Live-­in-­Betreu­ung – Zeit für Best Prac­tice-Model­le?

23. September 2024

In Österreich und Europa ist die Live-in-Betreuung – alltagssprachlich: 24-Stunden-Betreuung – etabliert und umstritten. Agenturen bieten häusliche Dienste für Senior:innen an, indem sie Migrant:innen, oft Frauen aus Zentral- und Osteuropa, in Haushalte vermitteln. Dort arbeiten, wohnen, leben sie für Wochen oder Monate, bevor sie für einige Zeit in ihr Herkunftsland zurückpendeln. Der Beitrag diskutiert diese Betreuungsform und fragt, ob es nicht an der Zeit für Best Practice-Modelle ist.  

Agenturvermittelte Live-in-Betreuung in Europa: breit gefächert mit gemeinsamem Kern  

In den alternden Gesellschaften Europas und insbesondere in Ländern, in denen Betreuungsleistungen in erster Linie über den Markt oder durch die Familie bereitgestellt werden sollen, füllt die agenturvermittelte Live-in-Betreuung eine Lücke. Sie bietet dort häusliche Dienste gegen Bezahlung an, wo familiäre oder öffentliche Leistungen nicht hinreichend verfügbar oder gewollt sind. Wie Agenturen organisiert sind und arbeiten (von Ein-Personen-Unternehmen bis zu transnationalen Konzernbetrieben, privat- oder gemeinwirtschaftlich, staatlich registriert oder informell), welche Dienste sie anbieten, wie sie welche Arbeitskräfte vermitteln, wie das Live-in-Arrangement ausgestaltet ist und was daran umstritten ist, das unterscheidet sich von Land zu Land. Neben übergreifenden europäischen Regulierungen und Politiken (etwa mit Blick auf die Dienstleistungs- oder Arbeiternehmer:innenfreizügigkeit) unterliegt die Live-in-Betreuung den wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Einflussfaktoren in den Herkunfts- und Ankunftsländern. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Agenturleistungen (für die Haushalte wie für die Arbeitskräfte), der Arbeitsverhältnisse (z. B. Selbständigen-, Angestellten-, Entsendemodelle) oder der Organisation, der Interessenvertretung, der Agenturen und der Betreuer:innen.  

Gleichwohl zeigen sich auch ähnliche Tendenzen. So hat sich in Deutschland, Irland, Österreich, Polen, Spanien, der Schweiz und Ungarn die Agenturvermittlung zusehends ausdifferenziert. In Italien und den Niederlanden hingegen führen Agenturen ein Nischendasein. Gemeinsamkeiten schließlich finden sich mit Blick auf das Kernstück des Geschäfts- und Betreuungsmodells: Nämlich, dass die Betreuer:innen selbst im Haushalt der Betreuten leben. Das ermöglicht es Migrant:innen einerseits durch Kost und Logis in Ländern zu arbeiten, in denen der Lebensunterhalt aufgrund der niedrigen Einkommen in der Live-in Betreuung ansonsten nicht zu stemmen wäre. Andererseits sorgt das Modell für eine hohe Verfügbarkeit der Arbeitskräfte am unterregulierten Arbeitsplatz Haushalt, der sie sich nur schwer entziehen können. Senior:innen verspricht es auf diese Weise eine bedarfs- und bedürfnisorientierte 1:1-Betreuung in ihrer gewohnten Umgebung, wobei  Beispiele aus Belgien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Spanien zeigen, dass und wie die Anpassung der Arbeitskräfte an die bestehende Haushaltsordnung seitens der Agenturen, Betreuten und Angehörigen erwartet und befördert wird.  

Agenturvermittelte Live-in-Betreuung in Österreich: etabliert und kritisiert  

Wie auch in anderen Ländern Europas hatte sich in Österreich die Live-in-Betreuung mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der massenhaften Freisetzung von Arbeitskräften in Zentral- und Osteuropa zunächst als informelles Arrangement entwickelt. Migrant:innen suchten und fanden Arbeit in österreichischen Haushalten, die sie durch Pendelmigration mit ihren Arbeits- und Betreuungsbelangen in ihrem Herkunftsland vereinbaren konnten. Mit der Legalisierung und Anerkennung der Personenbetreuung im Hausbetreuungsgesetz 2007 hat Österreich den Weg für die Formalisierung der Live-in-Betreuung freigemacht, ihr damit trotz Kritik an den Arbeitsbedingungen zugleich Legitimität verschafft und zur Bildung eines rasant gewachsenen Marktes für Vermittlungsagenturen beigetragen. Während Österreich somit einen Teil des Versorgungsbedarfs über die Rekrutierung vergleichsweise billiger Arbeitskräfte abdecken kann, entstehen in den Herkunftsländern und den Familien der Migrant:innen Versorgungslücken.

Geschaffen wurde zum einen das vorherrschende Selbstständigenmodell, in dem Agenturen Betreuer:innen vermitteln, die Personenbetreuung als Gewerbe betreiben, womit beide Parteien durch die Wirtschaftskammer vertreten werden. Zum anderen wurde ein Angestelltenmodell geschaffen, das in den Zuständigkeitsbereich der Arbeiterkammer fällt und unselbstständige Beschäftigung im Haushalt oder bei einem Wohlfahrtsträger vorsieht (siehe Abb. 1). Die Live-in-Betreuung wurde in den österreichischen Sozialstaat als Säule im Pflegesystem integriert, indem sie indirekt durch die freie Verfügbarkeit des Pflegegeldes subventioniert wird und direkt staatlich bezuschusst werden kann. Die 2015 erfolgte gesetzliche Unterscheidung von Vermittlung und Betreuung hat zudem Möglichkeiten eröffnet, die Dienstleistungsqualität der Agenturen zu beeinflussen (z. B. Selbstverpflichtung auf Standes- und Ausübungsregeln, das staatliche Gütesiegel ÖQZ 24 – Österreichisches Qualitätszertifikat für Vermittlungsagenturen in der 24-Stunden-Betreuung). 

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Das Angebot der Vermittlungsagenturen ist in den Ländern Europas unterschiedlich breit und nach Tätigkeiten, Leistungen und Preisen gestaffelt. So gehören in Österreich für die Betreuten und ihre Angehörigen, die seitens der Agenturen in erster Linie als ihre Klient:innen erachtet werden, die Vermittlung von Haushaltsarbeit, Gesellschafter:innenfunktionen (z. B. vorlesen, spielen, sich unterhalten), Assistenz in der alltäglichen Lebensführung, Betreuung und – unter bestimmten Voraussetzungen – auch leichte medizinische Versorgung durch entsprechende Arbeitskräfte dazu, während es für die Betreuer:innen vor allem Vermittlung, Administration und Organisation weiterer Dienste sind (siehe Abb. 2).

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Die Agenturvermittlung selbst beeinflusst – auch im Selbstständigenmodell – direkt und indirekt die Arbeit der Betreuer:innen. In diesem Kontext sind auch gewerkschaftliches Engagement und Interessenauseinandersetzungen und organisationen zu sehen. In Österreich ist die IG24 – Interessengemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer:innen hervorzuheben, die für ihre Aktivitäten zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen den SozialMarie-Preis für soziale Innovation erhalten hat.  

Das umstrittene österreichische Selbstständigenmodell und Bewegungen im Feld 

Agenturen in Österreich sind nicht nur Vermittlerinnen von Betreuungsleistungen, sondern agieren auch als Lobbyistinnen der Live-in-Betreuung. Durch die Forderung nach höherer staatlicher Subventionierung, wie sie beispielsweise auch Interessenorganisationen von Senior:innen oder Angehörigen stellen, versuchen sie, diese zu fördern. In Deutschland, wo Live-in-Betreuung vor allem über Entsendearbeit erfolgt, und in der Schweiz, wo Selbstständigkeit verboten ist und ein Angestelltenmodell praktiziert wird, dient das österreichische Modell Agenturvertreter:innen als Vorbild. Es steht aufgrund der Kombination von gesetzlicher Regulierung, sozialstaatlicher Einbettung und Selbstständigkeit für legale und leistbare Betreuung, weshalb Agenturen von der Politik die Übernahme des österreichischen Modells fordern.  

Bei Kritiker:innen, wie z. B. der IG24, steht  das Selbstständigenmodell hingegen unter dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit, was die Abhängigkeit der Betreuer:innen von den Haushalten und Agenturen angeht. Sie fordern ein Angestelltenverhältnis z. B. nach schweizerischem Muster. Dieses unterstellt die Live-in-Betreuung der Arbeits(zeit- und -schutzgesetz)gebung, reguliert damit Arbeits-, Verfügbarkeits- und Freizeiten und macht Rechte einklagbar, wo ausbeuterischen Praktiken im Haushalt oder durch Agenturen sonst auf dem Rechtsweg nicht begegnet werden kann.  

Einige der in ihrer Selbstbeschreibung ‚guten‘ Agenturen in Österreich kritisieren durchaus bestehende ausbeuterischer Praktiken, weil sie dem Image der Branche insgesamt schaden. Die Agenturen sehen aber die individuelle Verantwortung dafür im entsprechenden Verhalten aller Beteiligten (Betreute, Angehörige, Betreuer:innen, Agenturen), weniger das Selbstständigenmodell als grundsätzlich veränderungsbedürftig. 

Befürworter:innen eines Angestelltenmodells geht es hingegen um kollektiven Schutz, sei es mit Blick auf die Arbeitszeit, sei es mit Blick auf das Entgelt, wobei auch Alternativen zur Agenturvermittlung, z. B. Genossenschaftsmodelle, in der Diskussion sind. Neben dem grundlegenden Dissens ‚Selbstständigkeit versus Anstellung‘ finden sich weitere Initiativen wie beispielsweise eine gewerkschaftliche Plattform, über die Betreuer:innen engagiert werden können, oder Modelle wie der Vorarlberger Betreuungspool. Diskussionen um die Neuorganisation häuslicher Betreuung in Deutschland schließen die Umstellung der Live-in- auf Live-out-Betreuung ein, was das Modell im Kern berührt und eine radikale Veränderung bedeutete.  

Zeit für Best Practice-Modelle in der Live-in-Betreuung und darüber hinaus? 

Die agenturvermittelte Live-in-Betreuung ist in Europa zum etablierten und umstrittenen Geschäfts- und Betreuungsmodell geworden. Es liegen zahlreiche Erfahrungen mit ihr vor und auch zahlreiche Kritiken daran. In Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern konnte und kann sie sich als Wirtschaftsbereich und sozialstaatliche Säule etablieren, weil sie an das kulturell verankerte Ideal häuslicher Betreuung anschließt und weil die bislang damit verbundene familiäre Betreuung nicht mehr ohne Weiteres verfügbar ist. Dieses Ideal hat einen emanzipatorischen Kern, insofern es Menschen die Selbstbestimmung zubilligt, an dem Platz alt zu werden und zu sterben, an dem sie ihr aktives Leben verbracht haben. Es verliert diesen Kern, wenn dies zu Lasten und auf Kosten der Arbeits- und Lebensverhältnisse Angehöriger oder migrantischer Arbeitskräfte geht.  

Zugleich ist das Feld häuslicher oder haushaltsnaher Betreuung insgesamt in Bewegung geraten. Unter Begriffen wie intergeneratives Wohnen, Sorgegemeinschaften etc. werden in vielen europäischen Ländern derzeit neue, teils staatlich geförderte Wohn-, Lebens-, Arbeits- und Betreuungsformen erprobt. In welchem Verhältnis sie zur Live-in-Betreuung stehen – ob sie konkurrieren, sie ablösen oder ob sie und, falls ja, in welcher Weise damit kombinierbar sein werden und wie dies die Live-in-Betreuung selbst ändert – ist eine offene Frage.  

In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Suche nach Betreuungsmodellen längst läuft, spricht dies für die Entwicklung von Best Practice-Modellen, die auf bisherigen Erfahrungen, Kritiken der beschrittenen Wege und gegenwärtigen Experimenten aufsetzen und darüber hinaus Wege erschließen können, in denen ‚gute‘ Betreuung und Arbeit in neuer Weise verbunden werden. Ähnlich wie der Sozialstaat bislang das Live-in-Geschäfts- und Betreuungsmodell fördert, wäre er mit in die Pflicht zu nehmen, um die Entwicklung von Best Practice-Modellen zu unterstützen. 

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