Ein Viertel der österr. StudienanfängerInnen beginnen ihr Studium mehr als zwei Jahre nach der Matura oder mit einer Berufsreifeprüfung über den 2. Bildungsweg. Diese Studierenden mit verzögertem Übertritt sind die heimliche Stärke des österr. Hochschulsystems, sie werden aber während des Studiums mit spezifischen Problemen konfrontiert.
Bei Studienbeginn fast 30, mehr Männer, eher aus bildungsfernen Schichten
Laut der aktuellen Studierendensozialerhebung beginnen pro Jahr ca. 11.400 StudienanfängerInnen ihr Studium verzögert, insgesamt gibt es rund 51.000 Studierende (ohne DoktorandInnen) dieser Gruppe. Sie sind bei Studienbeginn im Schnitt 28 Jahre alt und Frauen sind in dieser Gruppe noch knapp in der Minderheit (47%), während sie bereits 61% der AnfängerInnen mit direktem Übertritt stellen. Fast ein Drittel der Studierenden mit verzögertem Übertritt kommt mit einer Berufsreife- oder Studienberechtigungsprüfung an die Hochschule (im ganzen Hochschulsystem sind dies 9% der inländischen AnfängerInnen) und fast alle mit verzögertem Übertritt waren vor dem Studium mehr als 20h/Woche erwerbstätig. Im Vergleich zu AnfängerInnen, die direkt nach der Schule zu studieren beginnen, kommen sie fast doppelt so häufig aus bildungsfernen Schichten (Eltern ohne Matura).
Im europäischen Vergleich ist der Anteil mit verzögertem Übertritt in Österreich besonders hoch und wird nur in skandinavischen Ländern bzw. Staaten mit einem expliziten Angebot für Teilzeitstudierende übertroffen. Diese große Gruppe trägt daher dazu bei, dass das Österreichische Hochschulsystem im europäischen Vergleich eher zu den sozial ausgewogeneren Systemen gehört – obwohl Kinder aus bildungsnahen Familien auch hierzulande noch immer deutlich überrepräsentiert sind.
Hohe Studienmotivation bei berufsspezifischer Studienwahl
In ihren Studienmotiven unterscheiden sich Studierende mit verzögertem Übertritt insofern von ihren jüngeren KollegInnen, als sie verstärkt arbeitsmarktbezogene Motive nennen. 60% wollen sich in ihrem Beruf weiterbilden, 40% studieren, um sich beruflich neu zu orientieren. In den anderen abgefragten Motiven (z.B. fachliches Interesse, Prestige nach Abschluss) unterscheiden sie sich nicht. Die Hürde, überhaupt ein Studium aufzunehmen, ist bei Studierenden mit verzögertem Übertritt höher – haben sie diese Entscheidung allerdings getroffen, sind sie deutlich sicherer in ihrer Studienwahl. Rund die Hälfte wählt ein Universitätsstudium, 16% beginnen ein Vollzeit-FH-Studium, 20% ein berufsbegleitendes FH-Studium und 12% ein Studium an einer PH (häufig Berufsschul- oder Religionspädagogik). Damit wählen sie wesentlich häufiger ein außeruniversitäres, in der Regel berufsbezogenes Studium, als Studierende, die direkt nach der Matura zu studieren beginnen (von diesen gehen 78% auf eine Universität). Studierende mit verzögertem Übertritt sind in allen Fachgruppen zu finden, an Universitäten wählen sie jedoch häufiger künstlerische oder geisteswissenschaftliche Studien, seltener dagegen Technik oder Medizin. Konträr dazu wählen sie an FHs besonders häufig technische Studien, dafür seltener gesundheitswissenschaftliche Fächer. Diese wiederum werden von Studierenden mit verzögertem Übertritt an Privatuniversitäten besonders häufig gewählt.
Hohe Abbruchsquoten wegen hoher Erwerbstätigkeit
Abgesehen von ihrer soziodemografischen Zusammensetzung und der großen Anzahl der Studierenden, die ganz im Sinne des Lifelong Learnings ein Studium zur Weiter- oder Umbildung betreiben, ist hochschulpolitisch auch von Interesse, dass in dieser Gruppe leider die Abbruchsquoten besonders hoch sind, und zwar insbesondere an Universitäten im ersten Studienjahr. Dies liegt vor allem an ihrem hohen Erwerbsausmaß. Im ersten Studienjahr an (öffentlichen) Universitäten sind 62% der Studierenden mit verzögertem Übertritt erwerbstätig und zwar im Schnitt 23 Wochenstunden (zum Vergleich: im ersten Jahr sind 51% der Studierenden mit direktem Übertritt im Schnitt 16 Wochenstunden erwerbstätig). Bereits ab einem Erwerbsausmaß von 6 Stunden wird der Aufwand für das Studium etwas, bei mehr als 10 Stunden Erwerbstätigkeit dann deutlich reduziert. Ab dem zweiten Studienjahr sind schon fast 70% mit verzögertem Übertritt erwerbstätig. Wenig verwunderlich, dass rund 60% der erwerbstätigen Studierenden mit verzögertem Übertritt angeben, dass sie Schwierigkeiten haben, Studium und Beruf zu vereinbaren. Trotz des hohen Erwerbsausmaßes wenden sie ähnlich viel Zeit für ihr Studium auf, wie ihre jüngeren KollegInnen, die direkt nach der Matura zu studieren begonnen haben.
Das SelbsterhalterInnen-Stipendium spielt eine Schlüsselrolle
Es ist eine Stärke des Österreichischen Hochschulsystems und insbesondere der Universitäten, dass es so vielen (weiter)bildungswilligen Menschen, die bereits mitten im Beruf stehen oder sich beruflich neu orientieren wollen, die Möglichkeit zu studieren bietet. In Frankreich zum Beispiel zählen nur 2% der Studierenden zur Gruppe mit verzögertem Übertritt. Dieser Erfolg liegt in Österreich auch am SelbsterhalterInnen-Stipendium. Bei Studierenden, die sich eine zeitlang (derzeit 4 Jahre) selbst erhalten haben, wird das elterliche Einkommen bei der Berechnung der Studienbeihilfe nicht mehr berücksichtigt, sie können als Sonderform der Studienbeihilfe ein SelbsterhalterInnen-Stipendium beziehen. Fast 40% der AnfängerInnen mit verzögertem Übertritt erhalten ein SelbsterhalterInnen-Stipendium – eine enorm hohe Quote im Vergleich zu den insgesamt sinkenden Anteilen geförderter Studierender (nur noch 15% erhalten eine konventionelle Studienförderung). Im Schnitt beträgt die Förderhöhe (inkl. Zuschläge) derzeit rund 680€/Monat und damit mehr als doppelt so viel wie die „normale“ Studienbeihilfe. Dennoch: Wer mit 30 Jahren ein Studium beginnt und sich vorher mehrere Jahre selbst erhalten hat, lebt in anderen Lebensumständen, als 18-Jährige, die noch bei ihren Eltern wohnen, wenn sie zu studieren beginnen. Die Wohnkosten sind in der Regel wesentlich höher, viele leben in einer Partnerschaft und 23% der Studierenden mit verzögertem Übertritt haben Kinder (11% Kinder in einem betreuungsintensiven Alter). Daher kommen SelbsterhalterInnen deutlich schlechter mit ihrem Stipendium aus (33% berichten von finanziellen Schwierigkeiten gegenüber 23% ohne Studienförderung) und haben öfter Probleme mit der Zuverdienstgrenze des Stipendiums (trotz der jüngsten Anhebung von 8.000 auf 10.000€ pro Jahr). Auch wenn im Nationalrat gerade eine kleine Erhöhung der Studienförderung für Studierende ab 27 Jahren beschlossen wurde, so sind es auch weiterhin jene Studierenden mit verzögertem Übertritt, also mit einer nicht-linearen Bildungskarriere, die am dringendsten (zumindest) eine Inflationsanpassung der Studienbeihilfe benötigen würden.
Vereinbarkeit von Studium und Beruf verbessern
Aber auch die Universitäten sind gefordert, diese Gruppe unter ihren Studierenden stärker zu berücksichtigen und insbesondere die Vereinbarkeit von Studium und Beruf zu verbessern. Hierzu laufen derzeit viele Überlegungen, aber der Trend der letzten Jahre ging dennoch eher in die andere Richtung: Statt Anpassungen im Sinne einer besseren Vereinbarkeit, wie z.B. Modularisierung des Studiums, wurden mehr lineare Voraussetzungsketten, umfangreiche Studieneingangsphasen (StEOP) und mehr Lehrveranstaltungen mit Anwesenheitsverpflichtung geschaffen. Berufsbegleitende oder Teilzeitstudien an Universitäten einzuführen ist sicher mit großem organisatorischem und finanziellem Aufwand verbunden, aber es würde zu einer besseren sozialen Durchmischung an den Hochschulen beitragen wenn es vermehrt Studienangebote für Menschen über 30 gäbe.
Anmerkung: Alle Zahlen in diesem Beitrag beziehen sich nur auf BildungsinländerInnen, also Personen, die ihre vorangegangene Bildungskarriere (Schule) in Österreich abgeschlossen haben. Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen wurden sie hier auch als „österr. StudienanfängerInnen“ bezeichnet, obwohl ihre Nationalität de facto keine Rolle spielt.