Eurozone: Lohnwettbewerb nach unten hat Priorität

11. September 2015

Mit dem Ende Juni vorgelegten Bericht zur Wirtschafts- und Währungsunion der fünf Präsidenten wird die 2012 gestartete Debatte über die Weiterentwicklung der Eurozone neu aufgegriffen. Trotz des offensichtlichen Misserfolges wird am bisherigen wirtschaftspolitischen Kurs festgehalten, der punkto Wettbewerbsfixierung sogar noch verschärft werden soll. Eine wohlstandsorientiere Wirtschaftspolitik wäre damit noch schwieriger durchsetzbar.

Pünktlich zum Sommerbeginn legte Kommissionspräsident Juncker – in enger Zusammenarbeit mit den Präsidenten des europäischen Rates, der EZB, der Eurogruppe und des EU-Parlaments – den Bericht mit dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ vor. Damit knüpft er an die Debatte an, die im Zuge der sich verschärfenden wirtschaftlichen Krise 2012 ihren Höhepunkt hatte. Damals gab es bereits einen Präsidentenbericht sowie einen eigenen „Blue-Print“ der EU-Kommission.

Abseits von der Bankenunion, die bereits damals parallel zum Bericht bearbeitet wurde, kam es zu keiner Umsetzung der Präsidentenvorschläge. Das lag zum einen am fehlenden politischen Konsens für noch weitreichendere Interventionsmöglichkeiten in die nationale Wirtschaftspolitik. Zum anderen reduzierten die EZB-Maßnahmen den Handlungsdruck durch eine Annäherung der Zinssätze in der Eurozone auf ein niedriges Niveau. Dass es keine wesentlichen Reformschritte seit dem letzten Bericht gab, ist durchaus positiv, stellte er doch keine geeignete Grundlage für eine dringend notwendige Neuausrichtung der WWU dar – insbesondere weil er auf eine Verfestigung der Spar- und Wettbewerbsunion abzielte.

Ein Kurswechsel hin zu einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik mit dem Schwerpunkt auf Abbau von Arbeitslosigkeit und gleichmäßigere Verteilung der Einkommen, soziale und ökologische Investitionen und Absicherung des Sozialstaates mit seiner nachfragestabilisierenden Wirkung wäre bei einer Umsetzung erschwert worden. Diese prinzipielle Kritik ist leider auch auf den neuen Bericht weitgehend übertragbar.

Wettbewerbsfixierung als Hauptelement

Die Präsidentenvorschläge gliedern sich inhaltlich wie bisher in die vier Säulen Banken- und Kapitalmarktunion, Wirtschaftsunion, Fiskalunion und politische Union. Im Kern wird – wie bereits im heurigen Jahreswachstumsbericht – eine angebotsseitige wirtschaftspolitische Ausrichtung verfolgt. Durch noch stärkere Wettbewerbsorientierung in Form gebremster Lohnkosten bzw. einem Umbau der ökonomischen Regulierung (Wirtschaftsunion) in Kombination mit besseren Finanzierungbedingungen der Unternehmen (Kapitalmarktunion) sowie der öffentlichen Haushalte (Fiskalunion) soll ein neuer exportgetriebener Wirtschaftsaufschwung erreicht werden. Dieser wenig erfolgreiche Ansatz wird jedoch bereits seit der Rezession 1992/1993 bzw. dem darauf folgenden Weißbuch der EU-Kommission „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ verfolgt.

Vor diesem Hintergrund sind die vorgeschlagenen Maßnahmen nur bedingt überraschend. Verschoben hat sich lediglich die Akzentuierung. So sollen wettbewerbsorientierte Strukturreformen verschärft durchsetzbar gemacht werden, während eine ansatzweise Lockerung der Finanzpolitik angedeutet wird.

Die beiden wichtigsten neuen Ideen zur Verschärfung der Wettbewerbsorientierung sind zum einen „unabhängige“ nationale Wettbewerbseinrichtungen zwecks Erhöhung des Reform- und Lohndrucks innerhalb der Mitgliedstaaten – insb. durch eine „Richtschnur“ für Tarifverhandlungen – sowie eine Verschärfung des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten bzw. dessen Ausdehnung auf die Wirtschaftspolitik allgemein nach Gutdünken von Kommission und Rat zum anderen.

Löhne geraten verstärkt ins Visier

Die drängendsten wirtschaftspolitischen Probleme – wie insbesondere die nach wie vor sehr hohe Arbeitslosigkeit sowie die Verteilungsschieflage – werden damit nicht nur nicht gelöst, sondern sogar verschärft. Das gilt insbesondere für die Lohnpolitik, wo die einseitige Orientierung nach unten verstärkt werden soll. Die Doppelrolle der Löhne – Produktionskosten einerseits, Einkommen, die für den Konsum verwendet werden andererseits – wird ausgeblendet. Obwohl selbst in exportabhängigen Ländern wie Deutschland und Österreich die Inlandsnachfrage (die vor allem von den Löhnen determiniert wird) größer ist als die Exportnachfrage, wird nur auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit abgestellt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: Europäische Kommission (Ameco-Datenbank Mai 2014), eigene Berechnungen. *basierend auf der Annahme, dass der Anteil der – nicht ausgewiesenen – intra-EU-Dienstleistungsexporte jenem der Güterexporte entspricht. © A&W Blog
Quelle: Europäische Kommission (Ameco-Datenbank Mai 2014), eigene Berechnungen. *basierend auf der Annahme, dass der Anteil der – nicht ausgewiesenen – intra-EU-Dienstleistungsexporte jenem der Güterexporte entspricht.

So wird im Bericht vorgeschlagen, von einer verteilungs- und preisneutralen Lohnpolitik durch die Sozialpartner abzurücken. Zu diesem Zweck soll zum einen die Lohnkostenentwicklung stärker an jene in den wichtigsten Exportländern angeglichen werden. Eine schlechte Lohnentwicklung in einem Land – wie vor der Krise insbesondere in Deutschland und nun in den Krisenstaaten – würde dann alle anderen nach unten ziehen. Als Interventionsinstrument sollen – angelehnt an die nationalen Fiskalräte zur Durchsetzung der Austeritätspolitik – unabhängige sogenannte nationale Wettbewerbseinrichtungen dienen, die Richtschnüre für die Tarifverhandlungen erstellen sollen. Dieser Eingriff in die Tarifautonomie würde einen Tabubruch darstellen, der lediglich dadurch kaschiert wird, dass er „nur“ indirekt erfolgt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: EU-Kommission (AMECO-Datenbank 10.9.2015), eigene Berechnungen. *Nur Mitgliedstaaten der Eurozone mit BIP-Anteil von mind. einem Hundertstel, d.h. ohne SK, LU, SI, CY, EE, LT, LV, MT. **EZB-Ziel von nahe aber unter 2 % jährlicher Inflation wird hier mit 1,9 % p.a. berechnet. © A&W Blog
Quelle: EU-Kommission (AMECO-Datenbank 10.9.2015), eigene Berechnungen. *Nur Mitgliedstaaten der Eurozone mit BIP-Anteil von mind. einem Hundertstel, d.h. ohne SK, LU, SI, CY, EE, LT, LV, MT. **EZB-Ziel von nahe aber unter 2 % jährlicher Inflation wird hier mit 1,9 % p.a. berechnet.

Wirtschaftspolitische Konsequenz wäre eine weitere Schwächung der Löhne, obwohl sich diese bereits seit Bestehen der Eurozone insgesamt schlecht entwickelt haben. So blieb die Lohnstückkostenentwicklung in der Eurozone vor der Krise (2007) kumuliert um gut drei Prozentpunkte unter ihrem preis- und verteilungsneutralen Spielraum zurück. Nachdem in der Krise die Produktion in der Regel stärker einbricht als die Lohnsumme, gab es zwar 2009 ein überschießendes Moment, das jedoch durch eine noch stärkere Unterausschöpfung in den Jahren danach mehr als ausgeglichen wurde. Mit Jahresende wird die seit 1998 angewachsene Unterausschöpfung des (mit der Preisstabilität im Sinne der EZB-Definition kompatiblen) Produktivitätsspielraumes sieben Prozentpunkte betragen.

Von den elf größten Ländern der Eurozone ist das nominelle Lohnstückkostenwachstum seit 1998 nur mehr in Italien klar über dieser Orientierungsmarke. Die Abweichung von sechs Prozentpunkten ist aber relativ unbedeutend im Vergleich zu Deutschland, wo die Unterschreitung 19 pp. beträgt. Und während die Differenz in Italien seit Jahren kontinuierlich schrumpft, vergrößerte sie sich in Deutschland weiter. Es liegt also klar auf der Hand, wo eine Kurskorrektur besonders gefordert wäre. Trotzdem fokussiert die EU-Kommission in ihren länderspezifischen Empfehlungen nach wie vor auf Länder mit höherer Lohnstückkostenentwicklung im Vergleich zum – eben zu niedrigem – Durchschnitt der Eurozone und sieht weiterhin Anpassungsbedarf nach unten auf Kosten der ArbeitnehmerInnen.

Lohnwettbewerb ist ein Problem, keine Lösung

Wäre die EU ein Wirtschaftsraum, der in erster Linie für das Ausland produziert, wäre eine schwächere Lohnstückkostenentwicklung zwar nicht im Interesse der mehrheitlich von Lohneinkommen abhängigen Menschen, aber zumindest für die wirtschaftliche Entwicklung förderlich. Mit einem Anteil der Exporte an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage der EU von gerade einmal 12 % im Jahr 2012 ist diese Bedingung aber nicht erfüllt. Eine Schwächung der Löhne führt vielmehr zu einer Schwächung der Gesamtnachfrage – und damit von Beschäftigung und Wirtschaft. Diese Erkenntnis ist – nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Studien zB von Engelbert Stockhammer, Stichwort wage-led growth – nicht sonderlich neu, wird aber vermutlich aufgrund der noch recht fest sitzenden neoliberalen Scheuklappen in der Debatte weiterhin ausgeblendet.

Vergleicht man zudem die Lohnstückkosten- mit der Beschäftigungsentwicklung in den letzten Jahren, so scheint der Zusammenhang entgegengesetzt zu den Behauptungen auf europäischer Ebene: Tendenziell war die Beschäftigungsentwicklung gerade dort schlecht, wo die Lohnstückkosten zurückgingen.

Kontraproduktive Lohnsenkungen: Lohnstückkoste & Beschäftigung 2013 zu 2010*

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Dabei bräuchte es gar keine ökonomische Studien um zu erkennen, dass angesichts der europäischen Verflechtungen die lohnkostenseitige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in einem Land zwangsläufig zu einer lohnkostenseitigen Verschlechterung der anderen Mitgliedstaaten/Handelspartner führen muss. Auch aus diesem Grund ist der europäische Vorschlag nationaler Wettbewerbseinrichtungen wirtschaftspolitisch absurd. Was es braucht sind vielmehr europäische Institutionen, die umgekehrt einseitige Maßnahmen einzelner Länder zur Schwächung der anderen im Kostenwettbewerb erschweren.

Da Löhne immer noch ein ganz wesentlicher Faktor für die Entwicklung der Binnennachfrage ist, gilt es die Lohnkoordination der Sozialpartner auf europäischer Ebene zu fördern. Das erfordert eine institutionelle Stärkung insbesondere der Gewerkschaften, die durch die schlechte Beschäftigungsentwicklung sowie die von EU-Kommission & Co geforderten Abbau von ArbeitnehmerInnen zur Arbeitsmarktflexibilisierung einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Eine Umsetzung des Berichts der fünf Präsidenten würde wohl das Gegenteil bewirken.

Dieser Beitrag basiert auf einer ausführlicheren Vorversion in der aktuellen Ausgabe des EU Infobriefs, wo auf alle vier Säulen des Präsidentenberichts eingegangen wird.