Schuld und Sühne: Menschenrechtliche Bedenken gegen eine Wirtschaftspolitik der Härte

18. Mai 2018

Ungewöhnlich deutlich äußerte sich Kardinal Christoph Schönborn im März zu Fragen der Wirtschaftspolitik. Staatsschulden seien von moralischem Übel, da sie „die soziale Leistungsfähigkeit des Staates“ einschränken und „unsere Kinder und die nächsten Generationen“ zu viel kosten würden. Einsparungen, mit denen Neuverschuldung verhindert und Budgetkonsolidierung erreicht werden soll, haben indes weniger zum Abbau von Schuld(en) beigetragen, sondern soziales Leid und humanitäre Krisen mitten in Europa ausgelöst und eine Reihe von Rechtsverletzungen nach sich gezogen. Dass und inwiefern Austeritätsmaßnahmen Eingriffe in Grund- und Menschenrechte darstellen, soll im folgenden Beitrag umrissen werden.

Wirtschaftspolitik schafft austeritäre Verhältnisse

Das Nulldefizit wird also von manch einem schon als eine religiöse Notwendigkeit gesehen. Es sei solidarisch und gerecht und „wenn wir alle zusammenhalten, dann wird die Last der Opfer gerecht verteilt sein“. „Catholic Guilt“ legitimiert nun also auch die österreichische Wirtschafts- und Budgetpolitik. Damit lässt sich Zukunft auch tatsächlich gestalten. Dafür bräuchte es allerdings einen Abbau gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte sowie Investitionen in öffentliche Infrastruktur, soziale Dienstleistungen, in Bildung und Chancengleichheit.

Eine Wirtschafts- und Budgetpolitik, die vorrangig auf Sparen setzt, kann sich dies aber nicht leisten. Ausschließlich ausgabenseitige Konsolidierungsmaßnahmen des Staatshaushaltes in Krisenzeiten funktionieren in der Eurozone schon theoretisch nicht, es gibt auch einen empirisch bestätigten Zusammenhang zwischen Austeritätsmaßnahmen und negativer wirtschaftlicher Entwicklung: Jene Länder, welche die umfangreichsten Budgetkonsolidierungsmaßnahmen durchsetzten, erlitten die größten Wachstumsverluste, wie Philipp Heimberger dargestellt hat.

Austerität lässt die Wirtschaft schrumpfen

Erhebungen von Eurostat zufolge ist die griechische Wirtschaft seit 2009 etwa um knapp 30 Prozent geschrumpft, die rezessive Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts hält an und die Staatsschulden sind von 129 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 2009 auf 177 Prozent 2015 gestiegen. Infolge der Kürzungen von Gesundheits- und Sozialleistungen, die von dem UN-Sozialausschuss und dem Europäischen Sozialausschuss vielfach als Grund- und Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurden, verarmen breite Teile der Bevölkerung nicht nur, auch Unterernährung und Abwanderung sind zu beobachten – Suizid-, Säuglings- und Kindersterblichkeitsraten in den betroffenen Ländern – Griechenland, Irland, Portugal, Rumänien, Spanien, Zypern und Italien – waren und sind teilweise noch immer im Steigen begriffen: Austerität tötet.

Dies verweist auf ein größeres Problem: die neoliberale Struktur der gegenwärtigen Krise. Die (Re‑)Finanzierungsprobleme einiger Mitgliedstaaten der EU wurden als Gelegenheit wahrgenommen, massiv in deren Haushaltsautonomie einzugreifen, um „Disziplin“ festzuschreiben und den Willen zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu demonstrieren. In diesem Vorgehen, das neoliberalen Dogmen folgt und die Zunahme sozialer Ungleichheit bewusst in Kauf nimmt, steckt ein beträchtliches Maß an ökonomischer Ignoranz und politischer Täuschung: Soziale Ungleichheit, eine Konsequenz der austeritären Haushaltskonsolidierung, diene dem Fortschritt der Gesellschaft und all ihren Mitgliedern – und so angeblich auch den Ärmsten.

Recht der Austerität

All dies findet eine Entsprechung im internationalen und europäischen Recht. Allerdings wurden Unionsrechtsnormen teilweise auch umgangen, um austeritäre Politik umzusetzen. Die Europäische Kommission hat im Rahmen des Unionsrechts weitreichende Rechte zur Überwachung der Haushalte. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde trotz seiner Bedeutung für die Eurozone aber außerhalb der Unionsgrundlagen durch den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) begründet. Er ist die Grundlage für die wirtschaftspolitischen Maßnahmen entlang der austeritären Richtschnur.

Mit sogenannten Memoranda of Understanding werden die makroökonomischen Fiskal- und Strukturvorstellungen der Kooperation aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, der sogenannten Troika, umgesetzt. Der Auszahlung von Krediten an Mitgliedstaaten gehen Verhandlungen mit der Troika voran, in denen Zeitpläne und Konditionen detailliert festgelegt werden. Die sogenannte Schuldenbremse, die sich schon seit 2009 im deutschen Grundgesetz und einigen Landesverfassungen findet und auch in Österreich einfachgesetzlich beschlossen wurde, ist wiederum Teil nationaler Gesetze. Hinzu kommen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die die Konstrukte der Austeritätsarchitekt_innen auf ihre Vereinbarkeit mit den europarechtlichen Grundlagen prüfen.

Zwei Fragen an den Europäischen Gerichtshof

In der Rechtssache „Pringle“ hat sich der EuGH bedauerlicherweise überzeugen lassen, den ESM-Vertrag und damit die Basis von Austeritätsmaßnahmen, die in den Schutzbereich von Grund- und Menschenrechten eingreifen, für rechtens zu erklären. Thomas Pringle, ein irischer Parlamentsabgeordneter, sah im ESM-Vertrag eine fundamentale Verletzung der grundlegenden EU-Verträge. Er brachte in Irland Klage dagegen ein. Der irische Supreme Court legte schlussendlich dem EuGH zwei Rechtsfragen zur Vereinbarkeit des ESM mit dem Unionsrecht vor.

Um den ESM überhaupt zu begründen, war zunächst eine Änderung der europäischen Primärverträge notwendig. Eine neu geschaffene Regelung erlaubte es den einzelnen Mitgliedstaaten nun ausdrücklich nicht unionsrechtlich, aber durch völkerrechtliche Verträge, einen Stabilitätsmechanismus einzuführen.

Genau diese Regelung wurde mit dem ESMV genutzt. Obwohl der Vertrag dezidiert nur zwischen einzelnen Staaten geschlossen wurde, kamen einigen europäischen Institutionen weitreichende Aufgaben und Befugnisse durch den ESM-Vertrag zu.

Dem EuGH oblag schließlich die Prüfung, inwieweit die von den Regierungschef_innen geschaffene Rechtsgrundlage die Kompetenzen der Europäischen Union in unzulässiger Weise erweitere und ob der ESMV grundsätzlich kompatibel mit dem Unionsrecht sei. Denn die Union muss ihr zugewiesene Materien in ihren eigenen Rechtsformen und Verfahren regeln und nicht durch Verträge zwischen Einzelstaaten. Der Gerichtshof wagte einen interpretatorischen Spagat: Der ESM stehe legitimerweise außerhalb des Unionsrechts, auch wenn er massive interne Verflechtungen zum Primärrecht aufweise, die Währungs- und Wirtschaftspolitik der Europäischen Union beeinflusse und die Europäische Kommission und Europäische Zentralbank weitreichende Kompetenzen erhalten.

Demokratiepolitische Defizite

Die völkerrechtliche Vorgehensweise der Staaten treibt auch demokratiepolitisch seltsame Blüten, da die Ergänzung des Primärrechts, die den ESM-Vertrag erst ermöglichte, im sogenannten „vereinfachten Änderungsverfahren“ erfolgt. Damit wurde nicht nur die formale Ratifikation durch die nationalen Parlamente umgangen, sondern auch deren erweiterten Befugnisse. So wurde kein europäischer Konvent mit den jeweiligen nationalen Parlamentarier_innen einberufen.

Auch Besonderheiten bei den nationalen Ratifikationsprozessen – in manchen Staaten hätte eine ordentliche Vertragsänderung wohl eine Volksabstimmung bedeutet – „ersparten“ sich die Architekt_innen der Austeritätspolitik. Während die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank durch den ESM-Vertrag entscheidende Kompetenzen bei den Verhandlungen der Sparmaßnahmen erhalten, wird das Europäische Parlament, die einzige europäische Institution mit direkt gewählten Mandatar_innen, im Vertrag praktisch ignoriert. Die Entscheidungsfindung im ESM selbst bestimmt sich nach den Finanzkontributionen der Vertragsstaaten, womit die vier größten Euro-Staaten ein De-facto-Vetorecht besitzen.

Recht gegen Austerität

In der neueren Entscheidung in der Rechtssache „Ledra Advertising“ eröffnet der EuGH Personen, die behaupten, von Austeritätsmaßnahmen – jeweils durchgesetzt mit Memoranda of Understanding – in ihren Grund- und Menschenrechten beeinträchtigt zu sein, eine neue Möglichkeit. Sie dürfen ausdrücklich die an den Verhandlungen beteiligten „Institutionen“ – im konkreten Fall waren dies Europäische Kommission und Europäische Zentralbank – klagen.

Diese Möglichkeit ist allerdings abstrakt-theoretisch, da die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung sehr hoch angesetzt sind. Zudem wird die Abwägung von grund- und menschenrechtlichen Positionen Einzelner mit dem europäischen Gut „Finanz- und Währungsstabilität“ wohl in der Regel zugunsten Letzterer ausfallen.

Dennoch: Unionsbürger_innen, die durch Austeritätsmaßnahmen in fundamentalen Rechten auf Berufsfreiheit, Tarifautonomie, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, Gesundheit, Wohnen und soziale Sicherheit, Eigentum, auf ein faires Verfahren und eine gute Verwaltung betroffen sind, haben nun „legal standing“.

Die Verletzung von Grund- und Menschenrechten kann nicht mehr nur vor europäischen und internationalen Ausschüssen (die unverbindliche Empfehlungen formulieren), sondern auch vor den europäischen Gerichten geltend gemacht werden. Sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Krisenbewältigung sind, wie Andreas Fischer-Lescano ausgeführt hat, nur dann zulässig, legitim und gerechtfertigt, wenn sie in der internationalen und europäischen Rechtsordnung Deckung finden, an welcher sie sich auch messen lassen müssen. Auch Austerität ist justiziabel.

Bei dem vorliegenden Blogbeitrag handelt es sich um eine stark gekürzte und in Teilen weiterentwickelte Version von Christian Berger und Paul Hahnenkamp, Austerität – Macht – Ungleichheit im Spiegel der jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, in: politix 41, 2017, S. 38–43.