Pflegedokumentation neu denken – eine Chance für die Langzeitpflege

24. Januar 2019

Weniger Dokumentation, Bürokratieabbau, Deregulierung – Begriffe, die vor allem mit der Erstellung des neuen Masterplans Pflege der Bundesregierung häufig fallen. Dadurch soll mehr Zeit für die Pflege geschaffen werden. Reichen diese Bestrebungen aber wirklich aus, um genug Personal zu haben, oder ist es Zeit, die Pflegedokumentation anders zu denken? Dieser Beitrag liefert erste Ideen, wie Pflegedokumentation ein Gewinn für die Bewohner/-innen und die Beschäftigten sein kann.

Es gibt verschiedene Gesetzesvorgaben zur Pflegedokumentation, die Art und der Umfang der Dokumentation liegt aber stets im Bereich der berufsrechtlichen Kompetenzen der Pflege. Was sinnvoll ist zu dokumentieren, aufbauend auf einer bewussten individuellen und auf die noch vorhandenen Stärken der Bewohner/-innen basierenden Pflegeplanung, soll daher jenen Personen übertragen werden, die die Kompetenzen auch haben, den Pflegekräften. Es kann daher nicht, wie häufig propagiert, um Deregulationsvorgaben gehen, sondern es braucht bewusste Initiativen, die es den Pflegekräften ermöglichen, vermehrt auf Sinn und Wirkung der Pflegedokumentation zu schauen. Nachdem die Regierung einen Pflegedialog angekündigt hat, ist die Pflegedokumentation ein Feld, das sich besonders eignet. Bereits vorweg sei gesagt: Eine bloße Reduktion der Pflegedokumentation wird nicht das Wundermittel gegen Personalmangel sein.

Herausforderungen in der Praxis

In der Praxis zeigt sich, dass Beschäftigte in der Langzeitpflege die Pflegedokumentation als wichtiges Instrument schätzen, um sich rechtlich abzusichern, aber vor allem auch um für die Bewohner/-innen bestmögliche Pflege und Betreuung zu gewährleisten.

Beschäftigte beklagen aber auch, dass derzeit viel Zeit für Dokumentation verwendet wird, Schätzungen liegen hier bei bis zu 30 Prozent der Arbeitszeit. Oft ist es der „regulatorische Eifer der behördlichen Qualitätssicherung zur Bürokratisierung und Qualitätssicherung“, der Führungskräfte und Beschäftigte dazu bringt, dass sie sich durch externe Prüforgane in ihrer eigenen Professionalität eingeschränkt fühlen.

Eine aktuelle Studie zur Analyse von Tätigkeiten in der Langzeitpflege bestätigt: Ein enormer Teil der Tagesarbeitszeit wird für Pflegedokumentation verwendet. Der Aufwand variiert hierbei stark zwischen Berufsgruppe und Heim und liegt in der Studie bei 9 Prozent. Erneut betont wird in dieser Studie die Tatsache, dass Tätigkeiten, die „nicht dokumentiert“ wurden, „offiziell nicht durchgeführt“ wurden („Was nicht geschrieben wurde, ist nicht passiert“). Laut interviewten Personen betrifft der gesteigerte administrative Aufwand vor allem die Vertreter/-innen der Berufsgruppen der diplomierten Pflegekräfte, der Bereichsleitungen und der Pflegedienstleitungen. Eine zeitnahe Dokumentation ist aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen oft kaum machbar, obwohl es gesetzlich durch das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG gefordert wäre. Aussagen der Interviewpartner/-innen bestätigen dies: „Würde man nur das dokumentieren, was wichtig ist, wäre es machbar“, „Dokumentation nimmt sehr viel Zeit in Anspruch“. Mehrere Befragte gaben an, die Zeit, die für administrative Tätigkeiten aufgewendet werden müsse, fehle aufgrund der Priorität anderer Aufgaben und Zeitdruck, weswegen nicht selten Überstunden gemacht werden müssten, um der Dokumentationspflicht nachzukommen. „Jede Pflegekraft hat drei Bewohnerinnen bzw. Bewohner zur Dokumentation, das ist sehr zeitraubend, und man macht immer Überstunden.“ Manche Pflegekräfte dokumentieren sogar in ihrer Freizeit, um so viel Zeit wie möglich direkt bei den von ihnen betreuten Menschen verbringen zu können.

Trotz sehr ausgebauter Pflegedokumentation wird nicht immer genau das dokumentiert, was zum Wohle der Bewohner/-innen ist und die eigene Arbeitsqualität verbessert. Eine große Unzufriedenheit mit der Dokumentationspraxis wirkt sich auch auf die Dokumentationslust aus. So sagen laut einer aktuellen Nordcare-Erhebung auch über 13 Prozent der Diplomierten Pflegekräfte (DGKP) im Heim, dass sie nur ungern dokumentieren. Einhelliger Tenor aller aktuellen Studien ist: Die Pflegedokumentation könnte reduziert werden. Zur Notwendigkeit, weniger, aber sinnvoller zu dokumentieren, kommt hinzu, dass es generell zu wenig Zeit und Ressourcen für viele Aufgaben in der Langzeitpflege – so auch für Pflegedokumentation – gibt.

Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Pflegedokumentation

Die Herausforderungen im Themenfeld Pflegedokumentation sind nicht neu. Um die Pflegedokumentation sinnvoll zu gestalten, wurde bereits 2010 ein Projekt in der Gesundheit Österreich GmbH gestartet und mit Experten/-innen aus der Praxis eine Handlungsempfehlung erarbeitet. Es wurde eine Interpretation zur Pflegedokumentation geschaffen und mit den wesentlichen Irrtümern in der Dokumentation aufgeräumt. Die Arbeitshilfe wurde laufend erweitert und liegt seit 2017 für alle pflegerelevanten Versorgungsbereiche in Österreich vor. Sie stellt eine bundesweit und zwischen allen Gesundheits- und Krankenpflegebereichen abgestimmte Empfehlung zur Dokumentation des pflegerischen Kompetenzbereiches dar.

In der Arbeitshilfe werden die Anforderungen bei der Pflegedokumentation und insbesondere die einzelnen Schritte im Pflegeprozess ganz allgemein angeführt. In welchen Situationen hingegen von wem was konkret zu dokumentieren ist, kann durch die Arbeitshilfe nicht definiert werden. Ob und welche Schritte des Pflegeprozesses durchzuführen und zu dokumentieren sind, entscheidet sich zum einen durch die pflegerische Sicht und zum anderen je nach Organisationseinheit und/oder Patient/-in, Bewohner/-in, Klient/-in. Je kürzer die Aufenthaltsdauer und je weniger sich der Krankenhausaufenthalt pflegerisch begründen lässt, umso geringer kann die Anwendung der einzelnen Pflegeprozess-Schritte ausfallen. Wodurch sich schon der erste Irrtum im Zusammenhang mit der Dokumentation des Pflegeprozesses erklären lässt. Die Arbeitshilfe räumt mit bisherigen Irrtümern im Umgang mit der Pflegedokumentation auf.

 

7 Irrtümer der Pflegedokumentation

 
Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog
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1.Es müssen immer alle Schritte des Pflegeprozesses durchgeführt und dokumentiert werden.Schritte des Pflegeprozesses sind nur dann zu dokumentieren, wenn diese in der jeweiligen Organisationseinheit tatsächlich erforderlich sind.
2.Ein Pflegeplan ist dasselbe wie Pflegeplanung.Der Pflegeplan ist das Ergebnis von Pflegeassessment und Pflegeplanung.
3.Ein Pflegeplan erfordert immer Pflegediagnosen, Pflegeziele und Pflegeinterventionen.Der Pflegeplan muss nicht immer Pflegediagnosen und -ziele enthalten.
4.Alles, was nicht dokumentiert ist, ist nicht geschehen.Es sind die wesentlichen pflegerischen Maßnahmen sowie alle Regelwidrigkeiten und Zwischenfälle zu dokumentieren.
5.Bei einer Verletzung der Dokumentationspflicht haftet immer die einzelne diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson.Eine Verletzung der Dokumentationspflicht begründet nicht zwingend eine Haftung.
6.Trotz Expertenstandards/Leitlinien/SOPs muss ausführlich dokumentiert werden.Verweise genügen, aber Abweichungen, Regelwidrigkeiten und Zwischenfälle sind dokumentationspflichtig.
7.Pflegedokumentation ist ident mit der Leistungsdokumentation.Pflegedokumentation orientiert sich am Patientenprozess.

Quelle: Aistleithner, Regina/Rappold, Elisabeth: Pflegeprozess und Dokumentationspflicht in ÖZPR 2/2016, S. 36 eigene Darstellung.

 

Die neue Sicht auf die Pflegedokumentation ist noch nicht überall in der Langzeitpflege angekommen. Es braucht daher konkrete Projekte zur Umsetzung auf Haus- und Trägerebene.

Oberösterreichisches Projekt setzt konkrete Schritte

Die Herausforderungen durch und an die Pflegedokumentation sind bekannt. Um Sicherheit für Bewohner/-innen und Beschäftigte zu schaffen, hat die Arbeiterkammer Oberösterreich – inspiriert durch Ideen aus dem bayerischen Projekt ReduDok – einen oberösterreichischen Träger bei der Weiterentwicklung der Pflegedokumentation begleitet. Gemeinsam mit Führungskräften, Beschäftigten und Vertretern/-innen aller Berufsgruppen wurden Ideen für die Pflegedokumentation entwickelt, in die Pflegedokumentations-Software übergeführt, geschult und mittlerweile in den Echtbetrieb übernommen. Gemeinsam mit dem Pilotträger Sonnenhof Linz wurde die Pflegedokumentation für zwei Heime neu erarbeitet, die Erkenntnisse wurden in die EDV-Lösung übergeführt, alle Beschäftigten geschult und die Dokumentation wurde etappenweise in allen Bereichen eingeführt.

Schritte auf dem Weg zur neuen Pflegedoku © A&W Blog
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Schritte auf dem Weg zur neuen Pflegedoku (2) © A&W Blog
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Erfolgsfaktor breite Beteiligung

Die Besonderheit war, dass alle Berufsgruppen und Hierarchieebenen in die Weiterentwicklung der Pflegedokumentation eingebunden waren. Im Rahmen von moderierten Workshops wurden wesentliche Bestandteile der Pflegedokumentation erarbeitet, die zentralen Ergebnisse in die Software integriert und der neue Zugang zur Pflegedokumentation mit den Aufsichts- und Prüforganen abgestimmt. Als zentrale Erfolgsfaktoren gelten die breite Einbindung der Beschäftigten, Führungskräfte und des Betriebsrates, die umfassende Schulung der Beschäftigten, um die neue Kultur der Pflegedokumentation zu implementieren und vor allem auch das Bekenntnis der Führungskräfte im Haus, dass Beschäftigte ihre Ideen zur Pflegedokumentation einbringen, die dann auch umgesetzt werden. Die neue Form der Pflegedokumentation ist mittlerweile im Einsatz, und die Akteure/-innen sind davon begeistert. Es erfolgte ein Paradigmenwechsel in der Pflegedokumentation, der dadurch erkennbar ist, dass weniger die Defizite abgebildet werden, sondern die Ressourcen, die die Bewohner/-innen noch haben. Verbunden mit diesem Paradigmenwechsel war eine Umstellung auf eine Praxisorientierte Pflegediagnostik (POP), die besser geeignet ist, die Bedarfe der Bewohner/-innen abzubilden. Doppelgleisigkeiten in der Pflegedokumentation wurden abgebaut, und relevante Aspekte werden in der Pflegedokumentation besser abgebildet, ein Gewinn für die Bewohner/-innen und auch für die Beschäftigten. Als Nebeneffekt wird deutlich, dass durch eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema auch die Seitenzahl der Pflegedokumentation stark reduziert werden kann, was letztendlich wieder dazu führt, dass die Dokumentation schneller und einfacher lesbar ist.

Was braucht es konkret?

Das oberösterreichische Modell zeigt, es braucht den Mut, sich auf neue Ideen einzulassen und gewohnte Wege zu verlassen. Letztendlich müssen auch die Ressourcen bereitgestellt werden, die solche Projekte ermöglichen. Zudem braucht es eine Anpassung der Aus- und Weiterbildungskonzepte im Bereich Pflegedokumentation. Die breite Akzeptanz durch die Aufsichtsbehörden zeigt, dass eine Weiterentwicklung durchaus möglich ist, mit einem Gewinn für alle: Bewohner/-innen, Beschäftigte, Führung und Aufsichts- und Kontrollorgane. Letztendlich muss jeder Träger den Prozess neu starten, aufbauend auf den bisherigen Ideen und Projektschritten. Weiterführend braucht es auch Überlegungen, wie Aufsichts- und Kontrollorgane mit der Pflegedokumentation umgehen wollen und welche Anforderungen sie stellen. Die Konzeptgruppe Masterplan Pflege kann daher bei der Erstellung der neuen Strategie daher auf Modelle guter Praxis und konkrete Ideen zurückgreifen, die letztendlich dazu beitragen, würdevolles Altern zu ermöglichen, die Arbeitsqualität zu steigern und auf lange Sicht Pflegeberufe auch attraktiver zu machen. Abschließend soll jedoch noch einmal darauf hingewiesen werden: Bei allen Vorteilen, die die skizzierten neuen Wege in der Pflegedokumentation mit sich bringen, kann allein dadurch die generelle Personalknappheit im Pflegebereich nicht gelöst werden. Hier braucht es eine generelle Veränderung der Rahmenbedingungen und die nötigen Budgets.