Warum eine Reform der EU-Fusionskontrolle die Rechte der ArbeitnehmerInnen stärken muss

30. Oktober 2019

Ausgelöst durch die Untersagung des Zusammenschlusses von Alstom und Siemens im Bahnbereich durch die EU-Kommission, wird – ausgehend von Deutschland und Frankreich – eine Neuausrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik gefordert. Auch der für Österreich bedeutende Zusammenschluss, namentlich Nidec/Embraco mit dem Standort in Fürstenfeld, zeigt sehr anschaulich die problematischen Auswirkungen von Fusionskontrollentscheidungen.

Grundsätzliches

Die Wettbewerbspolitik ist ein wesentlicher Teil der Wirtschaftspolitik. Sie hat in einer auf Marktwirtschaft beruhenden Wirtschaftsordnung wettbewerbliche Rahmenbedingungen vorzugeben, die gewährleisten, dass der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsakteuren funktioniert und wettbewerbswidriges Verhalten abgestellt und sanktioniert wird. Der bisherige Vollzug der europäischen Wettbewerbsregeln – bestehend aus den Säulen Kartellverbot, Missbrauchsverbot, Fusionskontrolle und Kontrolle staatlicher Beihilfen – hat zu einem fairen Wettbewerbsumfeld („level playing field“) beigetragen und insbesondere EndverbraucherInnen vor schädlichen Wettbewerbspraktiken geschützt. Letztendlich hat dies zur Verbesserung des VerbraucherInnenwohls geführt.

Als Querschnittsmaterie hat die Wettbewerbspolitik – und hier insbesondere die Fusionskontrolle – Einfluss auf andere Politikfelder, wie etwa Industrie- und Regionalpolitik, Beschäftigungs- und Forschungspolitik.

Der Fall Nidec/Embraco

Anschaulich dafür ist der Zusammenschlussfall Nidec/Embraco, über den im Sommer 2019 entschieden wurde. Bei diesem Fall ging es um die Befürchtung der EU-Kommission, dass nach der Übernahme von Embraco durch Nidec die ohnehin starke Marktstellung von Nidec im Bereich Kühlkompressoren für Kühl- oder Gefrierschränke weiter ausgebaut wird. Aus diesem Grund wurde der Zusammenschluss nur unter der Auflage freigegeben, mehrere Nidec-Standorte, unter anderem auch jenen in Fürstenfeld, zu veräußern. Weiters musste sich Nidec verpflichten, den möglichen Käufer bei künftigen Investitionen in Österreich und der Slowakei finanziell zu unterstützen. Vorgesehen war jener Betrag, den Nidec für Standortinvestitionen bereits geplant hatte. Die EU-Kommission war zuversichtlich, dass die Produktionsstätten aufgrund der Auflagenentscheidung abgesichert bleiben. Die abzugebenden Standorte wurden schließlich an das Private-Equity-Unternehmen Orlando mit Sitz in München veräußert. Nur wenige Monate nach dem Kauf beschloss der neue Eigentümer den Standort in Fürstenfeld zu schließen. Damit gehen in einer strukturschwachen Region rund 250 Arbeitsplätze verloren.

Gerade dieser Fall zeigt, dass Fusionskontrollentscheidungen massive Auswirkungen auf Produktionsstandorte und Arbeitsplätze haben können.

Arbeitsplätze in einer globalisierten Wirtschaft sichern

Die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gegenüber den großen Wirtschaftsblöcken USA und China ist für die Erhaltung bzw. für die Neuschaffung von Arbeitsplätzen von eminenter Bedeutung. In der verarbeitenden Industrie arbeiten laut Schätzungen der EU-Kommission 36 Millionen Personen, und jede/r einzelne Beschäftigte in der Industrie „schafft“ mindestens einen zusätzlichen Arbeitsplatz im Dienstleistungssektor. Mehr als die Hälfte der F&E-Investitionen werden von der Industrie getätigt. Diese Zahlen belegen, dass der Wohlstand der BürgerInnen in der EU eng mit einer wettbewerbsfähigen europäischen Industrie verbunden ist.

Die fortschreitende Digitalisierung verstärkt den globalen Wettbewerb, und es verschwimmen zusehends die relevanten geografischen Märkte, welche sich somit innerhalb kürzester Zeit verändern können. Die europäische Fusionskontrolle erscheint unter diesem Blickwinkel zu statisch, weil sie in ihrer Analyse vorwiegend auf den Ist-Zustand fokussiert und den Zusammenschluss vorwiegend unter Wettbewerbsaspekten prüft (Behinderung wirksamen Wettbewerbs im gemeinsamen Markt).

Angesichts der Tatsache, dass die EU-Wettbewerbskommission die ausschließliche Entscheidungsinstanz bei der Genehmigung von Zusammenschlüssen innehat, sollte das EU-Wettbewerbsrecht auch andere Politikbereiche, wie etwa Industrie- oder Arbeitsmarktpolitik, im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle angemessen berücksichtigen (ganzheitlicher Prüfansatz).

In diesem Zusammenhang wird auf die österreichische Regelung im Kartellrecht verwiesen, wonach das Kartellgericht einen Zusammenschluss trotz vorliegender Untersagungsvoraussetzungen (Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung) genehmigen kann, wenn dieser zur Erhaltung oder Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Unternehmen notwendig und volkswirtschaftlich gerechtfertigt ist. Dies ermöglicht auch, Beschäftigungsaspekte in die Entscheidung angemessen miteinzubeziehen.

Ein gleichlautender Rechtfertigungsgrund in der Fusionskontrollverordnung würde insofern Sinn machen, als die EU-Kommission als Kollegialorgan entscheidet und somit etwa industrie- und arbeitsmarktpolitische Aspekte durch die hierfür zuständigen KommissarInnen stärkeres Gewicht bekämen. Letztlich ist es in der Verantwortung der europäischen Wirtschaftspolitik, ein „level playing field“ im Wettbewerb mit den großen Wirtschaftsblöcken USA und China herzustellen.

Wenngleich in die Entscheidungsfindung der Kommission potenzieller Wettbewerb miteinbezogen wird, sollte im Rahmen einer Reform des EU-Wettbewerbsrechts den zukünftigen Wettbewerbsentwicklungen durch Globalisierung und Digitalisierung noch stärker Rechnung getragen werden. Insbesondere sollte bei industriepolitisch bedeutenden Zusammenschlüssen das mittelfristig zu erwartende globale Wettbewerbsumfeld in die Prüfung einfließen. Die Ergänzung der Fusionskontrolle um dieses dynamische Element ist auch im Hinblick auf den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen in der europäischen Industrie notwendig.

Erweiterung der Anmeldungserfordernisse

Derzeit beschränken sich die Informationen, die im Rahmen einer Zusammenschlussanmeldung der Kommission zu übermitteln sind, im Wesentlichen auf Marktstrukturdaten. Informationen zu Auswirkungen des Zusammenschlusses auf Beschäftigung und Standorte sowie auf die strategische Ausrichtung des/r jeweiligen Unternehmen/s werden derzeit nur sehr eingeschränkt verlangt. Bereits jetzt finden sich in zahlreichen gesellschaftsrechtlichen Materien (Übernahmerichtlinie, Betriebsübergangsrichtlinie und im zuletzt ausverhandelten Company-Law-Package) diesbezüglich weitreichende Informationspflichten. Es sollen daher in der Anmeldung zur Zusammenschlusskontrolle die Absichten der fusionswerbenden Unternehmen in Bezug auf Beschäftigung, Standorte und Strategie klar angegeben werden. Sinnvoll erscheinen auch Angaben über die Finanzierung einer Unternehmensübernahme. Nicht selten erfolgt eine Überwälzung der Übernahmekosten auf die Zielgesellschaft mit erheblichen negativen Auswirkungen auf die Beschäftigten.

In den oben angeführten gesellschaftsrechtlichen Materien ist eine institutionelle Einbindung der Belegschaftsvertretung in das jeweilige Verfahren – durch ein von Amts wegen gewährtes umfassendes Informations-, Konsultations- und Stellungnahmerecht – vorgesehen, und BelegschaftsvertreterInnen erhalten die zur Wahrung ihrer Rechte notwendigen Unterlagen (z. B. Übernahmeangebot, Verschmelzungsunterlagen). Eine analoge Regelung wäre auch im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle einzuführen.

Institutionalisierte Verfahrensbeteiligung der Belegschaftsvertretungen und der überbetrieblichen Interessenvertretungen

Des Weiteren bedarf es im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle einer institutionalisierten Verfahrensbeteiligung der BelegschaftsvertreterInnen, wie sie auch in den beschriebenen gesellschaftsrechtlichen Materien vorgesehen ist. Dies erfordert jedenfalls die Übermittlung der Anmeldeunterlagen an die Belegschaftsvertretung und eine amtswegige Einbeziehung in das Verfahren als „interessierte Dritte“. Damit verbunden ist ein Stellungnahme- und Anhörungsrecht. Im Fall einer in Aussicht genommenen Auflagenentscheidung (z. B. Abgabe von Standorten) sollte die Belegschaftsvertretung informiert werden und die Möglichkeit der Stellungnahme erhalten.

Das immer wieder geäußerte Argument, dass Anmeldeinformationen vertraulich seien und Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten, rechtfertigt keineswegs einen Ausschluss der BelegschaftsvertreterInnen vom Informationszugang. ArbeitnehmervertreterInnen erhalten als Betriebsräte oder als Mitglieder in Aufsichtsräten regelmäßig vertrauliche Informationen und müssen sich an Geheimhaltungspflichten halten. Die diesbezüglichen Haftungsbestimmungen sind äußerst streng und würden auch in Zusammenhang mit der Veröffentlichung von etwaigen Anmeldeinformationen zur Anwendung kommen.

Ausblick

Klar ist, dass die Herausforderungen im Hinblick auf eine Reform des Wettbewerbsrechts über das Gesagte hinausgehen werden. Wesentliche Bedeutung wird hierbei auch die Internet-Ökonomie und die Datenkonzentration einnehmen. Eine Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte und ein ganzheitlicher Prüfungsansatz im Rahmen der Fusionskontrolle sollten jedenfalls wichtige Eckpfeiler einer Wettbewerbsreform sein.