Österreich macht in der Integrationspolitik keine Fortschritte

22. April 2021

Integration zu messen ist keine leichte Angelegenheit, aber der Migrant Integration Policy Index (MIPEX) hat es sich zur Aufgabe gemacht, jedenfalls die Politik in diesem Themenfeld zu analysieren. Die Top-fünf-MIPEX-Staaten verfolgen einen umfassenden Integrationsansatz, der gleiche Rechte, Chancen und Sicherheit für Einwanderer und StaatsbürgerInnen garantiert. Österreich hat es nur auf Platz 37 geschafft. Aus guten Gründen.

Der MIPEX: die Integrationspolitik von 52 Staaten im Vergleich

Im Dezember 2020 wurde der aktuelle Migrant Integration Policy Index (MIPEX 2020) veröffentlicht. Das von der Europäischen Kommission geförderte Projekt versteht sich als Informationsquelle für die Bewertung, den Vergleich und die Verbesserung der Integrationspolitik von 52 Staaten. Es enthält Analysen in fünf Kontinenten:

  • alle EU-Mitgliedstaaten (einschließlich Großbritannien),
  • andere europäische Länder (Albanien, Island, Nordmazedonien, Moldawien, Norwegen, Serbien, Schweiz, Russland, Türkei und Ukraine),
  • asiatische Länder (China, Indien, Indonesien, Israel, Japan und Südkorea),
  • nord- und südamerikanische Länder (Kanada, Mexiko, USA, Argentinien, Brasilien, Chile) und
  • Australien und Neuseeland.

Arbeitsmarkt, Bildung, politische Beteiligung: die acht Felder der Integrationspolitik

Dabei wurden politische Indikatoren entwickelt, um Möglichkeiten von MigrantInnen, an der Gesellschaft teilzunehmen, abzubilden.

Acht Politikfelder werden behandelt:

  1. Arbeitsmarktmobilität,
  2. Familienzusammenführung,
  3. langfristige Aufenthaltsberechtigung,
  4. Zugang zur Staatsbürgerschaft,
  5. politische Beteiligung,
  6. Antidiskriminierung,
  7. Bildung und
  8. Gesundheit.

MIPEX misst Maßnahmen, die die Integration fördern. In sozioökonomischer Hinsicht müssen MigrantInnen die gleichen Chancen haben, ein ebenso würdiges, unabhängiges und aktives Leben zu führen, wie der Rest der Bevölkerung. Alle EinwohnerInnen sollen auf der Grundlage der Gleichstellung die gleichen Rechte und Pflichten haben.

Zumindest 77 von 100 Punkten: die Top fünf im MIPEX

Schweden (86 von maximal 100 möglichen Punkten), Finnland (85 Punkte), Portugal (81 Punkte), Kanada (80 Punkte) und Neuseeland (77 Punkte) repräsentieren die Top fünf im MIPEX. Diese Staaten verfolgen einen umfassenden Integrationsansatz. Die Politik in diesen Ländern sieht Eingewanderte als Ihresgleichen, NachbarInnen und potenzielle BürgerInnen.

In Schweden beispielsweise profitieren Nicht-EU-BürgerInnen mit größerer Wahrscheinlichkeit vom gleichberechtigten Zugang zu Bildung und berufsbezogener Ausbildung. Gleichzeitig wird zusätzlich gezielt in Ausbildung und mitgebrachte Fähigkeiten investiert.

Starke Rechte und Institutionen zur Bekämpfung von Diskriminierung

Neben Finnland und anderen europäischen Ländern belegt Schweden auch den ersten Platz im Bereich der Antidiskriminierung. Schwedische Gesetze mit einer starken Gleichbehandlungsbehörde schützen vor ethnischer, rassistischer, religiöser und nationalitätsbedingter Diskriminierung. Opfer profitieren von relativ starken Strafverfolgungsmechanismen, erhalten Informationen über ihre Rechte und können Rechtsstreitigkeiten gegen TäterInnen aller Arten von Diskriminierung eröffnen.

Finnlands integrativer Ansatz zur Demokratie ermutigt wiederum EinwanderInnen, sich an Entscheidungen, die ihr tägliches Leben betreffen, zu beteiligen. Sie genießen ein Wahlrecht auf lokaler Ebene. Der Beirat für ethnische Beziehungen (Etno) dient als nationales Forum für den Dialog von Einwanderern, ethnischen Minderheiten, Behörden, politischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft.

In Neuseeland findet man gute Einbürgerungsvoraussetzungen vor und kann nach kurzer Zeit StaatsbürgerIn werden. Eine doppelte Staatsbürgerschaft ist die Regel.

Integration in Österreich: nur Platz 37 und unter dem EU-Durchschnitt

Österreich hat 46 von maximal 100 möglichen Punkten erreicht und liegt auf dem 37. Platz von 52. Österreichs Integrationspolitik liegt sowohl unter dem EU-Durchschnitt (49 Punkte) als auch unter dem OECD-Durchschnitt (56). Relativ gute Positionen kann Österreich im Bereich der Gesundheit (5. Platz von 52), Bildung (16. Platz) und Arbeitsmarktmobilität (17. Platz) vorweisen.

Allerdings gab es keine Fortschritte gegenüber dem letzten Berichtsjahr 2014, während sich Österreich in den sieben Jahren davor noch verbessert hatte. Positive Entwicklungen gab es damals vor allem durch zielgerichtete Initiativen zur Förderung der Arbeitsmarktintegration. Seitdem stagniert jedoch Österreichs Integrationspolitik.

Personen mit einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung und solche, die aufgrund der Familienzusammenführung in Österreich leben, haben zwar den gleichen Zugang zu Beschäftigung wie Staatsangehörige, für den Zugang zum öffentlichen Sektor und zur Selbstständigkeit gibt es jedoch Einschränkungen. EinwanderInnen profitieren weiterhin von allgemeiner und gezielter Unterstützung, haben jedoch nicht die gleichen Chancen für Bildungs-, Ausbildungs- oder Universitätsstipendien.

„Temporäre Integration“ oder das Leben in Unsicherheit

Österreichs Integrationsansatz wird von MIPEX als „temporäre Integration“ eingestuft. Dies bedeutet, dass Nicht-EU-BürgerInnen Grundrechte und Chancengleichheit genießen, aber nicht die langfristige Sicherheit haben, sich dauerhaft niederzulassen. Bei der Familienzusammenführung, dem Zugang zur Staatsbürgerschaft und der politischen Partizipation gibt es große Hindernisse.

Bei der Einbürgerung liegt Österreich mit Bulgarien punktegleich (13) auf dem letzten Platz. Ein Grund dafür ist das Erfordernis einer sehr langen Aufenthaltsdauer: In Österreich ist eine Einbürgerung in der Regel erst nach zehn Jahren möglich. Nur in Ausnahmefällen kann der Antrag nach sechs Jahren gestellt werden. In 23 MIPEX-Staaten sind fünf Jahre üblich. In der Hälfte der Staaten besteht unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf die Staatsbürgerschaft für im Land geborene oder ausgebildete Kinder – diese Rechte haben Kinder in Österreich nicht.

Kinderrechte: über 200.000 in Österreich Geborene sind ohne Staatsbürgerschaft

SOS Mitmensch fordert in diesem Zusammenhang aktuell, dass in Österreich geborene Kinder automatisch die Staatsbürgerschaft bekommen sollten, wenn ein Elternteil vor der Geburt sechs Jahre legal im Land gelebt hat. Mit einer solchen Regelung würde Österreich an Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Luxemburg oder Portugal anschließen. Laut SOS Mitmensch sind mehr als 220.000 (!) Menschen in Österreich geboren, ohne bislang die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten zu haben. Mehr als 80.000 weitere Menschen leben bereits, seit sie ein Kleinkind sind, in Österreich, aber sind bisher ebenfalls von der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen geblieben.

Zudem gibt es hohe Anforderungen bei den Sprachkenntnissen (B1) und beim notwendigen Einkommen. So muss man dauerhaft über ein Einkommen verfügen, das über dem Ausgleichszulagenrichtsatz liegt. Keinesfalls darf man die Mindestsicherung beziehen. Das niedrige Haushaltseinkommen von MigrantInnen hindert daher einen beträchtlichen Teil der Drittstaatsangehörigen am Erwerb der Staatsbürgerschaft. Frauen sind dabei noch einmal stärker benachteiligt: Ihre regelmäßigen Einkommen sind trotz Vollzeitbeschäftigung dermaßen niedrig, dass sie de facto von der Möglichkeit der Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind. Ein niedriges Einkommen führt also zum Ausschluss von demokratischen Rechten.

Kein (kommunales) Wahlrecht für ausländische StaatsbürgerInnen

Anfang 2020 konnte jeder bzw. jede dritte WienerIn ab 16 Jahren aufgrund von fremder Staatsangehörigkeit nicht an Gemeinderats-, Landtags- und Nationalratswahlen teilnehmen (30,1 Prozent; Integrations- und Diversitätsmonitor Wien 2020). National betrifft das rund eine Million Menschen oder 15 Prozent der möglichen WählerInnen. Der Großteil davon lebt bereits länger als fünf Jahre in Österreich.

In sieben EU-Staaten (Dänemark, Finnland, Irland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden) besitzt man als Nicht-EU-BürgerIn ein aktives und passives Wahlrecht bei lokalen Wahlen. In Chile und Neuseeland besteht sogar ein Wahlrecht auf nationaler Ebene.

Ein zumindest kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige ist auch unter der aktuellen grün-schwarz/türkisen Bundesregierung politisch nicht zu erwarten. Wien hatte bereits 2003 dieses Recht auf Bezirksebene beschlossen, es wurde aber vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben. Dieser hatte den Passus aus der Verfassung „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus“ (Art. 1 Bundes-Verfassungsgesetz) so interpretiert, dass der Begriff des Volkes an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist und daher nur österreichische StaatsbürgerInnen wählen dürfen.

Wien – mein Hafen, mein Zuhause?

Hamburg startete bereits in den 2010er-Jahren eine Initiative unter dem Motto „Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause“, um diejenigen, die schon seit vielen Jahren in Hamburg leben, von der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft zu überzeugen und damit alle Möglichkeiten der Teilhabe zu erhalten.

Die aktuelle Wiener Landesregierung möchte ebenfalls mit einer Einbürgerungskampagne auf die Vorteile der österreichischen Staatsbürgerschaft aufmerksam machen und alle Wienerinnen und Wiener ermutigen, StaatsbürgerInnen zu werden (Regierungsprogramm 2020). Angesichts der restriktiven Staatsbürgerschaftsbestimmungen wird sich der Erfolg jedoch in Grenzen halten.

Die österreichische Staatsbürgerschaft ermöglicht MigrantInnen die politische und gesellschaftliche Teilhabe und ist damit ein demokratieförderndes wie integrationsstiftendes Element. Die Erfordernisse für die Erlangung müssten den gegebenen Umständen angepasst werden, indem die Einkommensgrenzen gesenkt und die Aufenthaltsdauer verkürzt wird. Kinder sollten nach der Geburt automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten.

Spannend wäre eine neue gesetzliche Initiative, mit der AusländerInnen, die beispielsweise bereits mehr als zehn Jahre in Österreich leben, durch eine Erklärung die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben könnten. Österreich hatte bereits einmal im Jahr 1954 so ein Gesetz erlassen und in der Folge mehrere zehntausend Personen eingebürgert. Notwendige Voraussetzung war, dass man bejahend zur Republik Österreich eingestellt war und die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit nicht gefährdete.

Zum Nachschauen: Video presenting the Top-10-MIPEX-2020-Länder
MIPEX Top10 at a glance – YouTube