Gegen-Aufklärung und Selbst-Entfremdung im Namen der Freiheit

04. August 2016

Der Neoliberalismus ist das erfolgreichste Projekt der Gegen-Aufklärung. Vom 18. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre haben DenkerInnen in Europa und den USA die Grundlagen für den „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) erarbeitet. So unterschiedlich die Erkenntnisinteressen und damit die Theorien von Hume, Smith, Kant, Rousseau, Ricardo, Mill, Marx oder Keynes auch sind, gemeinsam war ihnen das Ziel einer Emanzipation der Menschen von „höheren Wesen“ und den intellektuellen, moralischen und politischen Autoritäten als ihren (irdischen) VertreterInnen. Es wird Zeit, dass StaatenlenkerInnen wieder den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ finden, sich also von ihrer „Marktreligiosität“ emanzipieren, in der der Mensch zum selbst entfremdeten Objekte der Entscheidungen „der Märkte“ wird.

Die (partielle) Umsetzung der Ziele von Aufklärung und Emanzipation erfolgte in mühsamen Kämpfen von der Gründung der USA (1776), den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich (1789) und in vielen Ländern Europas (1848), der Organisation der Arbeiterbewegung und der Schaffung des Sozialstaats im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Entwicklung des Europäischen Sozialmodells in der Prosperitätsphase der 1950er und 1960er Jahre.

Rückschläge wie die Restauration der „ancien regimes“ (1815 bis 1848) oder die Depressionen nach den Börsenkrachs 1873 und 1929, bildeten die Basis für Emanzipationsschritte in der nachfolgenden Periode (wie die Begründung des Sozialstaats und die nachfolgende „belle époque“ 1895/1914 bzw. die Schaffung der Sozialen Marktwirtschaft im „golden age of capitalism“ 1950/1971).

Aktuelle Wirtschaftskrise bislang ohne neue Emanzipationsschritte

Die gegenwärtige Depression in Europa unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht grundlegend von den früheren Rückschlägen im langfristigen Emanzipationsprozess.

Erstens: Der Weg in die Krise begann schon vor 45 Jahren mit der Aufgabe fester Wechselkurse, den nachfolgenden Dollarabwertungen, Ölpreisschocks, Rezessionen samt Hochzinspolitik. Das im Vergleich zu 1873 und 1929 langsame Tempo der Krisenausbreitung – der Anstieg von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte – gab und gibt dieser Entwicklung den Anschein eines „Sachzwangs“.

Zweitens: Dazu trägt die Tatsache bei, dass die Prosperitätsphase immer mehr aus dem „gesellschaftlichen Gedächtnis“ verschwunden ist oder als „Sonderentwicklung“ verdrängt wurde. Verloren ging damit auch das Bewusstsein, dass Menschen durch politisches Handeln ihr gemeinsames Schicksal in die Hand nehmen können, dass Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und gesellschaftliche Zusammenhalt realisiert werden können. Dazu brauchte es freilich nicht nur die Selbst-Ermächtigung der Politik, sondern eine theoretisch fundierte „Navigationskarte“ in Gestalt des Keynesianismus.

Drittens: Genau deshalb konzentrierte sich die neoliberale Gegenoffensive schon seit Anfang der 1950er auf die Produktion von Theorien, welche die Grundforderungen des Keynesianismus angriffen wie strikte Regulierung der Finanzmärkte, Vollbeschäftigungspolitik, Sozialpartnerschaft und generell staatliches Handeln (die wichtigsten Beiträge stammten von den späteren „Nobelpreisträgern“ Friedman, Hayek, Buchanan, Stigler, Coase und Becker). Das gemeinsame Fundament dieser Theorien bildete der Glaube an „den Markt“: Wie ein höheres Wesen lenkt er die ökonomischen Prozesse „mit unsichtbarer Hand“.

Viertens: Hayek hatte schon in den 1940er Jahren mit der Planung des Angriffs auf Keynesianismus und Sozialstaat begonnen. Sein Vorbild war die Verbreitung sozialistischer Ideen unter den intellektuellen Eliten seit Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch die britische „Fabian Society“. Als neoliberales Gegenstück gründete Hayek 1947 gemeinsam mit 38 Mitstreitern – darunter die späteren Nobelpreisträger Maurice Allais, Milton Friedman und George Stigler – die „Mont-Pelerin-Society“. In ihrem Rahmen wurden Gründung und Finanzierung von Think Tanks besprochen, Informationen über anti-keynesianische Forschungsprojekte ausgetauscht, Kontakte mit einflussreichen Journalisten und vermögenden Finanziers geknüpft, etc.

Fünftens: Zur Popularisierung der neoliberalen Konzepte wurden Think Tanks gegründet und von Vermögenden finanziert (in Österreich erst verspätet). Ihre Zahl wuchs im „Gleichschritt“ mit der Intensivierung der Offensive gegen Keynesianismus und Sozialstaatlichkeit, seit 1981 durch das „Atlas Network“ global vernetzt – derzeit verbindet es 451 „free-market organizations“ in 95 Ländern (zusätzlich vernetzt das „Stockholm Network“ 131 „Denkfabriken“ in 40 europäischen Ländern).

Sechstens: Da Finanzmärkte dem idealen Markt der Theorie am nächsten kommen, war ihre Ent-Fesselung, insbesondere die Aufgabe fester Wechselkurse, ein Hauptanliegen der neoliberalen Ökonomen (schon 1953 hatte Friedman dies mit dem Argument „wissenschaftlich“ legitimiert, dass es destabilisierende Spekulation gar nicht geben könne). Und genau an der „Wechselkursfront“ gelingt 1971 der Durchbruch.

Siebtens: Allerdings hatten es die „Trivial-Keynesianer“ wie Paul A. Samuelson den Neoliberalen leicht gemacht. Mit ihrem Modell der „neo-klassischen Synthese“ anerkannten sie die prinzipielle Überlegenheit „des Marktes“ bei der Bewältigung der ökonomischen Grundprobleme. Die Verdrängung der Botschaft von Keynes über die fundamentale Instabilität der Finanzmärkte machte es den „Trivial-Keynesianern“ unmöglich, den neoliberalen Angriff auf feste Wechselkurse im Besonderen und auf regulierte Finanzmärkte im Allgemeinen abzuwehren.

Achtens: Folgerichtig wurde die Verwandlung der sozialen in die neoliberale Marktwirtschaft seit 1971 von der Dynamik der Finanzmärkte voran getrieben – beginnend mit den Dollarentwertungen und den „Ölpreisschocks“ in den 1970er Jahren über die Schuldenkrise Lateinamerikas, der Ausbreitung der Finanzderivate und dem Aktienboom in den 1980er und 1990er Jahren bis zur Finanzkrise 2008.

Neuntens: Alle diese Entwicklungen wurden in zunehmendem Maß als „Sachzwänge“ begriffen, denen sich die Politik durch Sparmaßnahmen, Bankenrettungen, Umstellung der Altersvorsorge auf kapitalgedeckte Verfahren anzupassen hätte (schon vor 30 Jahren hatte Magret Thatcher die TINA-Resignation mit großen Erfolg propagiert: „There is no alternative“).

Zehntens: In den 30 Jahren ihrer zunehmenden Marginalisierung gelang es den linken bzw. keynesianischen ÖkonomInnen nicht, sich zu vernetzen und konkrete, über Keynes hinausgehende Theorien zu entwickeln, welche die systemischen Ursachen von Finanzinstabilität, Arbeitslosigkeit, Prekariat, Verteilung und Staatsverschuldung herausarbeiten. Auch die wichtigsten wirtschaftspolitischen Vorschläge beziehen sich stärker auf Symptome der Krise wie die zunehmende Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen als auf systemische Therapien (so wichtig die Verteilungsfrage auch ist). In Zeiten der Euro: Die durch die freiesten Märkte verursachte Finanzkrise 2008 legte den Anti-Neoliberalen unzählige Elfmeter auf, eingeschossen haben sie die Neoliberalen.

Marktreligiöses Denken erschwert notwendigen wirtschaftspolitischen Lernprozess

Die durch Theoriebildung und Think-Tank-Propaganda gelungene Etablierung der „marktreligiösen“ Weltanschauung in den Köpfen der Eliten, die „Befreiung“ der Märkte und die Regelbindung der Politik sowie die so forcierte Dominanz von „Finanzalchemie“ über unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft verstärkten einander. Selbst die zum Handeln gewählten Politiker empfinden sich als „den Märkten“ ausgeliefert, auch ihnen erscheinen die Entwicklungen „alternativlos“ und gleichzeitig undurchschaubar.

Menschen erleben sich nicht mehr als selbst-bewusste Subjekte ihrer Geschichte, sondern als sich selbst entfremdete Objekte der Entscheidungen „der Märkte“. Dies kommt auch in der (journalistischen) Alltagssprache zum Ausdruck. Mit der größten Selbstverständlichkeit spricht man heute von „dem Markt“ als Subjekt: Er bestraft Griechenland mit hohen Zinsen, ist mal freundlich bis euphorisch gestimmt, mal depressiv bis panisch, er wird als vernunftbegabtes und mitunter gefühlsgetriebenes (höheres) Wesen imaginiert.

Märkte sind aber keine Subjekte, sondern Instrumente, welche die Effizienz des Wirtschaftens verbessern können. Wie bei allen Instrumenten gibt es manche, die nicht so funktionieren wie sie sollten. Die spekulativen Finanzmärkte haben sich in ihrer gesamten Geschichte als „manisch-depressiv“ erwiesen. Handwerklich denkende Menschen lernen aus der Erfahrung und gestalten untaugliche Instrumente radikal um. „Marktreligiöse“ Menschen können nicht einmal in Erwägung ziehen.

Finanzmärkte zentral für neoliberale Gegen-Aufklärung

Der Neoliberalismus stellt das erfolgreichste Projekt der Gegen-Aufklärung, der Ent-Moralisierung und der (Selbst)Entmündigung der Politik dar – groteskerweise im Namen der Freiheit des Menschen. Doch nicht diese wurden „freier“, sondern die zunehmend als Subjekte wahrgenommenen Finanzmärkte. In der Alltagssprache sind daher mit „die Märkte“ meistens die Finanzmärkte gemeint. Ihnen muss sich auch die demokratisch legitimierte Politik anpassen („marktkonforme Demokratie“).

Die Selbst-Entmächtigung der Politik und damit der TINA-Fatalismus sind deshalb in keinem Bereich so markant ausgeprägt wie in ihrem Verhältnis zu den Finanzmärkten: Man sei ihnen eben ausgeliefert, schließlich sind keine anderen Märkte in so hohem Maß global vernetzt. Auch kann man die Komplexität des Finanzsystems nicht mehr begreifen (wie früher das Lateinisch der Ärzte und Priester vernebeln jetzt die Englisch-Kürzel CDO, CDS, QE, ABS, etc. den Blick). Tatsächlich hat die Ent-Fesselung der Finanzmärkte über 45 Jahren ein undurchschaubares und weltumspannendes Kartenhaus an Forderungen und Verpflichtungen, insbesondere bei den Derivaten, entstehen lassen – und diese werden mit rasender Geschwindigkeit gehandelt.

Zurückdrängen der Spekulation als politisches Einstiegsprojekt

Dann muss man eben Komplexität aus dem Finanzsystem nehmen, indem man die Attraktivität kurzfristiger Spekulation radikal reduziert oder diese überhaupt unmöglich macht. „Technisch“ wäre das kein großes Problem, politisch aber nur dann umsetzbar, wenn die StaatenlenkerInnen wieder den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ finden, sich also von ihrer „Marktreligiosität“ emanzipieren.

Ich werde in meinen nächsten Beiträgen für „Makroskop“ einige dieser Maßnahmen skizzieren. Die langfristige Prognose Keynes vom Aussterben des Rentiers wird dadurch allein noch nicht eintreten, doch wären die Maßnahmen hinreichend starke „Beruhigungsmittel“, um das Ausmaß der manisch-depressiven Schwankungen der freiesten Märkte nachhaltig zu verringern.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 08. Juli 2016 für die empfehlenswerte Plattform Makroskop.