Überlastungsmeldung als Instrument für betriebliche Interessenvertretung

31. Oktober 2022

Volle Auftragsbücher, aber keine Fachkräfte. Viele Patienten/-innen, aber keine Pflegekräfte. Gute Hotelauslastung, aber kein Personal. Diese oder ähnliche Meldungen kann man aktuell beinahe täglich in den Zeitungen lesen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Tatsache ist, dass viele Beschäftigte ihrem Betrieb bzw. ihrer Branche im Zuge der Corona-Pandemie den Rücken zugewandt haben. Die Verbliebenen müssen die Personalknappheit nun abfedern. Um Überlastungen zeitgerecht zu erkennen und reagieren zu können, braucht es ein zielgerichtetes Vorgehen. Richtig eingesetzt kann hier eine Überlastungsmeldung helfen.

Arbeitskräftemangel und Belastungsgrenzen

Die einen, etwa im Tourismus und der Gastronomie, verloren während der Lockdowns ihren Arbeitsplatz. Die anderen, etwa im Gesundheitsbereich, wurden bis über die Belastbarkeitsgrenzen beansprucht. Jene, die in ihren Betrieben bzw. Branchen verblieben sind, müssen die Personalknappheit nun ausgleichen und werden dabei selbst über Gebühr belastet. Es entsteht ein Teufelskreis, der die Beschäftigten zum Teil regelrecht in die Flucht schlägt. Laut Arbeitsklima Index plant mehr als ein Viertel aller Beschäftigten den Job zu wechseln. Dabei sind die gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Beschäftigten vor körperlicher und psychischer Überlastung eindeutig. Viele Arbeitgeber/-innen haben sich jedoch angewöhnt, das herrschende Recht als reine Handlungsempfehlung für sich zu interpretieren. Die Überlastungsmeldung ist eine Möglichkeit, im Rahmen der betrieblichen Interessenvertretung, Arbeitgeber/-innen an ihre Verantwortung zu erinnern.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Rechtliche Grundlagen: Pflichten für alle

Überlastungsmeldung, Gefährdungsanzeige, Überlastungsanzeige, … die Benennung ist Geschmackssache und über Geschmack lässt sich bekanntlich vortrefflich streiten. Tatsache ist: Das österreichische Recht kennt keinen dieser Begriffe. Und dennoch gibt es rechtliche Vorgaben, die den Einsatz dieses Instruments nahelegen. Viel wichtiger als die Benennung sind ohnehin die zielführende und gut organsierte Einführung und Umsetzung.

Grundsätzlich sind Arbeitnehmer/-innen dazu verpflichtet, die betrieblichen Interessen des Arbeitgebers / der Arbeitgeberin zu wahren. Hier wird oftmals der abstrakte Begriff der Treuepflicht ins Feld geführt. Tatsächlich geht es um eine Fremdinteressenwahrungspflicht, wonach der Beschäftigte beispielsweise eine Anzeigepflicht hat, vor drohenden Schäden zu warnen. Explizit kommen diese Pflichten in § 15 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (AschG) zum Ausdruck:

  • „Arbeitnehmer haben die … gebotenen Schutzmaßnahmen anzuwenden, und zwar gemäß ihrer Unterweisung und den Anweisungen des Arbeitgebers. Sie haben sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung soweit als möglich vermieden wird.“ (Abs. 1)
  • „Arbeitnehmer haben jeden Arbeitsunfall, jedes Ereignis, das beinahe zu einem Unfall geführt hätte, und jede von ihnen festgestellte ernste und unmittelbare Gefahr für Sicherheit oder Gesundheit sowie jeden an den Schutzsystemen festgestellten Defekt unverzüglich den zuständigen Vorgesetzten oder den sonst dafür zuständigen Personen zu melden.“ (Abs. 5)
  • „Arbeitnehmer haben gemeinsam mit dem Arbeitgeber … darauf hinzuwirken, dass die zum Schutz der Arbeitnehmer vorgesehenen Maßnahmen eingehalten werden und dass die Arbeitgeber gewährleisten, dass das Arbeitsumfeld und die Arbeitsbedingungen sicher sind und keine Gefahren für Sicherheit oder Gesundheit aufweisen.“ (Abs. 7)

Der Gesetzgeber bringt hier zum Ausdruck, dass der / die Arbeitgeber/-in zwar die Verantwortung im Arbeitnehmerschutz trägt, diese/r sich jedoch auch auf die Mitwirkung der Beschäftigten verlassen können muss. Diese Mitwirkung beschränkt sich nicht auf die Meldung von technischen Gebrechen. Auch schlechte Arbeitsorganisation und Personalmangel berühren die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers / der Arbeitgeberin. Sie sind Ursache von psychischem Stress, der sich laut Arbeitsklima Index aktuell wieder stark im Steigen befindet.

Psychischer Stress (Index): 1997 bis 2022

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Schäden vermeiden: zwischen Eigenverantwortung und Führungsversagen

Durch Überlastung können vielfältige Schäden entstehen. Neben der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gibt es weitere Aspekte, wo eine Information aus der Belegschaft an den /die Arbeitgeber/-in nützlich ist. Überlastetes Personal im Gesundheitswesen könnte fatale Fehler bei der Medikamentenausgabe begehen. Küchenpersonal könnte Hygienevorschriften ignorieren. Übermüdete Staplerfahrer/-innen könnten Unfälle am Betriebsgelände verursachen. Kunden/-innen, Patienten/-innen, Klienten/-innen usw. könnten durch schlechte Arbeitsorganisation oder Personalmangel geschädigt werden. Betriebliches oder fremdes Eigentum könnte beschädigt oder zerstört werden. Imageverluste, Probleme bei Zertifizierungen, schlechte Kundenbewertungen, Rankings usw. sind weitere Folgen.

Potenzielle Schäden vom Unternehmen abzuwenden, muss also ureigenstes Interesse von Arbeitgebern/-innen und Führungskräften sein. Hierfür bedarf es einer offenen Gesprächs- und Fehlerkultur, die aufgrund unserer Erfahrung aus Beratung und Betriebsprojekten leider nicht in jeder Organisation ausreichend etabliert ist. Hinderlich ist zudem eine Führungskultur, die eigenverantwortliches Arbeiten der Belegschaft mit Abwälzung der Verantwortung auf die Belegschaft verwechselt. Oder als Beispiel formuliert: Wenn Urlaube wegen Personalmangel kaum mehr möglich sind, kann man die Einteilung der Urlaube nicht dem Team überlassen. Was als Eigenverantwortung verkauft wird, ist schlicht Führungs- und Organisationsversagen. Zeitnahe Vorfälle in Wiener Krankenhäusern, wo Überlastungsmeldungen einfach archiviert wurden, anstelle Maßnahmen zur Entlastung einzuführen, zeigen auf, dass es in vielen Bereichen erst eine neue Fehlerkultur braucht.

Überlastungsmeldung als Instrument für den Betriebsrat

Die Überlastungsmeldung ist ein Prozess, der die Verantwortung wieder dorthin spielt, wo sie hingehört: zu den Verantwortlichen. Arbeitgeber oder Führungskräfte werden informiert, welche Probleme vorliegen und welche Schäden aufgrund dessen befürchtet werden. Wird darauf nicht reagiert, kann im Schadensfall die Verantwortung – rechtlich, wirtschaftlich und moralisch – kaum auf die Beschäftigten abgewälzt werden.

Das Instrument ist nicht neu, jedoch in Österreich kaum etabliert. Lediglich im Gesundheitsbereich wird es mancherorts genutzt. In Deutschland ist die Überlastungsanzeige etwas weiter verbreitet und wird dort insbesondere von der Gewerkschaft ver.di forciert.

Überlastungsmeldungen sollten schriftlich erfolgen und innerbetrieblich eine einheitliche Form haben. Bei der Einführung und Nutzung des Instruments müssen Betriebsräte/-innen eine zentrale Rolle einnehmen. Bei der Wahrnehmung entsprechender Probleme sollten die wesentlichen Faktoren von den Beschäftigten erfragt werden und dann in formeller Form an die Verantwortungsträger/-innen weitergeleitet werden. Potenzielle künftige Schäden sind hierbei anzuführen und zum Ausdruck zu bringen, dass unter den gegebenen Umständen, auch bei gewissenhafter Ausführung der Tätigkeit, eine Abwendung des Schadens nicht ausgeschlossen werden kann. Nützlich und sinnvoll ist jedenfalls auch die Anführung von relevanten rechtlichen Vorgaben. Theoretisch kann die Überlastungsmeldung von jeder Person aus der Belegschaft eingebracht werden – auch in Betrieben ohne Betriebsrat. Die Tatsache, dass die Überlastungsanzeige aber keine klare gesetzliche Grundlage hat und ein guter Kündigungsschutz oftmals erst eine Debatte auf Augenhöhe mit dem /der Arbeitgeber/-in ermöglicht, lassen derzeit jedoch Betriebsräte/-innen als ideale Initiatoren/-innen einer Überlastungsmeldung erscheinen.

Fazit: Abwendung von Schäden in gemeinsamem Interesse

Eine Überlastungsmeldung kann ein Überdenken von Personalberechnungsstandards und zukunftsgerechte Personalberechnungen nicht ersetzen. Auch kurzfristige Erfolge sind durch eine Überlastungsmeldung kaum zu erwarten. Da durch das offensive Ansprechen der Verantwortung von Arbeitgebern/-innen bzw. Führungskräften jedoch der Druck steigt, könnten langfristige Erfolge erzielt werden. Überlegenswert ist der Einsatz in all jenen Unternehmen und Organisationen, wo die rechtlichen Vorgaben des Arbeitnehmerschutzes – etwa die Evaluierung psychischer Belastungen – nicht ernsthaft umgesetzt werden bzw. nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Hier ist auch der Gesetzgeber gefordert, durch eindeutige Regelungen und höhere Strafrahmen Arbeitgeber verstärkt zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu bewegen. Zur Durchsetzung ist es auch unerlässlich, die Arbeitsinspektion mit mehr personellen und finanziellen Ressourcen auszustatten. Schäden vom Unternehmen, den Beschäftigten, den Kunden/-innen, Patienten/-innen usw. abzuwenden, muss ein gemeinsames Interesse von Arbeitgebern/-innen, Arbeitnehmern/-innen und deren Belegschaftsvertretung sein. Lasst es uns ansprechen!