Schon im November 2016 haben die großen Gewerkschaftsverbände und die sozialdemokratischen Parteien von Deutschland, Österreich und Schweden einen „Europäischen Pakt für sozialen Fortschritt“ geschlossen. Die unterzeichnenden Verbände und Parteien haben damit Widerspruch erhoben gegen die Dynamik von Deregulierung und unfairem Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten, die in die Struktur der rechtlichen Verfassung des Binnenmarktes der Europäischen Union eingelassen ist. Die Forderungen aus dem Pakt müssen dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden in den Diskussionen um die Zukunft der EU.
Druck der Marktfreiheiten auf die Sozialverfassungen
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in der Serie Viking, Laval, Kommission vs. Luxemburg und Rüffert vor rund 15 Jahren hatte ein Problem ins Rampenlicht gerückt, das politische Beobachter:innen und Wissenschafter:innen schon länger identifiziert hatten: Die für die rechtliche Ordnung des Binnenmarktes grundlegenden Marktfreiheiten haben eine allzu große deregulative Kraft entwickelt gegenüber den auf mitgliedstaatlicher Ebene verfolgten Belangen von Gemeinwohl und sozialer Gerechtigkeit. Im Feld der sozialen Gerechtigkeit ist das besonders problematisch. Denn Arbeitsbeziehungen, soziale Sicherheit und Daseinsvorsorge sind und bleiben wesentlich auf mitgliedstaatlicher Ebene angesiedelt. Die EU hat in diesem Bereich schon rechtlich nur sehr bescheidene Kompetenzen. Aber auch politisch würden sich kaum hinreichende Mehrheiten für einen Ausgleich durch Reregulierung auf Unionsebene finden.
Marktfreiheiten: keine Grundrechte
Die Entscheidungsserie war Resultat und Höhepunkt einer gravierenden Fehlentwicklung. Denn der Europäische Gerichtshof hat den Marktfreiheiten über Jahrzehnte einen spezifischen Sinn gegeben, der in ihrer Funktion eigentlich nicht angelegt ist. Innerhalb eines Staates benötigt man eigentlich keine Marktfreiheiten. Denn wesentliche rechtliche Rahmenbedingungen für unternehmerische Aktivität werden auf zentraler Ebene festgelegt. Innerhalb eines Staates gibt es nur Grundrechte, und zwar durchaus auch Grundrechte zum Schutz unternehmerischer Aktivität. Auf diese können sich Unternehmen stützen, um sich gegen unliebsame Einschränkungen durch den Gesetzgeber auch rechtlich zur Wehr zu setzen.
Ursprüngliche Idee: diskriminierungsfreier staatenübergreifender Markt
Erst wenn der Raum des Marktes mehrere Staaten umfassen soll, vor allem um durch die damit ins Werk gesetzte Vertiefung gesellschaftlicher Arbeitsteilung insgesamt Wohlstandsgewinne zu generieren, treten Marktfreiheiten auf den Plan. Denn mit der Vertiefung gehen notwendig auch partielle Belastungen einher. Namentlich bekommen inländische Unternehmen stärkere Konkurrenz von Unternehmen aus den anderen beteiligten Staaten. Weil die Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen jedenfalls für viele Bereiche auf der staatlichen Ebene verbleibt, haben die Mitgliedstaaten die verführerische Möglichkeit, die Belastungen durch den übergreifenden Markt zu verringern, indem sie ausländische Unternehmen unmittelbar oder mittelbar benachteiligen. Diese Gefahr des „Trittbrettfahrens“ wird durch Marktfreiheiten angegangen. Ihre eigentliche Funktion besteht daher allein darin, die Gesetzgebung eines beteiligten Staates daraufhin zu kontrollieren, ob sie diskriminierende Wirkung für ausländische Unternehmen hat.
EuGH: Ausbau zu Supergrundrechten der Unternehmen
Der Europäische Gerichtshof jedoch hat den Marktfreiheiten einen weitergehenden Sinn gegeben. Er hat sie über ein Verständnis als „Beschränkungsverbote“ zu Grundrechten ausgebaut. Sie haben damit dieselbe Funktion erhalten wie die wirtschaftlichen Grundrechte innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung: Unternehmen können sie mobilisieren gegen Einschränkungen ihrer Betätigungsfreiheit, die der Gesetzgeber im Interesse von Allgemeinwohl und sozialem Ausgleich für geboten hält. Sofern nun die Marktfreiheiten solche Unternehmer:innen-Grundrechte darstellen, haben Unternehmen in der Auseinandersetzung um staatliche Gesetzgebung immer zwei juristische Pfeile im Köcher: die innerstaatlichen Grundrechte und die unionsrechtlichen „Grundfreiheiten“. Das ist schon problematisch genug. Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber muss nicht mehr nur die eigenen (Verfassungs-)Gerichte davon überzeugen, dass seine Regulierungen verhältnismäßig sind, sondern auch den Europäischen Gerichtshof. Erschwerend kommt hinzu, dass der Europäische Gerichtshof bisweilen erstaunlich strenge Maßstäbe anlegt, wenn er die Eignung und Erforderlichkeit einer Regelung prüft. Er geht vielfach weit über das hinaus, was bei einer Grundrechtsprüfung eigentlich nur geboten sein kann, damit die rechtliche Kontrolle nicht in eine politische Korrektur umschlägt.
Europäischer Pakt für sozialen Fortschritt: Rückbau zu Diskriminierungsverboten
Auf diese Fehlinterpretation der Marktfreiheiten durch den Europäischen Gerichtshof zielt die erste Forderung des Europäischen Paktes für sozialen Fortschritt: Die Marktfreiheiten sollen ihren Charakter als Grundrechte wieder verlieren und zu Diskriminierungsverboten zurückgebaut werden. Der Europäische Gerichtshof ist aus den Reihen der Rechts- und Politikwissenschaft schon häufig für sein Verständnis der Marktfreiheiten kritisiert worden. Sogar ein Generalanwalt hat ihm schon einmal in einem Verfahren eine Selbstkorrektur dringlich nahegelegt (verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 – bake off). Der Europäische Gerichtshof hat all dies ignoriert. Darum bleibt nichts anderes, als die Korrektur durch eine Vertragsänderung zu bewirken.
Erhöhter Wettbewerbsdruck auf Basis von Lohnstückkosten
Der Binnenmarkt intensiviert den Wettbewerb. Die Arbeitskosten, die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat nominell (Euro pro Arbeitsstunde) sehr unterschiedlich sind, sind in diesem Wettbewerb natürlich ein Faktor. Allerdings kommt es im Grundsatz nicht auf die nominellen Arbeitskosten an, sondern auf die sogenannten Lohnstückkosten. In diese Größe geht die Produktivität einer Arbeitsstunde ein. Die hängt wiederum von vielen Faktoren ab, darunter die Größe der Kapitalstöcke, die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur und die Qualifikation der Beschäftigten. Eine Arbeitsstunde, die aufgrund dieser Faktoren zu mehr Wertschöpfung führt, darf auch mehr kosten. Die Unterschiede in den Lohnstückkosten sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat viel geringer als die Unterschiede in den (nominellen) Arbeitskosten, aber es gibt sie. Die versuchen sich Unternehmen natürlich zunutze zu machen. Unternehmen aus Hochlohnländern verlagern Produktion dahin, wo die Kosten geringer sind, Unternehmen aus Niedriglohnländern drängen mit ihren Produkten in die Märkte der Hochlohnländer. Das setzt freilich voraus, dass die Unterschiede in den anderen Faktoren, die die Produktivität ausmachen, die Einsparung bei den Lohnkosten nicht aufwiegen.
Ausgleich durch faire Umverteilung der Gewinne geboten
Eine solche Erhöhung des Wettbewerbsdrucks auf der Basis von Lohnstückkosten ist mit einem übergreifenden Binnenmarkt notwendig verbunden. Aus Sicht der Beschäftigten kann man damit an sich leben, allerdings unter einer Bedingung: Die Wohlstandsgewinne, die im Mitgliedstaat durch die vertiefte Arbeitsteilung anfallen, müssen die Verluste insgesamt überwiegen, und die Gewinne müssen innerhalb des Mitgliedstaats fair umverteilt werden (für eine transnationale Umverteilung gibt es bis heute allenfalls zu besonderem Anlass Akzeptanz). Essenzielle Voraussetzung eines solchen Tauschs von Wettbewerbsdruck gegen Teilhabe am Wettbewerbsgewinn ist aber, dass die Arbeitskosten immer nur einen Faktor unter vielen bilden.
Reiner Arbeitskostenwettbewerb im Dienstleistungsmarkt
Der Binnenmarkt eröffnet aber auch einen Markt für grenzüberschreitende Dienstleistungen, also Dienstleistungen, die ein Unternehmen mit den eigenen Mitarbeiter:innen in einem anderen Mitgliedstaat als Gaststaat erbringt. Die Mitarbeiter:innen verdienen im Zuge der Dienstleistung im Gaststaat dasselbe wie zu Hause und auch das Niveau sozialer Sicherheit bleibt gleich. Das ist eine ganz andere Konstellation als beim Wettbewerb der Warenproduzenten. Der Wettbewerb findet hier nicht mehr auf der Basis von Lohnstückkosten statt, sondern fast ausschließlich auf der Basis der Arbeitskosten. Das gilt allzumal in Branchen, in denen der Anteil der Arbeitsleistung an der Wertschöpfung hoch ist, die Arbeitskraft selbst aber nicht besonders qualifiziert sein muss (z. B. Bau, Gebäudereinigung oder Sicherheitsdienstleistungen).
Untergrabung des Sozialstaates
Die Grundlage des modernen Sozialstaats besteht aber darin, dass der Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten in engen Grenzen gehalten wird. Wesentlich dafür sind Tarifvertragssysteme mit Flächentarifverträgen. Sicherlich, die Leistungsfähigkeit der mitgliedstaatlichen Systeme fällt insoweit durchaus unterschiedlich aus. Aber das spricht sicher nicht dafür, die Systeme durch transnationalen Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten weiter zu destabilisieren. Das ist aber genau das, was durch Arbeitnehmer:innenentsendung geschieht, wenn die Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten die nominellen Arbeitskostenvorteile uneingeschränkt nutzen können. Was der Mitgliedstaat für die Konkurrenz zwischen inländischen Unternehmen mehr oder weniger erfolgreich zurückgedrängt hat, kehrt durch die Arbeitnehmer:innenentsendung im Zuge grenzüberschreitender Dienstleistung zurück: Wettbewerb allein auf der Basis von Arbeitskosten.
Unionsrechtliche Garantie des reinen Arbeitskostenwettbewerbs
Das besondere Strukturproblem der EU-Binnenmarktverfassung besteht darin, dass sie diesen Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten nicht nur ermöglicht. Sie sichert ihn zudem rechtlich ab. Denn die Binnenmarktverfassung versagt es den Mitgliedstaaten tatsächlich von Rechts wegen, solchen Wettbewerb auf ihrem Gebiet einzudämmen. Ausgangspunkt ist auch hier eine Marktfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit. Aber das eigentliche Problem liefern erst zwei Unionsgesetze, nämlich die Verordnung über die Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit und die Richtlinie zur Arbeitnehmer:innenentsendung. Die Koordinierungs-Verordnung besagt, dass entsandte Arbeitnehmer:innen in ihrem Heimatsystem versichert bleiben, also auch zu den heimischen Kosten. Die Entsende-Richtlinie besagt, dass entsandten Arbeitnehmer:innen zwar der Mindeststandard des Gastlands zu gewähren ist, aber eben nur das. Beide Gesetze liefern sogenannte Vollharmonisierungen, und das bedeutet schlicht: Der Gaststaat kann daran nichts ändern.
Europäischer Pakt für sozialen Fortschritt: Prinzip territorialer Arbeitskostengleichheit
Auf diese Problematik richtet sich die zweite Kernforderung des Europäischen Paktes für sozialen Fortschritt: Ein Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten in einem Mitgliedstaat muss ausgeschlossen werden. Oder, etwas einprägsamer, es muss wirklich gelten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Auch an diesem Punkt verlangt die Umsetzung eine Änderung der Verträge der Europäischen Union. Es geht um die Verankerung eines Prinzips territorialer Arbeitskostengleichheit als rechtliches Grundprinzips des Binnenmarktes. Damit würde der Charakter von Koordinierungs-Verordnung und Entsende-Richtlinie als Vollharmonisierungen überschrieben, die Mitgliedstaaten könnten darüber hinausgehen. Rechtfertigen ließen sich dann auch Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit. Das ist wichtig, weil ein effektiver Ausschluss entsprechender Geschäftsmodelle auch erfordern kann, den entsendenden Unternehmen zusätzliche Belastungen aufzuerlegen. Das gilt namentlich für den Bereich der Kontrolle der Arbeitsbedingungen, wenn etwa nur ausländische Unternehmen mangels inländischem Verwaltungssitz Unterlagen vor Ort bereithalten müssen.
Den Pakt auf die Tagesordnung der Zukunftskonferenz setzen!
Die Forderungen des Europäischen Paktes für sozialen Fortschritt treffen zwei Kernproblematiken der Binnenmarktverfassung. Die Arbeiterkammer Wien hat beim Autor dieses Blogeintrags eine Studie in Auftrag gegeben, in der anhand von Fallstudien die Leistungsfähigkeit des Reformprogramms des Paktes belegt wird. Es handelt sich zwar um eine juristische Studie, aber die Lektüre ist nicht nur für Jurist:innen geeignet. Der Pakt und die Studie würden ein gutes Fundament bilden, ein politisches und juristisches Fundament, um die Forderungen auf die Tagesordnung der Konferenz zur Zukunft der EU zu setzen und in die daran anschließende Debatte zu einer Reform der Union einzubringen. Es ist ohnehin dringend geboten, dass sich die Gewerkschaften hier Gehör verschaffen und den Anspruch erheben, die Agenda entscheidend mitzubestimmen.
Gewerkschaftliche Gestaltungsmacht nutzen!
Wie steht es um die Durchsetzungschancen? Die Konferenz zur Zukunft hat sich eine Geschäftsordnung gegeben, die unsinnigerweise den Konsens als Entscheidungsgrundlage festschreibt. So kann man in gesellschaftlich naturgemäß umstrittenen Fragen keine Fortschritte erzielen. Aber von dieser Festlegung auf Konsens sollten sich die Gewerkschaften nicht beeindrucken lassen. Auch wenn die Institutionen der Union gegenwärtig vor allem die einzelnen Bürger:innen fragen, so entscheiden über wesentliche Integrationsschritte am Ende doch die Mitgliedstaaten. Und in den politischen Öffentlichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten haben die europäischen Gewerkschaften in der Regel ein starkes, ein entscheidendes Wort mitzureden. Mit anderen Worten: Gegen die europäischen Gewerkschaften ist kein wesentlicher Integrationsschritt möglich. Nichts hindert die europäischen Gewerkschaften daran, dieses Blockadepotenzial in Gestaltungsmacht umzumünzen. Erforderlich ist dafür nur der Wille, nicht auf die ökonomischen Vorteile für den je eigenen Mitgliedstaat zu sehen, sondern sich auf ein Programm im einheitlichen Interesse all derjenigen zu verpflichten, die in der Europäischen Union ihr Leben in abhängiger Beschäftigung verdienen.