Geht es um die Zukunft öffentlicher Dienstleistungen, sind in Europa derzeit zwei widerstreitende Entwicklungen anzutreffen. Wird das neoliberale Korsett noch enger geschnürt, oder kommt es zum Kurswechsel? Der neu erschienene Sammelband „Reclaim Public Services“ knüpft unmittelbar an diese Auseinandersetzungen an.
BefürworterInnen eines neuerlichen Privatisierungsschubs stützen sich insbesondere auf die „Politik der leeren Kassen“ und die rigiden Sparauflagen, die vielfach in verschärfter Form auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. gefolgt sind. Aus dieser Perspektive stellt die Krise gleichsam einen Hebel dar, den Wunsch nach erweiterten Anlage- und Geschäftsfeldern in der Daseinsvorsorge zu verwirklichen. Zugleich lässt sich nicht ausblenden, dass die in den 1980er-Jahren losgetretene Euphorie zur Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen vielerorts verebbt ist. Den markantesten Gegenakzent bilden hier die Konsequenzen, die bisweilen vor allem auf kommunaler Ebene aus negativen Erfahrungen mit z.B. Versorgungssicherheit, Dienstleistungsfinanzierung und -qualität gezogen worden sind: Die vermehrte Rückführung von Leistungen der Daseinsvorsorge in Bereichen wie etwa Wasserver- und Abwasserentsorgung, Energie oder Verkehr in die öffentliche Hand lässt von einer wichtigen „Gegenbewegung“ bis zur „Renaissance der Kommune“ sprechen. Es ist unmittelbar offen, für welche dieser widerstreitenden Entwicklungen die Krise 2008ff. längerfristig gesehen ein Momentum darstellt: Kann durch die Abwälzung der Krisenkosten auf die öffentlichen Haushalte gerade auch die Vision eines minimalisierten öffentlichen Dienstleistungssektors neuerlich auf den Weg gebracht werden? Oder kommt die Wahrnehmung einer umfassenderen Krise der Liberalisierungs- und Privatisierungsideologie der letzten Jahrzehnte zum Durchbruch? Dann wären die – keineswegs nur in Europa beobachtbaren– Rückführungen ehemals privatisierter Dienstleistungen in die öffentliche Hand Einstiegsprojekte in eine grundlegendere Kehrtwende, die Motive der demokratischen, sozialen und ökologischen Tragfähigkeit in den Mittelpunkt eines neu entstehenden Entwicklungsmodells stellt.
Erweiterte Konfliktfelder
Diese Widersprüche führen zu Auseinandersetzungen, die weit über den konventionellen nationalstaatlichen Rahmen hinausweisen. Während Entscheidungen zur Erbringung, Organisation und Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen bis in die 1990er-Jahre kaum mit dem Entwicklungsweg der Europäischen Union kollidierten, stellt sich ihre Binnenmarkt, Fiskal- und Globalisierungspolitik zunehmend auch für die Daseinsvorsorge als „neoliberale Handlungsarena und Kampffeld für progressive Politik“ dar (Bieling 2003, Deckwirth 2008, Raza 2009). Dafür finden sich die aktuellsten Bezüge beispielsweise in den zuletzt gescheiterten Versuchen, die Wasserversorgung im Zuge der so genannten EU-Konzessionsrichtlinie unter verstärkten Druck zur Marktöffnung zu setzen oder dem rezenten Vorhaben, auch Leistungen der Daseinsvorsorge im Rahmen des EU-USA Freihandels- und Investitionsschutzabkommens „TTIP“ und im parallel verhandelten Folgeprojekt zum WTO-Dienstleistungsabkommen GATS, dem so genannten Trade in Services Agreement „TiSA“, zur Verhandlungsmasse offensiver kommerzieller Interessen zu machen. Zwar ist dieser spezifische Fokus der EU-Politik auf öffentliche Dienstleistungen alles andere neu. Dieser wettbewerbsorientierte Bias war schon vor der Krise vorherrschend und findet sich in seinen Grundsätzen bereits in den Anfängen des EU-Primärrechts.
Doch während positive Beispiele für ein Umdenken auf EU-Ebene bislang spärlich sind, zeigt sich insbesondere seit den 1990er-Jahren ein erweiterter Zugriff des EU-Binnenmarkt- und Wettbewerbsrechts auf die Handlungsspielräume zur Erbringung, Organisation und Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dadurch zeigt sich eine wiederkehrende Dynamik zwischen fortschreitenden Liberalisierungsprojekten, ihrer teilweisen Abschwächung nach Protest und ihrer neuerlichen Aufnahme. Hier reihen sich auch neuere Reorganisationsprojekte wie z.B. die EU-Konzessionsrichtlinie in ein historisch durchwachsenes Konfliktfeld ein, das durch den Widerstreit zwischen der ordnungspolitischen Orientierung auf Wohlfahrtsstaatlichkeit, auf (Binnen)Markt und Wettbewerb sowie den Handlungskompetenzen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten dimensioniert ist. Diese Konflikte setzen sich auf erweiterter Stufenleiter in der Handels- und Investitionsschutzpolitik der Europäischen Union fort.
Marktkonforme Demokratie und Daseinsvorsorge?
Der Aufbau eines globalisierten Dienstleistungsmarktes kraft internationaler Freihandelsabkommen führt dabei auf besonders markante Weise vor Augen, wie ungleichgewichtet öffentliche Interessen gegenüber den expansiven Interessen transnationaler Dienstleistungskonzerne verhandelt werden. Damit sind nicht nur die wiederholten Kritiken an der Intransparenz und dem privilegierten Zugang unternehmenszentrierter Lobbynetzwerke in der Ausgestaltung der EU-Handels- und Investitionsschutzpolitik angesprochen. Letztlich spiegeln Projekte wie das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS (1995ff.) und jüngste Neuauflagen wie „TiSA“ (2012ff.) und „TTIP“ (2013ff.) die wiederholten Versuche, das Leitbild minimalisierter Wohlfahrtsstaatlichkeit gerade auch auf dem Weg völkerrechtlich bindender Verträge gegenüber EU-Drittstaaten zu forcieren. Sind langfristige Liberalisierungsverpflichtungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge gegenüber EU-Drittstaaten einmal verankert, gelten diese gegenüber demokratischen Zugriffen als weitgehend immunisiert. Dieser Politikansatz des „neuen Konstitutionalismus“ erweist sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund von aktuellen Entwicklungen zur Rückführung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand als folgenreich: Denn ein politischer Kurswechsel kann damit so teuer wie möglich gemacht werden, politisch-demokratische Handlungsspielräume treten im Sinne einer marktkonformen Demokratie gegenüber der Verpflichtung zu „einmal privat – immer privat“ in den Hintergrund.
Die Auseinandersetzung über die künftige Entwicklungsrichtung öffentlicher Dienstleistungen gestaltet sich damit nicht nur äußerst vielschichtig, sondern lässt sich zudem als ein zentraler Umschlagspunkt für die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen eines fortschrittlichen europäischen Sozialmodells verstehen. Denn letzterem fehlt ohne neu gewonnene Handlungsspielräume für den transeuropäischen Ausbau öffentlicher Dienste die Basis (Huffschmid/Mazier 2009).
Alternativen stärken
Vor diesem Hintergrund braucht es insbesondere auch eine Bestandsaufnahme zu aktuellen Entwicklungen in der Binnenmarkt- und Freihandelspolitik der Europäischen Union. Welche Projekte und Strategien werden hier gegenwärtig verfolgt? Wo bestehen Kontinuitäten und Brüche in der europäischen Liberalisierungspolitik? Welche Unterschiede zeigen sich allenfalls aus einem globaleren Blickwinkel?U nd: Welche Perspektiven und Gegenbewegungen lassen sich für die Zukunft öffentlicher Dienstleistungen und den Ausbau von Sozialstaatlichkeit ausmachen? Diese und andere Fragen werden im Rahmen des neu erschienenen Sammelbandes „Reclaim Public Services: Bilanz und Alternativen zur neoliberalen Privatisierungspolitik“ entlang von drei Abschnitten diskutiert: „Privatisierung in der Kritik“ (Jörg Flecker, David Hall, Werner Raza), „aktuelle Arenen der Auseinandersetzung“ (Heide Rühle, Joseph Zacune/Sol Trumbo Vila, Markus Krajewski) sowie „Alternativen für die Zukunft öffentlicher Dienstleistungen“ (Roland Atzmüller, Judith Schacherreiter, Martin Pigeon, Claudia Falk/Thorsten Schulten, Christoph Hermann).Der vollständige Überblick der Beiträge findet sich hier.