Polen – der nächste Krisenfall für die Europäische Union

19. Januar 2016

Die Entmachtung des Verfassungsgerichtshofs, die Entlassung der polnischen Geheimdienstchefs, die Erstürmung des Nato-Spionageabwehrzentrums durch die Militärpolizei in Warschau und ein neues Mediengesetz, das die Eigenständigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender de facto beendet: Das sind nur einige der Maßnahmen mit denen die neue neo-konservative polnische Regierung in den ersten Wochen ihrer Amtstätigkeit von sich Reden gemacht hat. Die EU-Kommission hat nun ein Verfahren wegen der Sorge um die Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet. Doch hat das Verfahren überhaupt Chancen auf Erfolg?

EU-Parlamentspräsident: Staatsstreichartige Vorgänge in Polen

In weiten Teilen der Europäischen Union herrscht blankes Entsetzen über das Vorgehen der neuen „rechts-konservativen“ polnischen Regierung unter Ministerpräsidentin Beata Szydło. EU-Parlamentspräsident Schulz spricht von staatsstreichartigen Vorgängen, die frühere EU-Kommissarin und jetzige EU-Abgeordnete Viviane Reding von einer „Putin-Orban-Kaczyński“-Logik. Auch die Kommission reagierte sehr besorgt und leitete nun das erste Mal in der Geschichte der Europäischen Union ein Verfahren wegen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung von EU-Grundwerten – konkret der Rechtsstaatlichkeit – ein.

PiS bringt die Geheimdienste unter ihre Kontrolle

Alles begann zwei Tage nach der Angelobung der neuen polnischen Premierministerin Szydło von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS): Im Beisein ihres Masterminds und PiS-Parteichefs Jarosław Kaczyński lud sie die polnischen Geheimdienstchefs des Auslands- und des Inlandsgeheimdienstes zu sich. Nach einer kurzen Unterredung konnten die Leiter der vier Geheimdienstorganisationen davon überzeugt werden „freiwillig“ zurückzutreten. Neuer Herrscher über die Geheimdienste ist nun Mariusz Kamiński (ein Vertrauter Kaczyńskis), der erst im März 2015 wegen Amtsmissbrauchs zu drei Jahren Haft und zehn Jahren Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern verurteilt wurde. Präsident Duda, ebenfalls von der PiS, begnadete ihn jedoch kurzerhand, deshalb kann er nun seine Aufgabe als Koordinator der Geheimdienste im Ministerrang bekleiden. Doch damit nicht genug: In einer Nacht und Nebel-Aktion stürmte die Militärpolizei das NATO-Spionageabwehrzentrum in Warschau. Den dort beschäftigten polnischen BeamtInnen wurde kurzerhand der Zugang zu vertraulichen Dokumenten entzogen, ein Übergangschef installiert.

Verfassungsgerichtshof binnen kürzester Zeit ausgeschaltet

Wie viele Medien bereits berichtet haben, war es eines der ersten Ziele der polnischen Regierung den Verfassungsgerichtshof gleichsam auszuschalten. Entscheidungen am Gerichtshof müssen nach den nun verabschiedeten Gesetzen mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden, wobei 13 der 15 Verfassungsrichter beteiligt sein müssen. Zeitgleich wurden 5 neue Verfassungsrichter ernannt, die der PiS nahe stehen. Zudem ist vorgesehen, dass die einlangenden Fälle chronologisch abgearbeitet werden. Derzeit liegen rund 300 Gerichtsfälle zur Entscheidung beim Verfassungsgerichtshof. Ein Vorziehen dringlicher Fälle ist damit nicht möglich.

Öffentlich-rechtliche Medien auf Regierungslinie getrimmt

Auch die öffentlich-rechtlichen Medien hat die Regierung in einem atemberaubenden Tempo mit einem neuen Mediengesetz unter ihre Kontrolle gebracht. Über die Leitung der öffentlich-rechtlichen Sender entscheidet nun der Minister für Staatsvermögen. Die bisherigen Rundfunkchefs wurden bereits entlassen und durch linientreue VertreterInnen ersetzt. Zwar ist anzumerken, dass es auch in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten öffentlich-rechtliche Medien gibt, auf die die Politik Einfluss übt. In keinem anderen Land wurden jedoch binnen weniger Wochen beinahe handstreichartig derart viele Schlüsselpositionen im öffentlichen Sektor mit parteitreuen Gefolgsleuten besetzt.

Schrankenlose Überwachung dank Reform des Polizeigesetzes

In der Öffentlichkeit wenig bekannt ist zudem die Verabschiedung eines neuen Polizeigesetzes durch die neue polnische Regierung. Das neue Gesetz ermöglicht nun auch eine fast schrankenlose elektronische Überwachung, so auch von AnwältInnen, JournalistInnen und ÄrztInnen. Nur das Beichtgeheimnis und Gespräche mit VerteidigerInnen sind ausgenommen.

Erste Reaktionen auf EU-Ebene

Die Kommission ersucht Polen nun offiziell um Auskunft über die Lage in Bezug auf das Verfassungsgericht und über die Änderung des Gesetzes zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Frans Timmermans, 1. Vizepräsident der EU-Kommission wurde damit beauftragt, mit der polnischen Regierung in einen strukturierten Dialog zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einzutreten. Bereits am Montag stattete Polens Staatspräsident Duda den EU-Institutionen in Brüssel und der NATO einen Besuch ab. Am Dienstag musste sich die polnische Ministerpräsidentin Szydło im Europäischen Parlament in Straßburg heftige Kritik gefallen lassen – die Videoaufzeichnung mit der Aussprache zur Lage in Polen ist auf der Webseite des Europäischen Parlaments abrufbar.

Die stumpfen Instrumente der EU

Die Europäische Union hat nur wenige Möglichkeiten, um diese Entwicklungen in Polen zu stoppen. Das schärfste Mittel hat die Kommission bereits ausgepackt und aus Sorge um die Rechtstaatlichkeit in Polen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet. Sollte es im Rahmen des Dialogs zu keinem Ergebnis kommen, kann der Rat mit den Stimmen von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des EU-Parlaments offiziell feststellen, dass eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit besteht.

Für jegliche schärfere Maßnahmen wie beispielsweise einem Stimmrechtsentzug im Rat, ist eine Einstimmigkeit im Europäischen Rat notwendig. Der ungarische Premierminister Orban hat jedoch bereits klargemacht, dass er hinter den Maßnahmen Polens steht. Schärfere Maßnahmen gegen die polnische Regierung scheinen damit zumindest auf EU-Ebene ausgeschlossen. Das einzige, was die polnischen RegierungsvertreterInnen derzeit beeindrucken dürfte, ist die Entscheidung der S&P Ratingagentur, Polen wegen ihrer neuen Regierungspolitik, die die „Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit wichtiger Institutionen schwächen“, in ihrer Kreditwürdigkeit herabzustufen.

Neue Kommissionspolitik gefragt: Wohlstand statt Verelendung

Die Kommission muss sich nun jedoch auch der Frage stellen, ob die eigene Politik, die sie in den letzten Jahren (und Jahrzehnten) betrieben hat, und fast ausschließlich auf Wirtschaftsinteressen einiger weniger Großkonzerne ausgerichtet war, die richtige war. Statt einer Steigerung des Wohlstands wie es der EU-Vertrag in seinen Zielen vorsieht, ist es in vielen Ländern zu Armut und Verelendung gekommen. Mittlerweile gilt ein Viertel der EU-Bevölkerung als armutsgefährdet. Und nach wie vor sind rund 5,5 Millionen Menschen mehr arbeitslos als vor der Finanzkrise. Und jene, die einen Arbeitsplatz haben, mussten teilweise erhebliche Lohneinbußen hinnehmen. Diese Politik könnte eine wesentliche Ursache dafür sein, dass sich das politische Spektrum in der EU immer weiter nach rechts bewegt. Dass diese Entwicklung rein nationale Ursachen hat, scheint nicht länger haltbar.

Ungarn und Polen als Beispiel für andere rechtsgerichtete Parteien in der EU?

Angesichts der Konsequenzlosigkeit beim Aufbau von autoritären Regimen in der Europäischen Union ist zu befürchten, dass sich andere rechtsextreme Parteien ein Beispiel an Ungarn und Polen nehmen und ähnlich agieren könnten, sobald sie an die Macht kommen. Und vor dem Hintergrund der immer stärker werdenden rechtsextremen bzw. nationalistischen Parteien in der EU ist dieses Szenario durchaus realistisch.

Paradigmenwechsel dringend geboten

Die Europäische Union wird durch diese Entwicklungen als Institution zusehends geschwächt, wenn nicht in ihrem Bestand gefährdet. Wenn es nicht rasch zu einem Paradigmenwechsel von einer wirtschaftsorientieren hin zu einer gesellschaftsorientieren Politik mit den im EU-Vertrag genannten Zielen wie die Förderung des Wohlergehens der Bevölkerung, sozialer Fortschritt und Vollbeschäftigung auf Europäischer Ebene kommt, ist ein Auseinanderfallen der Europäischen Union in der jetzigen Form nicht mehr auszuschließen.