Rechtskämpfe um das europäische Asylsystem

11. Oktober 2023

Erneut tobt in der Europäischen Union eine Auseinandersetzung um das Asylrecht. Dabei überbieten sich die EU-Mitgliedstaaten, in denen zuletzt viele rechte Parteien an die Macht gekommen sind, mit anti-migrantischen Positionen. Zur Disposition steht das menschenrechtliche Fundament der EU und die demokratische Handlungsfähigkeit für progressive Akteur:innen. Eine Option gegen diese autoritäre Konstellation bleiben unter anderem Rechtskämpfe von Geflüchteten und Anwält:innen – obschon sich ihre Handlungsmöglichkeiten im Recht verschlechtert haben.

Der Asylkompromiss: Fluchtgründe bei immer mehr Geflüchteten nicht mehr geprüft

Am 8. Juni 2023 haben die EU-Innenminister:innen sich auf eine Position zu den aktuellen Verhandlungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) geeinigt. Dabei wird ein Reformvorhaben der EU-Kommission unterstützt, durch das die Rechtspositionen von ankommenden Asylsuchenden eingeschränkt werden. Laut den Kommissionsplänen sollen Asylsuchende vorrangig an den EU-Außengrenzen festgesetzt werden. Hier droht die Gefahr einer systematischen Inhaftierung, wie sie auf den griechischen Inseln schon heute stattfindet. In neuen, beschleunigten Grenzverfahren wird bei einem großen Teil der Asylsuchenden nicht mehr zuerst geprüft, welche Fluchtgründe sie haben, sondern ob sie über angeblich „sichere Drittstaaten“ in die EU geflohen sind. Wird ein Antrag in den Grenzverfahren als unzulässig beschieden, droht die Abschiebung.

Zugleich hat sich der Rat nicht auf eine verbindliche Verteilung von Schutzsuchenden in der EU einigen können, sondern nur einen ineffektiven „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ beschlossen. Antworten darauf, wie der systematische Bruch von EU-Recht durch Pushbacks, das heißt gewalttätige, völker- und europarechtswidrige Rückführungen im Mittelmeer oder an den Außengrenzen, unterbunden werden soll, sucht man in den Verhandlungen der EU vergebens. Große Teile der Migrationswissenschaft zweifeln daran, dass dieser „Kompromiss“ Antworten auf die realen Fragen der Migration liefert.

Deals mit autokratischen Nachbarn

Das GEAS basiert darauf, dass die EU Abkommen mit autokratischen Regierungen von Drittstaaten schließt. Bereits seit 2016 gibt es den EU-Türkei-Deal, durch den vor allem syrische und afghanische Schutzsuchende davon abgehalten werden, in die EU zu fliehen. Weil zugleich Abschiebungen in die Türkei in der Praxis scheitern, haben sich die griechischen Inseln durch den Deal in „Freiluftgefängnisse“ verwandelt.

Seit Juni dieses Jahres verhandelt die EU intensiv mit Tunesien, einem der Haupttransitländer auf der zentralen Mittelmeerroute. Über 900 Millionen Euro soll das wirtschaftlich krisengeschüttelte Land erhalten und einen Teil davon (rund 100 Millionen) in Grenzschutzmaßnahmen investieren. Im Abkommen hat die EU am Ende darauf verzichtet, menschenrechtliche Mindeststandards aufzunehmen. Zugleich gibt es in Tunesien aktuell eine rasante Erosion der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die der Präsident Kais Saied zu verantworten hat. Die EU manövriert sich in eine außenpolitische Sackgasse, wenn sie solche Entwicklungen für den Preis einer Verantwortungsdelegation in der Migrationspolitik in Kauf nimmt.

Mobilisierung von Rechtskämpfen gegen den Angriff auf Menschenrechte

Neben der GEAS-Reform werden rechtsstaatliche Grundsätze wie das Recht auf ein individuelles Asylverfahren ganz offen im politischen Diskurs infrage gestellt. Politiker:innen von rechten und konservativen Parteien, zum Beispiel CDU und AfD in Deutschland sowie ÖVP und FPÖ in Österreich, haben öffentlich die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention diskreditiert oder offen mit Austritt aus den Rechtsvereinbarungen gedroht. Um diesen Konflikt zu verstehen, muss man sich die Rechtskämpfe um das europäische Asylrecht vergegenwärtigen.

Gegen die Grenzabschottungsversuche der Mitgliedstaaten haben Geflüchtete, Menschenrechtsorganisationen und Anwält:innen in den letzten Jahren immer wieder Rechtskämpfe bestritten. Unter Rechtskämpfen sind gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu verstehen, die im sogenannten juridischen Feld stattfinden, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu genannt hat. Bourdieu zufolge ist das Recht ein „Kampfplatz“, auf dem Akteur:innen in der Logik, Sprache und in den Verfahren des Rechts Interessenkonflikte und Deutungskämpfe um die „gute Ordnung“ austragen. Bei der Übersetzung ins Recht werden nicht alle Aspekte eines gesellschaftlichen Konflikts übertragen. Die Strukturen der Ausbeutung zwischen dem Globalen Norden und Süden werden nicht in individuellen Rechtsverfahren thematisiert. Aber durch die Übersetzung ins Recht kann ein Kampf eine neue Dynamik entfalten: Denn die Regierungen müssen ihr Handeln an den Grund- und Menschenrechten messen lassen, die mitunter als ein (prekäres) Bollwerk gegen ein bloßes Durchregieren fungieren.

Rechtskämpfe vor den europäischen Gerichten

Aus diesem Grund bedienen sich NGOs und Anwält:innen des Mittels der strategischen Prozessführung, damit Gerichte Entscheidungen von grundlegender Bedeutung fällen. Vor dem Sommer der Migration 2015 gelang es, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Leitentscheidungen zu erringen, die Überstellungen aus EU-Staaten nach Griechenland sowie Pushbacks auf hoher See nach Libyen für menschenrechtswidrig erachten. Nach 2015 ist es jedoch schwieriger geworden, progressive Entscheidungen zu erreichen. Der EGMR hat beispielsweise Pushbacks an der Landgrenze zwischen Marokko und Spanien legitimiert und die Festsetzung von Asylsuchenden in der ungarischen Transitzone nicht als Inhaftierung gewertet. Zuletzt gelang es jedoch Kläger:innen, dass der EGMR die Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln (zum Beispiel im abgebrannten Lager Moria) als unmenschliche Behandlung einstuft.

Parallel zu diesen Entwicklungen vor dem EGMR hat der Europäische Gerichtshof (EuGH), der für die Auslegung des Europarechts zuständig ist, die subjektiven Rechte von Asylsuchenden gestärkt. Sie sind laut dem EuGH nicht nur Objekt von innereuropäischen Abschiebungen, sondern können Rechtsbehelfe in Anschlag bringen.

Angriffe auf die europäische Gerichtsbarkeit und Normalisierung des Rechtsbruchs

Erfolgreiche Rechtskämpfe stehen einer rigiden Migrationspolitik mitunter im Weg. Deswegen haben autoritäre Akteur:innen angefangen, die Gerichtsbarkeiten und Rechtskonventionen anzugreifen. Der Druck aus den Nationalstaaten und der Rechtsruck im öffentlichen Diskurs ist bei den Gerichten spürbar. Der EGMR hat nicht im luftleeren Raum menschenrechtliche Grundsatzpositionen aufgegeben.

Von Seiten einiger Nationalstaaten gab es beispielsweise den Ruf, dem EGMR Kompetenzen in Fragen der Migration zu entziehen. Auch mit dem Entzug finanzieller Mittel wurde gedroht. Bei der Wahl für neue Richter:innen am Straßburger Gerichtshof haben Staaten wie Polen zudem versucht, regierungskonforme Jurist:innen zu benennen. Das Menschenrechtssystem hat insgesamt an Akzeptanz verloren, obwohl es das Fundament des Zusammenlebens in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Die aktuelle gesellschaftliche Situation steht vor einem autoritären Kipppunkt, weil nicht nur Angriffe von rechtsaußen auf die Menschenrechte erfolgen. Die Entrechtung von Geflüchteten normalisiert sich zusehends, wie nicht zuletzt die Debatten um das GEAS zeigen.

Wie weit Verstöße gegen Völker- und Europarecht mittlerweile normalisiert sind, lässt sich beispielhaft an der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zeigen. Noch vor zwei Jahren stand diese im Zentrum der Kritik. Ihr konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass sie Pushbacks ermöglicht hatte. Trotz des Fehlens eines europäischen Justizsystems, welches ein Vorgehen gegen die Agentur ermöglicht hätte, konnte durch die Untersuchung der europäischen Anti-Korruptions-Behörde OLAF der Rücktritt des Exekutivdirektors sowie zwei seiner engsten Mitarbeiter erzwungen werden. Dies erschien vor fast zwei Jahren noch wie ein großer Erfolg. Heute ist jedoch klar, dass der Bruch europäischen Rechts an europäischen Grenzen eine Systematik erreicht hat, die nur mit großen Anstrengungen wieder rechtlich eingehegt werden kann.

Neue politische Mehrheiten in Europa: Das Recht nicht den Rechten überlassen

Der Kampf um individuelle und soziale Rechte ist zentral in der Auseinandersetzung mit der extremen und der neuen Rechten in Europa. Überall, wo die Rechte an die Regierung drängt, versucht sie zusehends, die Handlungsspielräume für progressive Rechtskämpfe einzuschränken. Und die Rechten sind erfolgreich dabei, schrittweise das europäische Projekt zu ihren Gunsten umzuarbeiten. Progressive Akteur:innen sollten bei diesem Vorgehen aus Angst vor rechten Wahlumfragen nicht mitmachen. Denn die Erosion des rechtsstaatlichen Fundaments liefert gerade die gesellschaftliche Basis für die Rechten. Stattdessen gilt es rechtsstaatliche Freiheiten mit sozialen Rechten zu verknüpfen, um solidarische Antworten in der aktuellen Krise zu liefern.

Rechtskämpfe und politische Kämpfe bedingen sich wechselseitig und müssen parallel ausgetragen werden. Überlässt man das Recht den Rechten, dann verlieren progressive Akteur:innen insgesamt an demokratischer Handlungsfähigkeit. Klar ist daher: Rechtskämpfe im europäischen Asylsystem sind nicht lediglich Auseinandersetzungen um Migrationspolitik und -praxis. Vielmehr geht es um die demokratische und rechtstaatliche Zukunft des europäischen Projekts.

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