Die Europäische Kommission ist auf EU-Ebene für Gesetzesinitiativen und die Durchsetzung bestehenden EU-Rechts zuständig. Die Formulierung von Gesetzesvorschlägen zu Finanzmarktregulierung und wirtschaftspolitischen Maßnahmen fällt ebenso in ihren politischen Verantwortungsbereich wie das Ausverhandeln und Zuweisen von Finanzhilfen. Die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 kam für die Kommission überraschend, da sie weitgehend auf die Fähigkeit zur Selbstregulierung der Finanzmärkte vertraut hatte. Ein laxer Regulierungsrahmen werde ausreichen, um Marktturbulenzen mit realwirtschaftlichen Konsequenzen zu unterbinden: Dieses Vertrauen der Kommission auf die Heilsamkeit der Marktkräfte gründet ebenso auf Annahmen aus der neoklassischen ökonomischen Theorie wie wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen in den Krisenjahren.
Die Hypothese effizienter Finanzmärkte
Laut der Hypothese effizienter Finanzmärkte agieren die Marktakteure rational; Herdenverhalten und die Möglichkeit von individuell profitablem, gesellschaftlich jedoch schädlichem Spekulationsverhalten spielen keine Rolle. Dieser theoretische Rahmen hatte vor dem Ausbruch der Finanzkrise wesentlichen Einfluss auf den Glauben der Kommission an die Stabilität und wohlfahrtssteigernde Wirkung schwach regulierter Finanzmärkte. Als im Jahr 2009 als Folge der Finanzkrise die reale Wirtschaftsleistung in der Eurozone um -4,4% einbrach, stellte dies den Glauben an die effiziente Funktionsweise der Finanzmärkte zwar in Frage. Doch auch wenn seitdem kleine Fortschritte in der Finanzmarktregulierung erzielt werden konnten, so sind die bisherigen Bemühungen der Kommission unzureichend. So gab es insbesondere keine durchschlagende Initiative zur Verkleinerung des Finanz- und Bankensystems, was jedoch eine grundlegende Voraussetzung für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung in der EU darstellt: Wenn es große Finanzinstitute schaffen, durch erfolgreiches Lobbying die Kommission daran zu hindern, durch Gesetzesinitiativen eine schärfere Finanzmarktregulierung auf den Weg zu bringen, dann werden zukünftige Verwerfungen an den Finanzmärkten weitere staatliche Rettungsaktionen für sogenannte systemrelevante Finanzinstitute notwendig machen, was negative Effekte auf die Staatsverschuldung hätte.
Die Hypothese expansiver Effekte von Budgetkonsolidierung
Nach dem Ausbruch der Krise spielte die Kommission zunächst das zu erwartende Ausmaß der Rezession herunter. Nachdem die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2009 diese Abwiegelungstaktik ad absurdum geführt hatte, verlegte sie sich auf Vorhersagen, wonach auf den wirtschaftlichen Abschwung eine rasche Erholung der Konjunktur folgen werde. Diese Erwartung beruht auf neoklassischen Modellen, in denen die Wirtschaft nach einem negativen Schock wie dem Ausbruch der Finanzkrise rasch wieder ihr Wachstumspotential erreichen kann. Im Jahr 2010 herrschte in der Kommission der Glaube vor, dass ein strenger Sparkurs in der ganzen EU zum einen die zügige Konsolidierung der Staatshaushalte auf den Weg bringen und zum anderen ohne massive Wohlstandsverluste möglich sein würde, da zur Stabilisierung der Konjunktur keine weiteren beschäftigungsfördernden Maßnahmen nötig seien. Zur Rechtfertigung der Sparpolitik diente im Rahmen der Prognosen der Kommission die Hypothese expansiver Effekte von Budgetkonsolidierung: Die BürgerInnen erkennen, dass eine Reduktion der Staatsausgaben eine geringere zukünftige Steuerlast mit sich bringt. Daraufhin hellen sich die wirtschaftlichen Zukunftserwartungen auf; dies führt zu einer Ankurbelung von Konsum und Investitionen, was sich positiv auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung auswirkt. Die vergangenen Jahre machten jedoch auf schmerzhafte Weise klar, dass diese Hypothese völlig verfehlt ist: In Krisenzeiten haben Budgetkonsolidierungen besonders starke negative Wachstums- und Beschäftigungseffekte.
Die negativen Effekte der Sparpolitik
Sparpolitik ging in den letzten Jahren mit einbrechendem Wirtschaftswachstum und ansteigender Arbeitslosigkeit einher: Jene Eurozonenländer, welche die schärfsten Sparmaßnahmen durchsetzten, erlitten auch die größten Wachstumseinbußen. Die Budgetkonsolidierung beschleunigte außerdem den Beschäftigungsrückgang: In der Eurozone liegt die Arbeitslosenquote bei einem Rekordwert von 12,1% der Erwerbspersonen; in den GIPSI-Ländern, die sich aus Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland zusammensetzen, beträgt sie durchschnittlich 19,3%. Die Verschuldungssituation verschlechterte sich in den Krisenländern trotz umfangreicher Konsolidierungsmaßnahmen: In den GIPSI-Ländern lag die Staatsschuldenquote 2009 bei durchschnittlich 89,6% des BIP; nach mehreren Jahren der Durchsetzung von Sparmaßnahmen betrug sie 2012 bereits 122,3%. Der Versuch der Kommission, in Krisenzeiten durch möglichst umfangreiche Konsolidierung die Staatsschuldenquoten in den Mitgliedsländern unter Kontrolle zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt, weil die negativen Effekte der Sparpolitik auf das Wachstum vor dem Hintergrund der falschen theoretischen Annahme expansiver Konsolidierungseffekte massiv unterschätzt werden.
Lohnsenkungen zur Beschäftigungsschaffung?
Die Kommission forciert nicht nur Konsolidierungsmaßnahmen, sondern auch eine Politik der Lohnsenkungen: Sinkende Lohnkosten sollen die Produktionskosten der Unternehmen drücken und zu positiven Wachstumseffekten führen. Diese wirtschaftspolitische Vorstellung lässt sich auf die neoklassische Produktionstheorie zurückführen, welche die Löhne hauptsächlich als Kostenfaktor für Unternehmen betrachtet: Steigende Löhne erhöhen den Preis von Gütern und senken die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit. Tatsächlich sind Löhne jedoch auch die Einkommen der ArbeitnehmerInnen: Lohnkürzungen wirken sich über volkswirtschaftliche Kreislaufeffekte negativ auf Nachfrage, Produktion und Beschäftigung aus. Dies wird in den Wirtschaftsprognosen der Kommission vernachlässigt.
„Innere“ Abwertung zur Beseitigung von Leistungsbilanzungleichgewichten
Das Beharren auf der Notwendigkeit von Lohnkürzungen hat einen makroökonomischen Hintergrund: Die Kommission erwartet sich eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in den GIPSI-Ländern: Die Anpassungsprogramme sehen Maßnahmen wie die Reduktion von Löhnen im öffentlichen Sektor sowie die Kürzung von Sozialausgaben vor, um Abwärtsdruck auf Löhne und Preise zu erzeugen. Dadurch sollen eine „innere“ Abwertung in den Krisenländern erreicht, das Exportwachstum gefördert und die hohen Leistungsbilanzungleichgewichte aus den Vorkrisenjahren abgebaut werden. Durchschnittlich veränderten sich die Leistungsbilanzsalden der GIPSI-Länder von -9% des BIP im Jahr 2008 so weit, dass sie im Jahr 2012 mit -0,3% fast ausgeglichen waren. Dies ist jedoch – anders als von der Kommission erwartet – in erster Linie nicht ein Ausdruck höherer Exporte, sondern eine Folge der schweren Rezession: Lohnkürzungen wirken sich negativ auf den Konsum und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus; dadurch gingen in den letzten Jahren die Importe in den betroffenen Ländern zurück: Beispielsweise fielen in Portugal die Importe als Folge der anhaltenden Rezession im Jahr 2012 um -5%. Die Kommission ignoriert diese verheerende nachfrageseitige Dynamik jedoch aufgrund von verfehlten Annahmen über die Effekte von Lohnkürzungen und Sparmaßnahmen in Krisenzeiten: Ökonomische Theorien haben Einfluss auf die wirtschaftspolitische Praxis – und damit auf den Entwicklungspfad von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung.
Dieser Beitrag erschien zunächst in Heft 12/2013 der Arbeit&Wirtschaft.