die Dynamiken solcher Arbeitskämpfe.
Moderne Rechtsprechung schützt das Recht auf Streik – vor allem in Europa
Mit der Zunahme an Streiks und Protesten in Österreich gewinnt eine Frage an praktischer Bedeutung, die bislang eher theoretischer Natur war: jene der arbeitsrechtlichen Beurteilung von Streiks. Das Recht zu streiken ist unter anderem durch die EU-Grundrechtecharta und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes geschützt. Ein rechtmäßiger Streik stellt somit keinen Bruch des Arbeitsvertrags dar – es darf weder die Teilnahme an, noch die Organisation desselben arbeitsrechtlich sanktioniert werden, so der Salzburger Arbeits- und Sozialrechtler Rudolf Mosler. Allerdings gebührt für die Zeit des Streiks auch kein Entgelt, weshalb es den Streikfonds des ÖGB gibt. In der Frage, was als rechtlich legitimer Streik gelten kann, gibt es Interpretationsspielraum und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit spielt bei der Beurteilung eine wichtige Rolle.
Während die Frage der Legitimität von Streiks und die Streikfähigkeit in organisierten Sektoren des globalen Nordens daher vor allem Jurist:innen beschäftigt, fehlen am unteren Ende der transnationalen Wertschöpfungs- und Lieferketten, insbesondere in autoritären Staaten des globalen Südens, grundlegende Arbeitnehmer:innenrechte völlig, wie Karin Fischer in ihrem Beitrag konstatiert. Fehlende institutionelle Macht und häufige Repressalien gegen Gewerkschaften können durch transnationale Bündnisse und Solidaritäten zwischen NGOs, lokalen Gemeinschaften, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen nur in Einzelfällen kompensiert werden. Ob die europäische Lieferkettenrichtlinie oder die reformierte Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung das große Machtgefälle zugunsten der überwiegend im globalen Norden, wie etwa in Österreich, angesiedelten Konzerne abmildern wird, ist noch völlig offen. In der genannten Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung werden, soweit ersichtlich, zum ersten Mal in einem Rechtsakt der EU ökologische und soziale Nachhaltigkeit miteinander verknüpft, argumentiert der auf europäisches und österreichisches Arbeits- und Sozialrecht spezialisierte Experte Elias Felten in einem Gespräch mit den Autor:innen.
Politische Streiks: Gesellschaftliche Legitimität ist entscheidend
Die ehemalige Rechtsauffassung, wonach politische Streiks gänzlich unzulässig sind, gilt mittlerweile als überholt und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht Sympathiestreiks grundsätzlich als legitim an, wie Mosler anführt. Der politische Streik hat in der österreichischen Streikgeschichte eine besondere Stellung inne: Der mit großem Abstand größte Streik hinsichtlich entfallener Arbeitsstunden und Anzahl an Streikenden bildete die bereits erwähnte Streikbewegung 2003 gegen die Pensionsreform der ersten schwarz-blauen Regierung. Sie spielt auch heute noch im kollektiven Gedächtnis von Gewerkschafter:innen und Betriebsrät:innen eine wichtige Rolle. Damals gab es Stimmen aus der Industrie, die sich darüber beklagten, gewissermaßen der falsche Adressat zu sein – was nur teilweise stimmte, denn die Pensionsreform und die Regierung wurde von großen Teilen der Industrie unterstützt, während das sozialpartnerschaftliche Politikmuster gänzlich zum Stillstand kam (wie bei Emmerich Tálos aus dem Jahr 2019 nachzulesen ist). Dieser politische Streik ist auch ein Beispiel dafür, dass es in der Praxis wesentlich auf eine hohe gesellschaftliche Legitimität eines Streiks ankommt und damit die Frage möglicher arbeitsrechtlicher Konsequenzen nachrangig wird – in diese Richtung argumentiert auch der Bremer Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler in der WISO-Ausgabe 3/23. Potenzielle Repressionen würden einfach mit einem neuerlichen Streik beantwortet werden.
Fazit: Nicht Streikmüdigkeit, sondern Streikfreudigkeit war 2023 in Österreich spürbar. Dies sollte zuversichtlich stimmen, die Interessen der Beschäftigten weiterhin mit Nachdruck zu vertreten und neue Allianzen zu schmieden. Entscheidend ist dabei die Einbeziehung der Beschäftigten in die Vertretung ihrer Interessen und Anliegen.