Medikamentenbewilligung: Kostenfaktor darf nicht zu Mehr-Klassen-Medizin führen

18. Juni 2019

Versicherte haben in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich Anspruch auf die in ihrem Fall notwendigen Heilmittel. Wenn eine Bewilligung durch die Krankenversicherung notwendig ist, wird jedoch auch ökonomischen Kriterien Beachtung geschenkt. Dies lässt befürchten, dass eine finanzielle Aushöhlung der Krankenversicherung – wie sie leider im Zuge des Umbaus der Sozialversicherungen von der letzten Regierung vorgenommen wurde – auch dazu führt, dass in Zukunft nur mehr weniger oder günstigere Medikamente bewilligt werden können.

Anspruch auf Medikamente in der gesetzlichen Krankenversicherung

Bei Krankheit besteht für gesetzlich Versicherte grundsätzlich ein Anspruch auf eine Krankenbehandlung. Diese schließt nach der gesetzlichen Regelung auch einen Anspruch auf Heilmittel ein. Nach der Rechtsprechung sind Heilmittel alle Mittel, die zur Beseitigung oder Linderung einer Krankheit oder zur Sicherung des Heilerfolges dienen.

Der Umfang der Krankenbehandlung – und somit auch der Medikamente –, auf die Anspruch besteht, ist jedoch gesetzlich eingegrenzt. So muss diese „ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ (§§ 133 ASVG, 90 GSVG). Einen Anspruch auf die beste Behandlung oder auch die besten Medikamente haben Betroffene daher nicht, sondern nur auf das im konkreten Fall notwendige Heilmittel. Die Frage, ob eine Person Anspruch auf ein bestimmtes Medikament hat, kann immer nur im Einzelfall gelöst werden.

Der Erstattungskodex (EKO)

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger gibt den sogenannten Erstattungskodex (EKO) heraus, in dem die Arzneimittel angeführt sind, die auf Rechnung der Krankenversicherung abgegeben werden. Wird eines dieser Medikamente verschrieben, ist vom bzw. von der Versicherten nur die Rezeptgebühr zu bezahlen.

Im EKO sind die Medikamente in drei Boxen aufgeteilt. In die grüne Box fallen frei verschreibbare Medikamente. In die gelbe für bestimmte Anwendungsgebiete verschreibbare Heilmittel, wobei dieser Bereich wiederum – je nach notwendiger Bewilligung – in Hell- und Dunkelgelb unterteilt ist. In die rote Box fallen schließlich die Medikamente, bei welchen gerade ein Antrag auf Aufnahme in den EKO anhängig ist.

Boxensystem des Erstattungskodex © A&W Blog
© A&W Blog

Um in den EKO aufgenommen zu werden, müssen sowohl die medizinische Wirkung nachgewiesen werden als auch gesundheitsökonomische Voraussetzungen erfüllt werden. Medikamente, die nicht im EKO gelistet sind, können ebenfalls von der Krankenversicherung genehmigt werden, wenn dies medizinisch notwendig ist und es keine Alternativbehandlung gibt.

Bei den Medikamenten, für welche eine Vorabbewilligung notwendig ist, entscheidet der chef- und kontrollärztliche Bewilligungsdienst. Dies erfolgt regelmäßig über das elektronische Arznei-Bewilligungs-Service (ABS). Der behandelnde Arzt oder die Ärztin verordnet das Medikament und beantragt die Bewilligung elektronisch. Der chefärztliche Dienst der Krankenversicherung kann dies dann bewilligen, mit Änderungen bewilligen oder mit Begründung ablehnen.

Obwohl das System mittlerweile elektronisch funktioniert, ist damit ein großer Zeitaufwand verbunden. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer betrug pro Verordnung laut Hauptverband im Jahr 2017 durchschnittlich unter sechs Minuten. Wenn man aber bedenkt, dass in Wien 664.436 Verordnungen im Jahr 2016 notwendig waren (siehe Tabelle unten), dauert es rund 66.444 Stunden. Dies führt zu massivem Zeitverlust für die Ärztinnen und Ärzte und zu unnötigen Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten. Die ChefärztInnen der Krankenversicherungsträger verbringen als hochqualifizierte Medizinerinnen und Mediziner ebenfalls viel unnötige Zeit mit dem Abnicken von Anträgen.

Wirtschaftlichkeit als relevanter Faktor bei der Bewilligung von Heilmitteln

Mit dem Kriterium „das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Leistungen“ fließen wirtschaftliche Aspekte in die Heilmittelbewilligung ein. Dieser Kostenaspekt findet sich auch im EKO und in weiterer Folge noch stärker im Zusammenhang mit der Bewilligung von Medikamenten (z. B. Richtlinien der ökonomischen Verschreibweise). Es soll grundsätzlich das Medikament gewählt werden, das unter den wirksamen Heilmitteln das kostengünstigste ist. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs (OGH) wird aber das Maß des Notwendigen auch schon dann überschritten, wenn ein Heilmittel nur einen geringen medizinischen Vorteil bringt, aber deutlich höhere Kosten verursacht.

Dadurch wird aber im Endeffekt der Kostenaspekt prioritär behandelt und ist nicht, wie ursprünglich vorgesehen, bloß nachrangig zu beachten, wenn tatsächlich mehrere gleichrangige Maßnahmen zur Auswahl stehen.

Durch die Einbeziehung der ökonomischen Kriterien besteht die Gefahr, dass finanzschwache Krankenkassen unter Umständen weniger teure Medikamente bewilligen bzw. strenger sind bei der Beurteilung der Frage, ob ein geringer Vorteil deutlich höhere Kosten rechtfertigt. Dies führt wiederum zu Unsicherheiten bei den Versicherten. Das wird auch durch Zahlen aus einer Anfragebeantwortung des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2017 sichtbar. Die in der nachfolgenden Tabelle angeführten Daten beziehen sich auf das Jahr 2016.

Versicherte und Heilmittelverordnungen der Krankenversicherungsträger 2016

Krankenversicherungs-trägerVersicherte Verordnungen gesamtAblehnungsquoteGewichtete Ablehnungsquote
BGKK210.75285.5377,52 %3,05 %
KGKK435.378173.5093,61 %1,44 %
NÖGKK1.213.492613.4488,81 %4,45 %
OÖGKK1.233.328152.5339,79 %1,21 %
SGKK461.230157.0874,96 %1,69 %
SVB357.000184.8566,60 %3,42 %
SVA795.870279.1249,31 %3,27 %
StGKK954.408362.7135,28 %2,01 %
TGKK585.757258.0148,95 %3,94 %
VAEB220.723156.7227,54 %5,35 %
BVA803.113339.6813,79 %1,60 %
VGKK324.47165.3453,97 %0,80 %
WGKK1.686.539664.43611,39 %4,49 %

Quelle: Parlamentarische Anfragebeantwortung von BM Rendi-Wagner vom 13.09.2017, eigene Berechnungen

In dieser Tabelle sieht man in der ersten Spalte die Krankenversicherungsträger und in der zweiten die Anzahl der Versicherten. Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) ist beispielsweise für 1,7 Millionen von insgesamt rund 9 Millionen Versicherten zuständig. In der dritten Spalte ist die Gesamtanzahl an zur Bewilligung beantragten Verordnungen im Jahr 2016 je Krankenversicherungsträger ausgewiesen. Dabei sind Ablehnungen, Bewilligungen und Bewilligungen mit Änderungen inkludiert, nicht aber bewilligungsfreie oder kassenfreie Medikamente. Unter dem Stichwort „Ablehnungsquote“ findet sich die Prozentzahl an abgelehnten Verordnungen von der Gesamtsumme. In Wien ist dieser Prozentsatz mit 11,39 % am höchsten. Es ist auch zu beachten, dass die Ablehnungen nicht unbedingt endgültig sind, sondern beispielsweise nach einer Ergänzung des Antrags dann zum Teil bewilligt werden.

Um systemische Unterschiede miteinzubeziehen, wurde in der fünften Spalte – als Ergänzung zu den in der parlamentarischen Anfragebeantwortung angegebenen Daten – eine Gewichtung der Ablehnungsquote vorgenommen. Die Gewichtung erfolgte anhand der Anzahl an Gesamtverordnungen im Verhältnis zu den Versicherten – also ob im Verhältnis zur Anzahl der Versicherten überhaupt viele Bewilligungen notwendig sind. So müssen beispielsweise in Oberösterreich viel weniger Medikamente bewilligt werden. Es gibt somit insgesamt weniger Anträge auf Heilmittelbewilligungen. Von dieser geringen Anzahl an Anträgen werden zwar 9,79 % negativ entschieden. In der gewichteten Ablehnungsquote schneidet Oberösterreich jedoch vergleichsweise gut ab, da schon grundsätzlich viel weniger Bewilligungen notwendig sind als in den anderen Bundesländern.

Aus diesen Zahlen geht hervor, dass die WGKK als eine der Krankenkassen mit der schlechtesten Risikostruktur eine deutlich höhere Ablehnungsquote – auch nach Gewichtung – vorzuweisen hat als beispielsweise die SGKK. Eine schlechte Risikostruktur liegt unter anderem aufgrund des Großstadtfaktors vor – in Wien leben mehr Arbeitslose und MindestsicherungsbezieherInnen als in den anderen Bundesländern, und diese sind in der WGKK versichert. Im Gegensatz zu den Gebietskrankenkassen haben beispielsweise die Krankenkassen der Bundesbediensteten und der Selbstständigen – die BVA und die SVA – eine deutlich bessere Risikostruktur, weil die Versicherten in der Regel erwerbstätig sind und daher auch (höhere) Beiträge aus ihrem Einkommen bezahlen. Es wäre daher wünschenswert, wenn es einen fairen Ausgleich zwischen den Trägern gäbe, damit es zu keiner Mehr-Klassen-Medizin kommt. Ob jemand ein Medikament erhält, das sie bzw. er benötigt, sollte keinesfalls davon abhängen, bei welcher Kasse sie bzw. er versichert ist und ob diese genügend Geld zur Verfügung hat.

Fazit

Das aktuelle Bewilligungssystem für Medikamente ist insgesamt kritisch zu sehen. Der oft unnötige Zeitaufwand, der aufgrund der Vorabbewilligungen entsteht, könnte durch eine Vereinfachung des Systems zumindest zum Teil beseitigt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das oberösterreichische System, bei welchem der Großteil der Verschreibungen aufgrund einer Zielvereinbarung nur stichprobenartig von der Krankenkasse im Nachhinein kontrolliert wird.

Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, die chefärztliche Genehmigung – zumindest bei manchen Medikamenten – durch eine automatisierte Bewilligung zu ersetzen. Denkbar wäre ein Algorithmus zur automatisierten Überprüfung der Anzahl der verschriebenen Packungen oder anderer ähnlicher Kriterien. Die handelnden Personen hätten dann praktisch mehr Zeit für die Behandlung und Betreuung der Patientinnen und Patienten.

Jedenfalls sollte klar sein, dass die Beachtung ökonomischer Faktoren nicht dazu führen darf, dass je nach Finanzlage des Krankenversicherungsträgers mehr oder weniger Medikamente bewilligt werden. Es soll für die Versicherten nicht der Anschein entstehen, dass es nicht mehr vorrangig darauf ankommt, welche medizinischen Wirkungen ein Medikament im Einzelfall hat, sondern ob sich die Kasse ein solch teures Medikament noch leisten kann. Wenn man nun den massiven Mittelentzug im Zusammenhang mit dem Umbau der Sozialversicherungen beachtet, ist zu befürchten, dass die Krankenversicherungen – insbesondere die allgemeine Krankenversicherung, die künftige Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) – in Zukunft in Finanzierungsnot geraten werden und sich dieses Thema dadurch weiter zuspitzt. Es gilt auf jeden Fall, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Versicherungsträgern zu minimieren und nicht noch auszuweiten, damit es zu keiner Mehr-Klassen-Medizin kommt. Das im Wesentlichen hervorragend funktionierende Gesundheitswesen darf nicht ausgehöhlt werden, sondern es muss sichergestellt werden, dass alle Versicherten Zugang zu den ihnen zustehenden Leistungen haben.