Soziale Rechte, unser gemeinsames Interesse!

04. März 2016

Das Fehlen einer europäischen Strategie in der Flüchtlingsfrage führt in Österreich nicht nur zu Grenzen und Zäunen. Nach und nach werden repressive staatliche Maßnahmen ausgebaut, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Die Flüchtlingskrise könnte aber auch dazu genützt werden, soziale Rechte weiterzuentwickeln. Genau dies beabsichtigte die Internationale Arbeitsorganisation vor bereits 65 Jahren.

Vor 65 Jahren legte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) einen präzisen Entwurf zur Bewältigung der durch den 2. Weltkrieg ausgelösten Flüchtlingskrise vor. Die ILO sollte als zentraler Akteur weltweit die gesamten Migrations- und Fluchtbewegungen planen und ausführen. Konkret sollte sie innerhalb von fünf Jahren die Emigration von 1,7 Millionen europäischen Migrant_innen realisieren. Die jeweiligen Zieldestinationen sollte die ILO bestimmen und sich dabei ausschließlich nach den gegebenen Arbeitsplatzangeboten richten. Die Kosten der Flucht bzw. Migration sollte ein eigens bei der ILO einzurichtender, internationaler Fonds übernehmen.

Dem Historiker Rieko Karatani zufolge beruhte das ILO Konzept im Wesentlichen auf drei Annahmen:

  1. Transnationale Migrationsströme müssten von einer internationalen Organisation gesteuert werden.
  2. Eine sichere Abwicklung von massenhaften Flucht- und Migrationsbewegungen sei wesentlich zur Erhaltung des Weltfriedens.
  3. Neue Heimatländer müssten nach dem entsprechenden Arbeitsplatzangebot bestimmt werden.

Diesen Prinzipien folgend sollte die internationale Arbeitsorganisation mit der weltweiten Steuerung von Flucht und Migration betraut werden. Dass der ehrgeizige Plan der UN-Sonderorganisation letztlich niemals umgesetzt wurde, lag am heftigen Widerstand des größten UN-Nettozahlers. Die USA lehnten die Verwirklichung unter anderem deswegen ab, weil sie die Kontrolle über die Zuwanderung in ihr Territorium nicht der internationalen Staatengemeinschaft überlassen wollten.

65 Jahre später ist Europa mit der größten Flüchtlingskrise nach dem 2. Weltkrieg konfrontiert. Der EU mag es trotz zahlreicher Anläufe nicht gelingen, eine einheitliche asylpolitische Strategie zu entwickeln. In Ermangelung dessen setzen die Mitgliedstaaten mehrheitlich auf eine Politik der Abgrenzung.

Die Gründe für diese Abwehrhaltung mögen vielschichtig sein, nicht zu leugnen ist aber, dass eine Politik der Abschottung gegenüber „Fremden“ durchaus kohärent mit der Idee des Nationalstaates ist. Der nationalstaatlichen Logik entspricht es, Nicht-Staatsbürger_innen als „fremd“ zu markieren und dadurch ihren Ausschluss aus dem Staatsverband zu legitimieren. Staatliche Maßnahmen zur Begrenzung von Migration werden häufig mit der kulturellen, ethnischen oder historischen „Andersheit“ der Unzugehörigen gerechtfertigt. Je fremder Menschen eingestuft werden, umso mehr erscheinen sie – dieser Logik entsprechend – als Bedrohung für die nationalstaatliche Ordnung.

Es mag sohin einer fehlenden supranationalen Entscheidungsstruktur und dem Erstarken nationalstaatlicher Interessen geschuldet sein, dass in der aktuellen Flüchtlingsdebatte vor allem die kulturelle Kompatibilität der Asylsuchenden mit europäischen Werten diskutiert wird. Demgegenüber ist aus heutiger Perspektive das auffallendste am ILO-Plan von 1951 der Umstand, dass Faktoren wie Kultur, Ethnizität oder Religion bei der Wahl der neuen Heimatländer keinerlei Rolle spielen sollten. Die vorrangige Gefahr von Migrationsbewegungen infolge von Flucht und Vertreibung wurde eher in einer Beschneidung von sozialen Rechten als in möglichen Kulturkonflikten gesehen. Unter dieser Prämisse erstarkte letztlich die Idee, die Verantwortung für sämtliche Flucht- und Migrationsbewegungen einer internationalen Organisation zu übertragen, die hauptsächlich zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit sowie zur Beförderung von Menschen- und Arbeitsrechten beauftragt war.

Der österreichische Weg heute

In Österreich, wo das Thema Migration seit über 30 Jahren die Wahlen dominiert (und auch oft genug entscheidet), sind die Debatten um Asyl und Grenzen entscheidend vom Faktor „Kultur“ geprägt. Mehr und mehr bedienen sich die politisch Verantwortlichen bewährter rechtspopulistischer „Wir“ „Sie“ Argumentationsmuster und speisen sie dadurch in einen breiteren gesellschaftspolitischen Diskurs ein.

Seit Sommer 2015 werden asylpolitische Lösungen im Schnellschussverfahren präsentiert. Außenminister Sebastian Kurz stärkt Innenministerin Mikl-Leitner den Rücken, indem er ebenfalls gegen eine „Willkommenskultur“ sowie für Asyl-Obergrenzen und bewachte Landesgrenzen eintritt. Gleichzeitig liegt es auch in seinem Zuständigkeitsbereich, die nötigen Weichen für die Integration der Geflüchteten zu stellen.

Den „50 Punkte-Plan zur Integration von Asylberechtigten und Subsidiär Schutzberechtigten in Österreich“ legte Kurz unter Mitarbeit seines Expertenrates bereits im November 2015 vor. Darin werden mitunter jahrelange Forderungen von AK und Gewerkschaft, wie zum Beispiel das zweite verpflichtende Kindergartenjahr, als Integrationsmaßnahmen angeführt. Dennoch ließ sich bereits auf dem ersten Blick erahnen, dass diesem Integrationsplan Obergrenzen, Grenzzäune und Diskussionen um eine Kürzung von Sozialleistungen folgen würden.

„Unsere“ Werte

Das Herzstück des Maßnahmenplanes zur Integration ist die Vermittlung „unserer“ Werte. Der Begriff findet sich 29 Mal auf 22 Seiten. Die Rede ist von Werteerziehung, Wertekursen, Wertevermittlung, Wertekultur, Wertekanon, Werteorientierung. Dass Asylberechtigte aufgrund „ihrer fremden Kultur“ grundsätzlich „andere“ Werte haben und dass diese mit „unseren“ zwangsläufig im Widerspruch stehen, wird als Faktum präsentiert. „Kultur” wird ausschließlich an einen geographischen Raum gebunden, so dass alle Betroffenen – vom Schneider aus der afghanischen Steppe, über den Volkschullehrer aus der kurdisch-irakischen Kleinstadt bis zur Richterin aus Damaskus – ein und derselben Kultur zugeordnet werden.

Dem Plan zufolge sollen „unsere“ Werte den Asylberechtigten von möglichst vielen Menschen nahegebracht werden. Dazu erscheint dem Dokument nach prinzipiell jeder bzw. jede zur „Werteerziehung“ geeignet. Sprachlehrer_innen sollen ihren erwachsenen Schüler_innen nicht nur Deutschkenntnisse, sondern auch „Werte“ vermitteln (Punkt 20). Freiwillige aus der Zivilgesellschaft sollen „Werte-Patenschaften“ übernehmen und „Buddy-Systeme“ gründen (Punkt 34+36). Dabei sollen gemeinsam mit Flüchtlingen „wichtige Stationen der Wertekultur, wie z.B. das Parlament“  besucht und „deren Bedeutung gemeinsam“ besprochen werden (Punkt 34). Der kulturell homogenen Entität der Flüchtlinge scheint demnach ein nicht minder homogener Block der österreichischen Mehrheitsgesellschaft gegenüberzustehen, der durchgehend einheitliche Werte und Anschauungen vertritt.

Die Botschaft, die hier implizit transportiert wird, lautet folglich, dass „ihre“ Lebensweise mit „unserer“ unvereinbar und das Zusammenleben mit „ihnen“ zwangsläufig konfliktträchtig ist. Demgemäß wird im Maßnahmenplan a priori davon ausgegangen, dass die steigende Diversität an den Schulen zu „kulturell bedingten Konflikten zwischen zugewanderten und einheimischen führen“  werde (Punkt 9).

Integration als „Erziehung“

Das auffallendste am Integrationsplan ist seine Rhetorik. Gegenüber Asylberechtigten wird ein strikter Ton eingeschlagen. Durchgehend liest sich der Maßnahmenplan so, als ob Integration eine reine Willensanstrengung der Betroffenen wäre. Strukturelle Diskriminierung, sozio-ökonomische Benachteiligungen und rechtliche Hürden, die Integrationsbemühungen erschweren bzw. gar verunmöglichen, existieren dem Dokument nach in Österreich nicht.

Integrationspolitik wird hier hauptsächlich als Erziehung verstanden, so dass der Plan vornehmlich auf verpflichtende Maßnahmen zur Herbeiführung eines korrekten Verhaltens setzt. Bestraft und belohnt wird teilweise mit Mitteln, die die Lebensgrundlage betreffen. Bei „nachweisbaren Integrationsbemühungen“ sollen Flüchtlinge beispielsweise einen „frühen Zugang zu gefördertem Wohnraum erhalten“ (Punkt 43). Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung soll explizit als  „pädagogisches Instrument“ (Punkt 23) verstanden werden. Bei einer Weigerung „den Integrationsplan einzuhalten und bspw. an bestimmten Kursen teilzunehmen“ ist sie zu kürzen. Wie dies mit dem ursprünglichen Gedanken der Existenzsicherung vereinbar ist und wie der betroffene Personenkreis dann sein Überleben bestreiten soll, wird offen gelassen.

Der Logik der Erziehung entspricht darüber hinaus eine effektive Kontrolle der Flüchtlinge. Der Maßnahmenkatalog sieht eine umfassende „Vernetzung statistischer Daten“ vor. Geplant ist eine ungehinderte Zirkulation von Daten zwischen Behörden, die mit Asylberechtigten zu tun haben. Dies „soll der Identifizierung von Hürden im Integrationsprozess und als Evaluierungsinstrument dienen“ (Punkt 49). Tatsächlich werden die Betroffenen dadurch einer ausgebauten staatlichen Überwachungsmaschinerie unterworfen, die ihre individuellen Leistungen laufend erfasst und evaluiert. Maßnahmen zur Prävention einer missbräuchlichen Verwendung der Datensammlung sieht der Integrationsplan nicht vor.

Gesamtgesellschaftliche Folgen dieser Integrationspolitik

Mittels eines Integrationsansatzes, der Geflüchtete primär als zu Erziehende konstruiert, hofft man vermutlich größere Zustimmung für eine Abschottungspolitik gegenüber Asylsuchenden zu erreichen.  Wenn „sie“ so sind und „ihre“ Integration derart beschwerlich zu werden droht, ist es besser, dass der Rest von „ihnen“ draußen bleibt.

Unberücksichtigt bleibt jedoch, welche weitreichenden Auswirkungen eine disziplinarische Integrationspolitik auf die gesamte Gesellschaft haben kann. Indem ein breiter Konsens darüber hergestellt wird, dass eine benachteiligte Gruppe zwecks Integration unter eine strenge staatliche Vormundschaft gestellt werden müsste, wird ein fruchtbarer Boden für autoritäres Vorgehen insgesamt bereitet. Das Sagbarkeitsfeld erweitert sich auch gegenüber anderen Stigmatisierten, wie z.B. Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfänger_innen. Plötzlich sollen auch sie mittels repressiver Maßnahmen zu einem korrekten, dem vermeintlichen Gemeinwohl dienenden Verhalten erzogen werden.

Zudem eignen sich Migrant_innen und Asylberechtigte vorzüglich zur Erprobung von Rechtsverkürzungen, die später auf den Rest der Bevölkerung übertragen werden. Es ist schließlich kein Zufall, dass genau jetzt Versuche unternommen werden, Sozialleistungen zu kürzen, staatliche Kontrollmechanismen auszuweiten und rechtsstaatliche Prinzipien zurückzudrängen.

Mehr und mehr drängt sich die Frage auf, ob es aktuell nicht geboten wäre, sich an den einstigen Grundannahmen der Internationalen Arbeitsorganisation zu orientieren. Sollte in Zeiten von Flucht und Elend der politische Fokus nicht eher auf die Erhaltung sozialer Rechte statt auf die Betonung kultureller Differenzen gelegt werden? Im Mittelpunkt der 1951 in Neapel vorgeschlagenen Migrationsstrategie der ILO stand das überstaatliche Interesse, den Weltfrieden zu sichern. Die Weiterentwicklung bzw. Erhaltung sozialer Rechte für möglichst alle Menschen wurde hierfür als wesentlich erachtet. Dass Geflüchteten die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, unter fairen Bedingungen eine Arbeit aufzunehmen, wurde nicht nur als Interesse der Zuwanderer_innen, sondern vor allem auch als Interesse der Einheimischen in den Aufnahmeländern, gewertet.

Die Flüchtlingskrise wird zurzeit vorrangig als Störfaktor für die nationale Ordnung betrachtet und als Versuchsfeld für den Ausbau repressiver staatlicher Maßnahmen genutzt. Sie könnte aber auch als Chance zur Sicherung und Weiterentwicklung unserer aller Rechte betrachtet werden.