Misst man die gegenwärtige Ökonomik (Volkswirtschaftslehre) daran, was sie zur Beschreibung, Erklärung und dem Verstehen von Wirtschaft als Teil sozialer Wirklichkeit beiträgt, liefert sie ein dürftiges, ein unhilfreiches Ergebnis. Unserer Meinung nach tragen dazu eine spezifische erkenntnistheoretische Tradition und ideengeschichtliche Entwicklung bei. Die Kombination aus beiden führt schlussendlich dazu, dass Verantwortungslosigkeit verblümt als neue Tugend zelebriert wird.
Die Tugend der Verantwortungslosigkeit
Um dieser Entwicklung nachzugehen, bieten wir an dieser Stelle ein kleines, konfuses Narrativ über erkenntnistheoretischen Fundamente zeitgenössischer ökonomischer Forschung an.
Erkenntnistheoretische Belange werden im vorherrschenden Gedankengebäude der Volkswirtschaftslehre, der sogenannten Mainstream-Ökonomik, wenn überhaupt, nur peripher behandelt. Beziehen ÖkonomInnen tatsächlich explizit Stellung, berufen sie sich meist auf Milton Friedman (S.16) oder Karl Popper. Verbreiteter scheint aber auch eine Position zu sein, die wir an dieser Stelle als Empirizismus bezeichnen. Mit Empirizismus meinen wir eine generell naive Epistemologie und den Glauben, „den Daten“ losgelöst von Theorie und Subjektivität so etwas wie „objektive Wahrheit“ abringen zu können.
Sowohl Friedman und Popper als auch dem Empirizismus ist eigen, dass sich der Begriff “Objektivität” als oberste Instanz einschleicht, oder – wie im Falle des Empirizismus – versucht, die Tür einzubrechen. Objektivität als Übereinstimmung von Realität mit menschlicher Wahrnehmung mag man im Alltag aus pragmatischen Gründen annehmen wollen. Als erkenntnistheoretische Position im Wissenschaftsgefüge ist sie jedoch schlicht fahrlässig. Denn wie Heinz von Foerster es formuliert: “Objektivität ist die Illusion, daß Beobachtungen ohne einen Beobachter gemacht werden können.”
Ein Schweinestall aus Asbest
Diese überbordende Vorstellung von Objektivität – aber vor allem das Verharren darauf – scheinen wie ein Schweinestall aus Asbest gebaut: Ein bisschen sehr aus der Mode gekommen, weil nach unseren heutigen Erkenntnissen stark fahrlässig, aber dennoch idealer Nährboden für allerhand Unsinn – und feuerresistent.
Um auf des Pudels Kern zur Tugend der Verantwortungslosigkeit zu stoßen, glauben wir aber, vorbei an zeitgenössischen Positionen und tiefer graben zu müssen. Wühlt man im positivistischen Grundprogramm der Gegenwartsökonomik stößt man auf einen dunklen Abgrund: Im Zuge ihrer Etablierung als akademische Disziplin ließ sich die Ökonomik von einem seltsamen Neid auf die klassische Physik leiten. Und das nicht ohne Folgen.
Die klassische Physik und die Geister ihrer toten Hunde.
Die Anbiederung an die klassische Physik – die Übernahme ihrer Methoden, Metaphern und Mythen – scheint der neoklassischen Mainstream-Ökonomik drei Trugschlüsse nahegelegt zu haben: Universalismus, ein mechanistisches Weltbild und das illusorische Postulat der Wertfreiheit.
Erster Geist: Der Universalismus
Ob es sich um die Produktion, Verteilung oder den Konsum von Obst handelt – der Apfel fällt doch immer gen Boden. Alles wird ins selbe universelle Konzept gepresst, mit dem selben universellen Konzept erklärt. Wo alles schön universell ist, braucht man sich praktischerweise auch nicht mit Geschichte und Historischem herumplagen. Oliver Williamson, Pionier der Transaktionskostentheorie formuliert es wenig subtil mit den Worten „In the beginning, there were markets”. Aus epistemischen Gründen werden Märkte wunderbar biblisch sogar der Erschaffung der Welt selbst vorgereiht. Eine solche Perspektive verstellt notgedrungen den Blick auf die historische Bedingtheit sozialer Phänomene wie etwa Märkte oder eine “natürliche” Arbeitslosenrate.
Der Drang nach Universalismus hat die Vorstellung des Menschen als kontigentes Kulturprodukt in den Hintergrund verbannt. Stattdessen werden menschliche Handlungsweisen und Lebenspraxen dem überdehnten Konstrukt der „menschlichen Natur” zugeordnet.
Zweiter Geist: Die Mechanik
Neben dem versuchten Universalismus leidet die Ökonomik aber noch an einer weiteren Eigenheit der klassischen Physik: Einem mechanistischen Weltbild. Materielle Kausalität mag durchaus angebracht sein, um etwa die Laufbahn einer Billardkugel zu berechnen. Soziale Phänomene hingegen sind nun mal geprägt von Wechselwirkungen, in denen A auf B wirkt, aber komplexerweise auch B auf A. Oder von Emergenzen, in denen das Zusammenspiel von A und B etwas qualitativ Anderes hervorbringt. Die Eigentumsverhältnisse eines Buches etwa sind nicht in seiner materiellen Beschaffenheit zu finden oder durch sie zu verstehen.
Wir sind nicht müde, zu erwähnen, dass der Forschungsgegenstand von ÖkonomInnen eben solcherlei soziale Phänomene sind. Diesen Gegenständen nicht gerecht zu werden, indem man sie doch nur wieder auf postulierte, einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduziert, ist fatal.
Universalismus und mechanistisches Denken erlauben es, eine wunderbar mathematisch exakte Modelltheorie, wie eben die Allgemeine Gleichgewichtstheorie der Neoklassik, zu vertreten. Ganz dem Ideal der Naturwissenschaften nach scheint darin alles Normative überwunden. In der Theorie sind dann Löhne nicht das Produkt von Machtverhältnissen, sondern bloß durch technologische Gegebenheiten determiniert.
Dritter Geist: Das Postulat der Wertfreiheit
Dieser Versuch, sich von allem Normativen loszulösen, kulminiert im Postulat der Wertfreiheit. Gerade dieses Postulat, selbst schon Werturteil und frappierend politisch, wird an allen Ecken und Enden gepredigt – verdächtig wie wir meinen. Die Immunisierung gegen die Vorstellung einer nicht apolitischen Ökonomik durch Annahmen über Natürlichkeit, Mechanik und Wertfreiheit ist nicht bloß historisch inkorrekt, sondern erstaunlich unhilfreich.
Ganz im Sinne der Naturwissenschaften wird mit der fertigen Welt von hinten begonnen. „Fakten” und „Natur” sprechen aber niemals für sich selbst. Wenn der ökonomische Mainstream sagt: „Aber die Daten!”, zeigt das nur, wie schwerwiegend missverstanden wird, was Daten eigentlich sind. Wenn die Neoklassik sagt: „Aber die formale Stringenz!”, zeigt das nur, wie missverstanden wird, was soziale Realität konstituiert und was die Aufgabe der Ökonomik ist. Mechanische NutzenmaximiererInnen gibt es so nicht, und Firmen wandeln nicht einfach magisch Input in Output um. Selbst wenn das so wäre, hieße das nicht, dass es so sein muss. Aber dennoch werden solche Thesen wie eherne Gesetze reproduziert. Diese ehernen Gesetze stehen aber eigentlich unter der Prämisse „es mag zwar jetzt so sein, aber es ginge auch ganz anders” – sie sind also Kontingent.
Ultimativ hat sich die Ökonomie durch die Eigenbeschreibung als wertfrei, als nicht-normativ in eine bequeme Ecke der Verantwortungslosigkeit gesetzt. So wie PhysikerInnen nicht für die Bewegung von Himmelskörpern verantwortlich gemacht werden, wollen ÖkonomInnen keine Verantwortung für „universelle” Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie übernehmen. Es wirkt wenig überraschend, dass diese Denkweise auch in den politischen Diskurs Einzug gefunden hat – allen voran in der von Margaret Thatcher geprägten Phrase „there is no alternative”.
T.I.N.A.
Die neoklassische und „Mainstream”- Wirtschaftstheorie unserer Tage hat sich, wie oben nachzulesen, einer Tugend der Verantwortungslosigkeit verschuldet. Auf Basis der Kritik an naivem Positivismus sowie an den Kategorien von Universalismus, Mechanik und Wertfreiheit lässt sich darauf antworten, dass die Wirtschaftswissenschaften ab initio ein politisches Programm sein müssen. Das bedeutet nun nicht, dass man sich nicht „wissenschaftlich” mit ihren Sachverhalten auseinandersetzen kann. Diese Wissenschaftlichkeit muss sich aber der geschichtlichen Entwicklung menschlicher Organisation und der Erkenntnisbeschränktheit menschlicher Wahrnehmung bewusst sein und die soziale Formbarkeit ökonomischer Organisation akzeptieren.
Wenn Thatcher sagt, etwas sei alternativlos, entspricht dies dem Denkmuster der oben beschriebenen entpolitisierten Ökonomik, die nun in einer technokratischen, entpolitisierte Politik gemündet ist. Unserer Meinung nach ruht diese Vorstellung aber auf einer Reihe blinder Flecken – unter anderem genährt von den Kategorien Universalismus, Mechanik und Wertfreiheit. Es sei wieder auf Heinz von Förster verwiesen, dessen zentrales Erkenntnisinteresse gerade in der Konfrontation mit dieser Begebenheit bestand. In Bernhard Pörksens “Ethik der Erkenntnistheorie” fasst diesen Ansatz als “Irritation des Beobachters, des Erkennenden, der dann – einmal produktiv verunsichert – auf die ethisch-moralische Verantwortung für seine Sicht der Dinge und seine unvermeidlich gegebenen blinden Flecken gestoßen wird” zusammen.
…und die Alternativen
Ob das Großbritannien der 1980er, die UdSSR im 20. Jahrhunderts oder das heutige Griechenland: es gibt immer Alternativen, und mehr noch gibt es eine Verantwortung, sich dieser bewusst zu sein, speziell als ÖkonomIn. Es besteht ein Gebot zur produktiven Irritation. Die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse als Ende der Geschichte zu sehen, ist im besten Fall eine Gute-Nacht-Geschichte für gequälte Geister. Schulden, Produktion, Einkommensverteilung und Arbeitsorganisation sind nicht durch natürliche Notwendigkeiten gebunden.
An eine unhilfreiche ökonomische Wissenschaft in diesen Belangen ist nur eine gutgemeinte Warnung auszusprechen: „Hoit, do is a Spoit, passts auf, dass kana eini foit.“
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags ist in der Zeitschrift „Standpunkte“ (Nr.13/April 2015) der Studienvertretung VW/SozÖk/SEEP an der WU Wien erschienen.