Ist die Kritik am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) berechtigt?

17. September 2013

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde nicht erst im laufenden Wahlkampf zur Zielscheibe der Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union. Im Mittelpunkt steht dabei die Ablehnung der Übernahme von öffentlichen Haftungen, die angeblich alleine für Österreich 65 Milliarden Euro betragen würden. Diese Kritik basiert einerseits auf übertriebenen Zahlen – zB beträgt das derzeitige Verlustrisiko Österreichs 1,23 Mrd Euro. Andererseits wird ausgespart, dass weitaus größeren Verluste, die durch eine Auflösung der Eurozone entstehen würden, gerade auch durch den ESM selbst verhindert wurden.

Was ist der ESM?

Der ESM ist eine internationale Finanzinstitution im Besitz der Eurozone-Mitgliedstaaten, die in Anlehnung an den Internationalen Währungsfonds als dauerhafter „Rettungsschirm“ gegründet wurde um EFSF & Co abzulösen. Der Österreich-Anteil beträgt – wie auch bei der Europäischen Zentralbank – 2,7834 % des Grundkapitals von 700 Mrd Euro, wovon allerdings nur 80 Mrd Euro tatsächlich einzuzahlen sind (der Rest ist Rufkapital, daher Grundkapital das im Notfall vom ESM abgerufen werden kann und erst dann von den Nationalstaaten zu finanzieren ist). Für Österreich bedeutet das einen Anteil von 19,48 Mrd am Grundkapital und die Einzahlung von 2,23 Mrd (zu zahlen in fünf Raten bis 2014).

Der ESM kann in erster Linie Kredite an Mitgliedstaaten vergeben, die sich nicht mehr zu vernünftigen Konditionen über die Finanzmärkte finanzieren können. Möglich sind dabei bis zu 500 Mrd Euro, wobei die Kreditvergabe prinzipiell einstimmig beschlossen werden muss. Bisher wurden Hilfen von bis zu 109 Mrd Euro zugesagt (davon 100 Mrd Euro für Spanien für seinen Finanzsektor und 9 Mrd Euro für Zypern), wovon mit Stand Anfang September 44,33 Mrd Euro ausbezahlt wurden (davon 41,33 Mrd Euro an Spanien; der spanischen Regierung zur Folge werden die restlichen 58,67 Mrd Euro nicht mehr benötigt). Die Kredite werden nur gegen mehr als kostendeckende Zinszahlungen vergeben und müssen zurückgezahlt werden.

Alle Hilfskredite werden durch Kapitalaufnahme des ESM (zu derzeit sehr günstigen Marktkonditionen durch die gute Eigenkapitalausstattung, zuletzt 0,05 % Effektivverzinsung für 2,5 Mrd Euro) finanziert. Damit ist der ESM auch ein Prototyp für die ebenfalls heiß diskutierten Eurobonds, wenn auch mit wesentlichen Einschränkungen.

Es gibt gar keine Haftungen

Für diese Kreditaufnahmen – und damit den ESM insgesamt – gibt es im Gegensatz zur öffentlichen Darstellung keine Haftungen im eigentlichen Sinn: Der ESM borgt sich Geld und muss dieses aus eigener Kraft zurückzahlen. Ob er dies kann, hängt zum einen von der eigenen Möglichkeit zur Kreditaufnahme ab, zum anderen aber selbstverständlich davon, ob die Empfängerländer die ESM-Hilfskredite bedienen können.

Aus nationaler Sicht stellt allerdings das nicht eingezahlte Rufkapital von gesamt 620 Mrd Euro (Ö: 17,25 Mrd Euro) eine Art Haftung dar, weil bei Zahlungsunfähigkeit des ESM selbst das Rufkapital fällig und damit nachzuzahlen ist um die Forderungen der ESM-GläubigerInnen zu bedienen. Da der ESM aber nur max. 500 Mrd Euro vergeben kann, ist das maximale Ausfallsrisiko auch damit gedeckelt (Ö-Anteil: 13,92 Mrd Euro).

Verlustrisiko sehr beschränkt

Derzeit wurden aber erst 44,33 Mrd Euro vom ESM vergeben, daher liegt das Ausfallsrisiko aktuell maximal bei dieser Summe. Für Österreich bedeutet das ein derzeitiges maximales Verlustrisiko von 1,23 Mrd Euro. Da allerdings aus allen Länderbeiträgen bereits 48 Mrd Euro an Grundkapital in den ESM geflossen sind, wären nach derzeitigem Stand selbst bei einem völlig unrealistischen Totalausfall gar keine weiteren nationalen Zahlungen an den ESM erforderlich.

Soweit zur derzeit aktuellen Lage. Sollten weitere Programme für Griechenland, Irland und Portugal oder andere Länder umgesetzt werden, wird das vergebene Kreditvolumen das einbezahlte Grundkapital übersteigen. Aber auch dann gibt es eine Vielzahl an Bedingungen die erfüllt sein müssten, ehe die nationalstaatlichen „Haftungen“ schlagend werden:

  • Ein Land müsste formell zahlungsunfähig werden
  • Die ausstehenden Kredite würden vom Empfängerland gar nicht bedient werden können (historisch üblich sind aber 47 bis 77 Prozent)
  • Die EZB bzw. internationale Finanzinstitutionen würde selbst in dieser absoluten Notsituation nicht eingreifen und lieber zusehen, wie die Eurozone auseinanderbricht (was einer Selbstauflösung der EZB gleich käme).

Für einen Totalausfall des gesamten Grundkapitals des ESM müsste zusätzlich gelten:

  • Nicht nur ein Land, sondern weitere Länder schlittern in die Zahlungsunfähigkeit, sodass die verbleibenden zahlungsfähigen Länder alleine das Rufkapital bis zu ihrer Obergrenze nachschießen müssten
  • Ein ESM-Schuldenschnitt würde politisch nicht durchgesetzt werden (können)

Insgesamt erscheint somit der Eintritt eines solchen Szenarios weniger realistisch als die Annahme, dass es sich bei den öffentlichen Warnungen vor dem finanziellen Katastrophenszenario um bewusste Verunsicherung handelt mit dem Ziel politischer Stimmungsmache. Hervorzuheben ist insbesondere die sehr wahrscheinliche Intervention der EZB: Alleine ihre – reichlich späte – Ankündigung im Vorjahr, notfalls alles zu unternehmen um die Eurozone zu erhalten, verhinderte eine weitere Eskalation der Krise bzw. führte zu Zinsersparnissen in Milliardenhöhe in den Krisenstaaten.

Kritik am ESM kann trotzdem gerechtfertigt sein

Diese Entwarnung ändert nichts daran, dass es zum ESM bessere weitreichendere Alternativen gegeben hätte, die allerdings politisch nicht mehrheitsfähig waren. Beispielsweise hätte die Zinslast einzelner Eurostaaten bzw. der Eurozone insgesamt auch dadurch gesenkt werden können, indem die Notenbank – so wie in fast allen anderen Ökonomien – einspringt, sobald sich internationale InvestorInnen zurückziehen. Auch die Einführung von Eurobonds hätte verhindern können, dass es zu ungleichen Finanzierungsmöglichkeiten der Staaten kommt. So kann der ESM nur etwa fünf Prozent der öffentlichen Verschuldung der Eurozone abdecken, was nicht ausreichend ist, sollte sich die Krise in den großen Ökonomien Spanien und Italien zuspitzen.

In der Praxis der Kreditgewährung sind die restriktiven, von einer neoliberal orientierten Wirtschaftspolitik inspirierten Auflagen das Hauptproblem des ESM. Diese verursacht durch radikale Sparmaßnahmen und Druck auf die Löhne ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung und das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit. Dadurch sinken aber auch die Steuereinnahmen und damit die Möglichkeiten, die Kredite zukünftig zu bedienen. Damit Auflagen grundsätzlich wirtschaftspolitisch sinnvoll sind, müssen sie beschäftigungsfreundlich und gesamtgesellschaftlich fair gestaltet sein (zB stärkere Besteuerung von Vermögen). Demokratiepolitisch ist zu kritisieren, dass keine eigene demokratische Kontrolle auf europäischer Ebene (zB Mitentscheidung des Europäischen Parlaments) geschaffen wurde, sondern die nationalen FinanzministerInnen (mit einem nur sehr indirekten politischen Mandat) bzw. operativ die sogenannte Troika (EU-Kommission, EZB, Internationaler Währungsfonds) eigenmächtig entscheiden.

Darüber hinaus führen die Hilfsmaßnahmen dazu, dass spekulative AnlegerInnen mit der Krise gute Geschäfte machen können. Einerseits ist – wie bereits bei der Bankenrettung im Zuge der Krise – diese Ungerechtigkeit vorläufig in Kauf zu nehmen, will man gesellschaftlichen Schaden abwenden. Gleichzeitig muss es deshalb zu einer stärkeren Besteuerung der Krisenprofiteure kommen, wie sie mittels vermögensbezogener Steuern, Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe und ähnlichem recht treffsicher erreicht werden könnte. Zudem könnten so dringend notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise in Europa finanziert werden, ähnlich wie sie zB der DGB im Marshallplan für Europa vorgeschlagen hat.

Scheitern der Eurozone wäre jedenfalls schlimmer

Das größte Paradox an der ESM-Diskussion ist, dass der Hauptteil der behaupteten finanziellen Risiken nicht auf den ESM selbst zurückzuführen ist, sondern auf Verluste bei einem Scheitern der Eurozone (konkret die – fachlich umstrittenen – Folgen einer EZB-Auflösung). Diese Verluste wären aber gerade dann eingetreten, wenn es den ESM (oder andere Hilfsmaßnahmen) nicht gegeben hätte, weil Staatsschulden mit einem Zinssatz jenseits der 7 % schwieriger zu bedienen sind als mit einem unter 4 %. Auf den Punkt gebracht: Ua der ESM hat genau jene drohenden Verluste verhindert, die die neoliberalen ESM-KritikerInnen befürchten.

Die Auflösung der Eurozone würde weitaus höhere politische und realwirtschaftliche Kosten verursachen. Diese Kosten können zwar nicht genau geschätzt werden, allerdings gibt die Analyse des WIFO oder auch jene im AK-Infobrief (spezifisch zu Griechenland) Hinweise auf die mögliche Dimension eines solchen Scheiterns des Euro: zehntausende zusätzliche Arbeitslose alleine in Österreich, ein Wirtschaftseinbruch größer als 2009 – und folglich eine mittelfristige Budgetbelastung, die das ESM-Verlustrisiko wohl in den Schatten stellen würde.