Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften geraten aufgrund der steigenden Anzahl an Absolvent:innen immer mehr unter Druck. Stellenausschreibungen à la „Philosoph:in gesucht! [m/w/d]“ sind rar und dadurch nimmt der Wettbewerbsdruck zu. Doch was heißt das für die Studierenden und ihre Chancen am Arbeitsmarkt? Zur arbeitsmarktpolitischen Realität von Studierenden und Absolvent:innen der Geistes- und Sozialwissenschaften sind hohe gesellschaftliche Anforderungen, eine übermäßige Orientierungslosigkeit und das vermehrte Aufkommen des „Imposter-Syndroms“ geworden.
Geistes- und Sozialwissenschaften boomen – doch was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?
In Österreich sind knapp ein Viertel (23 Prozent) der belegten Studien im Wintersemester 2023/24 den Geistes- und Sozialwissenschaften zuzuordnen. Seit rund zwei Jahrzehnten steigt die Zahl der Absolvent:innen in diesen Fachbereichen kontinuierlich an. Während der Weg ins Studium oft unkompliziert ist, gestaltet sich der Übergang in den Arbeitsmarkt zunehmend schwieriger. Praktika, Zusatzqualifikationen und einschlägige Berufserfahrung sind in der heutigen Arbeitswelt unerlässlich. Der Druck, sich von der Konkurrenz abzuheben, wächst – Stichworte: besser, stärker, besonderer. Der Wettbewerb um den überzeugendsten Lebenslauf ist längst fester Bestandteil moderner Bewerbungsprozesse geworden. Hinzu kommt das Fehlen klar definierter Berufsfelder für Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen. Während Absolvent:innen von Lehramts- oder Medizinstudiengängen auf vorgezeichnete Karrierewege zurückgreifen können, stehen viele Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen nach dem Abschluss vor der Herausforderung, auf fachferne oder gar fachfremde Berufswege zurückgreifen zu müssen.
Um die Herausforderungen von Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen auf dem Arbeitsmarkt besser zu verstehen, wurde eine empirische qualitative Studie mit Studierenden und Absolvent:innen in Wien durchgeführt. Die Studie beleuchtet ihre Erwartungen, ihre tatsächlichen Erfahrungen am Arbeitsmarkt und die Unsicherheiten beim Berufseinstieg.
Wettbewerb, Zweifel, Unsicherheit: Warum der Berufseinstieg für viele Absolvent:innen zur Herausforderung wird
Ein zentrales Ergebnis der Forschung ist die starke soziale Prägung der Bildungsentscheidungen. Viele Studierende wählen ihr Fach nicht aus intrinsischer Motivation, sondern aus gesellschaftlichen Erwartungen heraus, studieren zu müssen. Besonders auffällig ist die starke Fokussierung auf den Lebenslauf und das häufige Empfinden von Konkurrenzkämpfen. Die hohe Zahl an Absolvent:innen verstärkt den Wettbewerb, sodass Praktika, Zusatzqualifikationen und Nebenjobs längst zur Norm geworden sind. Die ständige Selbstoptimierung ist nicht nur eine Strategie zur besseren Positionierung auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen. Wer sich nicht ständig weiterbildet oder zusätzliche Erfahrungen sammelt, fühlt sich schnell abgehängt.
Ein weiteres Problem: Der Arbeitsmarkt bewertet Studienrichtungen unterschiedlich. Während wirtschaftsnahe Fächer als besonders karrierefördernd gelten, müssen Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen ihre Wahl häufig rechtfertigen. Diese mangelnde Anerkennung führt nicht selten zu Selbstzweifeln und dem sogenannten „Imposter-Syndrom“ – der Angst, trotz akademischer Qualifikation nicht gut genug für den Arbeitsmarkt zu sein. Daraus resultiert ein weiteres Phänomen: Viele Studierende streben nach dem Bachelor-Abschluss automatisch einen Master an – weniger aus fachlicher Leidenschaft, sondern um die Phase der Unsicherheit hinauszuzögern. Das Studium wird so zur Übergangslösung, um sich noch nicht endgültig mit der schwierigen Arbeitsmarktlage auseinandersetzen zu müssen. Hinzu kommt die Unsicherheit durch befristete Arbeitsverhältnisse. Viele Absolvent:innen lehnen diese Art der Beschäftigung ab, da sie keine finanzielle Stabilität und langfristige Perspektive bietet. Dennoch gilt „Job-Hopping“ – also das häufige Wechseln von Jobs – als Karrierevorteil, um vielfältige Erfahrungen zu sammeln. Allerdings steht diese Praxis nicht nur im Widerspruch zu den finanziellen Möglichkeiten vieler Studierender, sondern auch zur Erwartung vieler Arbeitgeber:innen, die Kontinuität und langfristige Bindung bevorzugen. Diese paradoxe Situation zeigt, wie schwierig es ist, langfristige Sicherheit mit den Anforderungen des modernen Arbeitsmarktes zu vereinen.
Zusammenfassend zeichnet die Untersuchung ein klares Bild: Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen sehen sich mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, der hohe Flexibilität fordert, aber wenig klare Perspektiven bietet. Zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, Selbstdarstellung und realen Herausforderungen bleibt die große Frage: Wie lässt sich ein sinnstiftender, sicherer Karriereweg gestalten?
Hochschulbildung und die Arbeitsmärkte: Die Anerkennung von Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen
Hochschulen sollten ihre Studieninhalte praxisorientierter gestalten, um den Studierenden eine bessere Berufsvorbereitung und -orientierung zu bieten. Gleichzeitig müssen Arbeitgeber:innen die besonderen Qualifikationen sozial- und geisteswissenschaftlicher Absolvent:innen stärker anerkennen und gezielt fördern. Eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen und ökonomischen Herausforderungen dieser Absolvent:innen ist erforderlich, um langfristige Lösungen zu entwickeln. Dies betrifft insbesondere die praktische Bedeutung und Relevanz von „transferable skills“. Diese übertragbaren Fähigkeiten, zu denen unter anderem kritisches Denken, analytische Kompetenz, Kommunikationsstärke, Kreativität sowie interkulturelle und ethische Sensibilität gehören, sind in nahezu allen Branchen gefragt. Absolvent:innen der Geistes- und Sozialwissenschaften zeichnen sich oft durch ihre Fähigkeit aus, komplexe Sachverhalte schnell zu erfassen, diese in größere Zusammenhänge einzuordnen und Lösungen für vielschichtige Probleme zu entwickeln. Insbesondere in einer zunehmend vernetzten und dynamischen Arbeitswelt sind solche Kompetenzen von großem Wert. Unternehmen, die die Potenziale dieser Fähigkeiten erkennen und gezielt fördern, profitieren von Mitarbeitenden, die flexibel einsetzbar sind, innovative Perspektiven einbringen und sich schnell auf neue Anforderungen einstellen können.
An diese Debatte schließen auch Fragen der Anerkennung und Bewertung von Abschlüssen, Zertifikaten und Studienrichtungen an. Hochschulpolitisch und gesellschaftlich wird zunehmend gefordert, die Bewertung stärker daran auszurichten, welchen Nutzen sie für das Gemeinwohl bringen, und sie nicht nur am Beitrag zur Profitmaximierung zu messen. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist der Sozial- und Gesundheitsbereich, der im Zuge des demografischen Wandels immer bedeutender wird. Doch auch im Bereich der MINT-Fächer sollte ein stärkerer Fokus auf humanistische Aspekte gelegt werden, beispielsweise durch Konzepte wie den digitalen Humanismus. Insgesamt gilt es, interdisziplinäre Ansätze zu stärken, um den komplexen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.
Auf Seiten der Arbeitgeber:innen bedeutet dies, dass eine ernsthafte Lern- und Fehlerkultur etabliert werden muss. Es sollte nicht vermittelt werden, dass Arbeitnehmer:innen von Anfang an alles können müssen. Vielmehr sollten Unternehmen den Raum bieten, Fähigkeiten und Kompetenzen kontinuierlich zu entwickeln. Hierbei wird vorgeschlagen, weniger Wert auf formale Studienabschlüsse und Studienkennzahlen zu legen und stattdessen die tatsächlichen Fähigkeiten und Kompetenzen der Menschen in den Vordergrund zu stellen.
Auch die Hochschulen sind gefordert, sich dieser Entwicklung anzupassen. Während die Praxisorientierung vieler Studienrichtungen zunehmend betont wird, sollte diese um interdisziplinäre Ansätze ergänzt werden. Die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen kann nicht nur zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen, sondern auch die Innovationskraft stärken.