Vergessenes Versprechen: Soziale Dimension an den Hochschulen

17. März 2022

Prüfungsaktivität, Mindeststudienleistung oder verpflichtende Studieneingangsphase: Diese Themen haben die letzten Novellen des Universitätsgesetzes (UG) und somit die Realität der Studierenden geprägt. Die damit verbundenen Kennzahlen wurden auch in den Leistungsvereinbarungen zwischen den Universitäten und dem Bildungsministerium verankert. Die Stoßrichtung ist klar: Das Studienrecht orientiert sich am Vollzeitstudierenden, wichtig ist vor allem der rasche Abschluss eines Studiums. Ab dem Wintersemester 2022 greift schließlich auch die viel kritisierte ECTS-Hürde. Jene, die ein Studium beginnen, müssen erstmalig eine Mindestanzahl von 16 ECTS absolvieren. Schaffen sie das nicht, werden sie für zwei Jahre vom Studium ausgeschlossen.

Gleichzeitig sind die soziale Dimension und Diversität an Hochschulen (weiter) in den Hintergrund gerückt. Die Strategie zur sozialen Dimension zielt darauf ab, den Zugang zu Hochschulbildung von unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Ziele sind unter anderem: die Zusammensetzung der Studierenden an die soziodemografische Zusammensetzung der Bevölkerung heranzuführen, die Anzahl and nicht-traditionellen StudienanfängerInnen zu erhöhen und berufsermöglichende Studienangebote auszubauen. Diese Ziele sind zwar teilweise in den Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten verankert, eine Rundschau des Bildungsministeriums zeigt jedoch: Längst nicht alle Hochschulen haben eine gesamthafte Strategie zur sozialen Dimension implementiert.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Die soziale Herkunft der Eltern wird in der österreichischen Bildungsforschung regelmäßig als der zentrale Faktor für die Bildungslaufbahn der Kinder genannt. Der damit verbundene Stehsatz „Bildung wird in Österreich vererbt“, prägt die Bildungslandschaft hierzulande schon lange. Mit jeder weiteren Sprosse der Bildungsleiter vergrößert sich die Schere zwischen Kindern aus AkademikerInnenhaushalten und Nicht-AkademikerInnenhaushalten. Auf der höchsten Sprosse, der Hochschule, variiert die soziale Zusammensetzung jedoch nach Hochschultyp und Studium deutlich. An Fachhochschulen – insbesondere in berufsbegleitenden Studiengängen – ist die Wahrscheinlichkeit, als Kind von Eltern ohne Matura zu studieren, höher als an Universitäten.

Gemessen wird dies anhand der „Rekrutierungsquote“, ein sperriges Wort, das einfach formuliert die Wahrscheinlichkeit angibt, mit welcher Kinder von Eltern mit oder ohne Matura ein Hochschulstudium beginnen. 2015 war die Wahrscheinlichkeit zu studieren für Kinder von Eltern mit Matura 2,38-mal höher als jene für Kinder von Eltern ohne Matura. Fünf Jahre nach Einführung der Strategie zur sozialen Dimension steht die soziodemografische Diversität an Hochschulen sogar schlechter da als im Studienjahr 2015/16. Die Hochschulen sind vom festgeschriebenen Ziel, eine Rekrutierungsquote von 2,10 bis 2025 zu erreichen, weit entfernt. Im Fachhochschulbereich stagniert die Rekrutierungsquote seit 2015 auf einem niedrigen Wert.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Viele Wege können an die Hochschule führen

Ein weiteres Ziel der Strategie ist die Anzahl der StudienanfängerInnen mit nicht-traditionellem Hochschulzugang – also jener Studierenden, die über eine Alternative zur Matura, wie der Berufsreifeprüfung oder der Studienberechtigungsprüfung, zu studieren beginnen – bis 2025 auf insgesamt 5.300 Personen zu erhöhen. Auch bei dieser Kennzahl werden große Unterschiede zwischen den verschiedenen Hochschultypen sichtbar: Während im Wintersemester 2019/20 22 Prozent der StudienanfängerInnen an berufsbegleitenden Fachhochschulstudien einen nicht-traditionellen Zugang vorweisen, sind es an den Universitäten nur 5,6 Prozent. Verbesserungstrend ist in diesem Bereich leider auch keiner zu verzeichnen: Die Anzahl der StudienanfängerInnen mit nicht-traditionellem Hochschulzugang ist von 2015 auf 2019 um 3 Prozent zurückgegangen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Viele dieser Studierenden arbeiten während des Studiums. Insgesamt sind laut Studierenden-Sozialerhebung etwa zwei Drittel aller Studierenden erwerbstätig. Und je mehr Stunden gearbeitet werden, desto schwieriger ist auch die Vereinbarkeit von Job und Studium. Um eine Berufstätigkeit während des Studiums besser zu ermöglichen, zielt die Strategie zur sozialen Dimension darauf ab, die Anzahl der berufsbegleitend Studierenden an Fachhochschulen auf 50 Prozent zu erhöhen. Doch auch in diesem Bereich sind wir heute leider noch weit vom Ziel entfernt: aus einer Anfragebeantwortung des Bildungsministeriums geht hervor, dass der Anteil der berufsbegleitenden bzw. berufsermöglichenden Studienplätze 2020/21 bei etwa 40 Prozent liegt.

Der Einfluss der Corona-Semester auf die soziale Dimension

Durch die Corona-Krise hat sich die soziale Schieflage an den Hochschulen weiter verschlechtert. Aus einer Umfrage von Arbeiterkammer und ÖH geht hervor, dass in Summe 35 Prozent der befragten Studierenden von negativen Berufs- bzw. Einkommensfolgen der Pandemie betroffen sind. Die finanziellen Einbußen resultierten aus Jobverlust, Kurzarbeit und sonstiger Kürzung der bisherigen Arbeitsstunden – ein Fünftel der Studierenden tut sich mit ihren laufenden Ausgaben schwer. Eine finanziell prekäre Lage resultiert dabei nicht nur aus dem eigenen Jobverlust, sondern auch aus Einkommensverlusten seitens ihrer Eltern. Der Bildungshintergrund im Elternhaus spielt hier eine wesentliche Rolle, da die Haupteinnahmequelle von sozial schwächeren Studierenden, nämlich die Erwerbsarbeit, vielfach reduziert wurde bzw. ganz weggefallen ist.

Die langfristigen Auswirkungen Corona-bedingter Einkommenseinbußen auf Studierende aus nicht-akademischen Haushalten sind aktuell noch unklar – in der nächstjährigen Studierenden-Sozialerhebung werden sie aber sicherlich abzulesen sein. Erste Ergebnisse einer deutschen Studie zeigen jedoch bereits, dass die Pandemie zu einer Erhöhung der Studienabbruchsintention bei Studierenden mit niedrigerer sozialer Herkunft und Studierenden mit Migrationshintergrund geführt hat. Gleichzeitig hat die psychische Gesundheit der Studierenden während der Corona-Semester gelitten. Eine vom Bildungsministerium beauftragte Befragung legt dar: „Vor allem Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, mangelnde Studienmotivation, mangelndes Selbstwertgefühl sowie depressive Verstimmungen haben deutlich zugenommen.“

Wohin soll die Reise gehen?

Selbst ohne die Folgen der jüngsten UG-Novelle und der Corona-Pandemie auf die soziale Zusammensetzung der Studierenden und die Diversität an Hochschulen in Österreich zu kennen: Klar ist jetzt schon, dass sich trotz der 2017 eingeführten Strategie zur sozialen Dimension in diesem Bereich in den letzten Jahren wenig getan hat.

Damit die soziale Dimension und die damit verbundene Chancengerechtigkeit für Studierende kein vergessenes Versprechen bleibt, müssen von Bildungsministerium und Hochschulen spezifische Maßnahmen gesetzt werden, um die Diversität zu steigern. Vorschläge, wie das funktionieren kann, liegen vor:

  • Ausbau des Stipendiensystems mit regelmäßiger Inflationsanpassung und gezielte Förderung von nicht-traditionellen Studierenden
  • Fördermaßnahmen zur Steigerung des Anteils an Studierenden mit nicht-traditionellem Hochschulzugang
  • Anpassung des Studienangebots (vor allem an Universitäten) an die Realität von berufstätigen Studierenden und Ausweitung der berufsbegleitenden Studienplätze
  • Sensibilisierung des Lehrpersonals für Herausforderungen von „first generation students“

Um keine Talente und Potenziale von jungen Menschen zu verlieren, müssen diese Maßnahmen genauso zielstrebig verfolgt werden wie jene, die in der UG-Novelle verankert wurden. Nur so kommen wir dem Ziel einer sozial gerechten Hochschule und Gesellschaft näher.

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