Vom „absoluten“ Kabinenschlafverbot für Lkw-FahrerInnen und anderen Märchen

08. Januar 2019

Am 3. Dezember 2018 tagte der Rat für Verkehr, Telekommunikation und Energie in Brüssel zum Mobilitätspaket I. Unter österreichischem EU-Ratsvorsitz haben die EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Standpunkt zu dieser zentralen Reform im Straßenverkehrssektor beschlossen. Verkehrsminister Norbert Hofer sprach von einer „deutlichen Verbesserung der Lebens- und Sozialbedingungen von 2 Millionen Kraftfahrern“. Ein Faktencheck am Beispiel eines ungarischen Kraftfahrers widerlegt diese Aussage – und zeigt die fatalen Auswirkungen der Liberalisierung auf die österreichische Transportwirtschaft auf.

Nomadentum auf Europas Straßen

Wochenlange Autobahnfahrten, Übernachtungen in der Fahrerkabine, Freizeit am Parkplatz: KraftfahrerInnen im internationalen Verkehr verbringen den Großteil ihrer Zeit in und um ihre Fahrzeuge und kommen nur selten nach Hause. Hinzu kommt die mittlerweile fast ausschließliche Inanspruchnahme von KraftfahrerInnen aus Niedriglohnländern wie etwa Ungarn, Bulgarien oder Rumänien. Das hat nicht nur massive Ausbeutung der osteuropäischen ArbeitnehmerInnen zur Folge, sondern führt auch zu Arbeitsplatzverlusten in der heimischen Transportwirtschaft. Um diesen Missständen entgegenzuwirken und einen Kompromiss mit jenen zu schließen, die nach Liberalisierung rufen, wurde im EU-Verkehrsministerrat über das Mobilitätspaket I abgestimmt. Dieses sieht Änderungen der Vorschriften in fünf Verordnungen und sieben Richtlinien vor und beinhaltet etwa Bestimmungen über die Arbeitsbedingungen von KraftfahrerInnen, die Entsendung von FahrerInnen im internationalen Straßenverkehr oder den Marktzugang im Güterkraftverkehr. Die Abstimmung durch das Europäische Parlament ist noch ausständig und soll im Jänner 2019 erfolgen.

Doch kein Kabinenschlafverbot

Eine Pressekonferenz des Rates, die im Anschluss an die Beschlussfassung stattfand, sorgte für anfängliche Verwirrung. Man habe sich auf ein absolutes Kabinenschlafverbot in der gesamten Europäischen Union geeinigt, harmonisierend und ohne Ausnahme. Leider stimmt das nur bedingt. Zutreffend ist das absolute Kabinenschlafverbot für lange Ruhezeiten ab 45 Stunden, die man sich als „Wochenende“ der BerufskraftfahrerInnen vorstellen kann. Dies war allerdings schon bisher die geltende Rechtslage – wie auch der EuGH Ende 2017 feststellte – und somit keine Neuerung. Was die täglichen Ruhezeiten betrifft, so ist die Übernachtung in der Fahrerkabine weiterhin möglich und mangels ausreichender anderweitiger Schlaf- und Parkmöglichkeiten die erste Wahl. Vom „Ende des Nomadentums und der Abschaffung der Missstände auf den überfüllten Parkplätzen“ sind wir daher nach wie vor noch viele Fahrstunden entfernt.

Heimkehr alle vier Wochen?

Neu festgelegt wurde die Pflicht für Transportunternehmen, dem Fahrpersonal zumindest alle vier Wochen die Rückkehr zu „einer Betriebsstätte des Unternehmens im Mitgliedstaat seiner Niederlassung oder an den Wohnort“ zu ermöglichen. Ob ein ungarischer Kraftfahrer also die Wahl zwischen der Rückkehr zur Betriebsstätte seines Arbeitgebers in Sopron oder seinem rund 450 Kilometer entfernten Wohnort bei Debrecen hat, oder ob dies im Ermessen des Transportunternehmens liegt, lässt der Gesetzestext offen. In jedem Fall stellt dieser Kompromiss einen Rückschritt gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission dar, der ein Rückkehrrecht alle drei Wochen vorsah.

Intelligenter Fahrtenschreiber …

Positive Entwicklungen gibt es bei den Bestimmungen zum intelligenten Fahrtenschreiber: Bis spätestens Ende 2024 – und somit erfreulicherweise rund 10 Jahre früher als ursprünglich vorgesehen – muss die Ausstattung aller Fahrzeuge im internationalen Verkehr mit dem Smart Tachograph 2.0 erfolgen. Durch die zusätzliche automatische Standortaufzeichnung bei Grenzübertritten sowie bei jeder Be- und Entladung will man Manipulationen des Fahrtprotokolls vorbeugen und Kontrollen erleichtern. Die aufgezeichneten Daten sind jedenfalls 56 volle Kalendertage mitzuführen. Damit soll die Überprüfung der wöchentlichen Ruhezeiten sowie der regelmäßigen Rückkehr in den Niederlassungsstaat, aber auch der Einhaltung der Mindestlöhne vereinfacht werden.

… und weniger intelligente Entsendebestimmungen

Werden ArbeitnehmerInnen von ihren ArbeitgeberInnen vorübergehend in einen anderen Staat entsandt, gelten für sie hinsichtlich bestimmter Aspekte – wie etwa Mindestlohn, Höchstarbeitszeiten, bezahlter Mindestjahresurlaub – die Bestimmungen jenes Staates, in dem die Dienstleistung erbracht wird. Damit soll dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ Rechnung getragen werden. Vor allem seitens der Oststaaten wird jedoch versucht, für den Transportsektor möglichst weitreichende Ausnahmen von diesem Prinzip zu erwirken. Dahinter steht nicht zuletzt der Druck von Transportunternehmen, die sich in diesen Niedriglohnländern niedergelassen haben.

Das Resultat: Nicht als entsandt im Sinne der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Personen gelten KraftfahrerInnen, die bilaterale Operationen durchführen. Darunter versteht man die Beförderung von Gütern oder Personen, bei denen der Niederlassungsstaat des Transportunternehmens entweder Quell- oder Zielland ist. So wird etwa ein ungarischer Kraftfahrer, der Güter von Ungarn nach Belgien und vice versa befördert, nach dem ungarischen Mindestlohn von 2,57 € bezahlt. Nach österreichischem Kollektivvertrag stünden ihm für die gleiche Arbeit 9,15 € zu.

Fatale Auswirkungen auf die heimische Transportwirtschaft

Bei der Ratssitzung wurde allerdings noch eine zusätzliche Einschränkung beschlossen: FahrerInnen, deren Fahrzeuge mit einem Smart Tachograph 2.0 ausgestattet sind, dürfen pro bilateraler Transportoperation zusätzlich eine weitere Beförderung en route durchführen. Für unseren ungarischen Kraftfahrer bedeutet das: er kann eine zusätzliche Ladung etwa von Österreich nach Deutschland befördern, bevor er die eigentliche bilaterale Operation in Belgien beendet. All das zum ungarischen Lohn. Wer kostensparend transportieren will und strategisch denkt, wird also weiterhin auf Fahrer aus Niedriglohnländern zurückgreifen, auch wenn diese Länder weder Quell- noch Zielland darstellen. Neben massivem Lohn- und Sozialdumping aus dem Osten bedeutet dies aus unserer Sicht vor allem eines: weitere Marktanteilsverluste der österreichischen Transportwirtschaft und Arbeitslosigkeit für heimische KraftfahrerInnen.

Fazit

Kaum jemand wird abstreiten, dass unter dem österreichischen EU-Ratsvorsitz außergewöhnlich schnell und reibungslos Kompromisse gefunden wurden. Inhaltlich sind die Kompromisse zum Mobilitätspaket I jedoch höchst bedenklich, besonders fehlende effektive Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping aus dem Osten und die daraus resultierenden negativen Auswirkungen auf die heimische Transportwirtschaft geben Grund zur Sorge. Was die Abstimmung im Ausschuss für Verkehr und Tourismus im Europäischen Parlament am 10. Jänner 2019 betrifft, bestehen kaum Chancen auf eine sozialere und wirtschaftlich nachhaltigere Einigung. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Weiterführender Link: http://aktuelle-sozialpolitik.de/2018/12/05/das-nomadentum-der-lkw-fahrer-auf-den-europaeischen-strassen/