EU-Industriepolitik – Strategisch im Umgang mit Klimakrise, Digitalisierung und De-Globalisierung?

27. April 2021

Große Herausforderungen – aber auch Chancen

Am Beginn des neuen Jahrzehnts steht Europa vor großen Herausforderungen. Die COVID-19-Pandemie ist dabei nur eine Ouvertüre zu den großen strukturellen Veränderungen, die die europäische Wirtschaft in den kommenden Jahren maßgeblich prägen werden. Die Notwendigkeit, die energetische Basis unseres Wirtschaftsmodells auf neue und vor allem erneuerbare Beine zu stellen, stellt dabei nur eine der großen Herausforderungen dar. Bioökonomie, Kreislaufwirtschaft und der Umbau unserer bestehenden Infrastrukturen in Richtung einer nachhaltigen und CO2-neutralen Nutzung und Produktion stellen eine tiefgreifende Umorientierung dar. Hinzu kommt noch die rasant voranschreitende und umfassende Digitalisierung. Diese Herausforderungen bergen aber auch enorme Potenziale für zukünftige Beschäftigung und Wertschöpfung innerhalb Europas.

Die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union reagiert damit nicht nur auf die generellen Entwicklungen der Dekarbonisierung und Digitalisierung, sondern auch auf den interventionistischen wirtschafts- und industriepolitischen Ansatz Chinas und auf die protektionistischen Tendenzen in den USA. Diese Entwicklungen verlangen nach einer europäischen Antwort und haben den Ruf nach einer aktiven und strategischen Industriepolitik lauter werden lassen. Die EU aktualisiert ihre im März 2020 vorgestellte Industriestrategie daher bereits nach einem Jahr. Die neue Version wird am 28. April 2021 erwartet. Im Gegensatz zu Österreich, wo die Standort- bzw. Industriestrategie 2040 noch im Ankündigungsstadium verharrt.

Die Europäische Union ändert ihre Strategie

Damit zeichnet sich eine teilweise Umorientierung in der europäischen Industriepolitik ab, denn bisher verfolgte die EU einen horizontalen industriepolitischen Ansatz, der auf Wettbewerb, Technologieoffenheit, den Schutz geistigen Eigentums und die Förderung von Exzellenzinitiativen in Hochschulen, Forschung und Lehre setzte. In Reaktion auf das sich verändernde geopolitische Umfeld traten in der letzten Zeit sukzessive vertikale Ansätze in den Vordergrund. Mit der European Digital Decade, der Industrie- und KMU-Strategie und dem European Green Deal stellt sich die EU industriepolitisch neu auf. Die Gelder dafür soll der EU-Haushalt (30 Prozent sind für Klimamaßnahmen vorgesehen) und die „Fazilität für den Wiederaufbaufonds“ bereitstellen. Letztere beinhaltet ebenfalls Quoten für digitale (20 Prozent) und klimapolitische Maßnahmen (37 Prozent). Aufbauend auf der Idee des Juncker-Plans, der Invest-EU-Initiative und der Neuausrichtung der Europäischen Investitionsbank hin zu einem stärkeren Fokus auf die Finanzierung der Energiewende und des grünen Strukturwandels, können die Strategien als umfassendes industrie- und wirtschaftspolitisches Programm angesehen werden, welches im Gegensatz zu früher eine viel stärkere Betonung des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Steuerung bei der Strategie zur Erreichung des Ziels von nachhaltigem Wachstum sowie digitalen und klimarelevanten Investitionen erkennen lässt.

Trotz der oft vorgebrachten Kritik an der grundsätzlich doch sehr marktzentrierten Perspektive und am Fehlen von stärker lenkenden Elementen in den beiden Schwerpunktprogrammen, um einen sozialen, nachhaltigen und fairen Umbau zu erreichen, stellen diese – und die sie begleitenden Initiativen, legislativen Richtlinien und Verordnungen – eine Neuorientierung hin zu einer aktiveren Industriepolitik dar. Dennoch hat insbesondere die Industriestrategie die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zum Ziel. Dies soll auch in einem engen Monitoring überwacht werden.

Strategie benötigt! Industriepolitik ist mehr als das Schielen auf Industriequoten

In den Diskussionen um die wirtschaftspolitische Reaktion auf die geopolitischen Herausforderungen, die Klimakrise und nun auch die Corona-Pandemie erweitert sich dieser einseitige industriepolitische Fokus auf spezifische Kennzahlen (z. B. Industrie-Quoten) zunehmend um eine strategische Ausrichtung.

Industriepolitik wird nun breiter gedacht, setzt im Bereich Wettbewerbsrecht und Digitalisierung neue Schwerpunkte und präsentiert sich nun im Angesicht der Klimakrise als wirtschaftspolitische Strategie, welche auch das Umfeld für die Erzeugung erneuerbarer Energien, den Umgang mit Ressourcen in einer Kreislaufwirtschaft und das Thema der grünen Finanzierung (z. B. green bonds, green loans etc.) einschließt. Damit soll eine neue Entwicklungsstrategie etabliert werden, die der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung ein Ziel und einen Rahmen gibt. Ziel ist dabei nicht die sozial-ökologische Transformation unserer Produktions-, Arbeits- und Konsumweisen, sondern die weitere Entfaltung „grüner“ Wachstumspotenziale und der Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.

Es steht also eine umfassende industrie- und wirtschaftspolitische Strategie auf der Agenda, mit dem Ziel, spezifische Wertschöpfungsketten zu entwickeln. Als zukunftsweisend wurden dabei die Schlüsseltechnologien Mikroelektronik, Hochleistungscomputer und Batteriezellfertigung identifiziert. Daneben wurden sechs weitere wichtige strategische Wertschöpfungsbereiche für Europa genannt: vernetzte, saubere und autonome Fahrzeuge, Smart Health, CO2-arme Industrie, Wasserstofftechnologien und -systeme, Internet der Dinge und Cybersecurity. Die Entstehung bzw. Förderung dieser zentralen Wertschöpfungsketten soll mittels länderübergreifender Industrieallianzen und mithilfe des Beihilfeinstruments der „Important Projects for Common European Interest“ (IPCEI) erfolgen. Dieses Instrument erlaubt staatliche Beihilfen über den Forschungsbereich hinaus bis hin zur „ersten gewerblichen Nutzung“. Österreich versucht im Bereich Mikroelektronik, Batterien und Wasserstoff sich ebenfalls in diese neuen europäischen Wertschöpfungsketten einzuklinken.

Mit der COVID-19-Pandemie trat zusätzlich noch die Frage nach einer strategischen wirtschaftspolitischen Autonomie Europas bei Arzneimittel- und Medizinprodukten stärker ins Zentrum der politischen Bestrebungen. Und so verfolgt die EU nun doch einen inhaltlich relativ breiten Ansatz in Sachen Strukturwandel.

Industriepolitik 5.0: Wie geht es weiter?

Der Versuch, in der EU aktive Industriepolitik zu betreiben, ist angesichts der großen Herausforderungen jedenfalls zu begrüßen. Es wird sich jedoch noch zeigen, ob es gelingt, eine wirklich umfassende Industriestrategie zu entwickeln, die strategische Wertschöpfungsketten in der EU etabliert, um Beschäftigung und nachhaltigen Wohlstand für den europäischen Binnenmarkt zu erzeugen und zu sichern.

Der strukturelle Wandel von Industrie und Wirtschaft, den die EU in den nächsten zehn Jahren bewältigen muss, wird aber auch zu VerliererInnen und GewinnerInnen führen. Es stellen sich somit Fragen, wer vom notwendigen raschen Umbau hin zu einer ökologisch nachhaltigen und zukunftsfähigen Industrie profitiert und wer davon benachteiligt wird. Damit wird auch deutlich, dass ein solcher Strukturwandel im Kern eine soziale und verteilungspolitische Frage in mehreren Dimensionen darstellt. Einerseits im Hinblick auf die unterschiedliche Betroffenheit durch die Auswirkungen der Klimakrise, andererseits hinsichtlich der Frage eines sozial ausgewogenen Lastenausgleiches in der Finanzierung wichtiger Investitionen sowie Fragen der Teilhabe, der demokratischen Gestaltung und der regionalpolitischen Zielsetzungen. Die verteilungspolitische Dimension muss aufgrund ihres faktischen Stellenwertes gemeinsam mit der Beschäftigungspolitik ins Zentrum der politischen Initiativen rücken.

Es braucht dringend beschäftigungspolitische Ziele

Das Fehlen von expliziten beschäftigungspolitischen Zielen wiegt umso schwerer, als Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer substanziellen Veränderung von Beschäftigungsmöglichkeiten, Qualifizierungserfordernissen und strukturellen Änderungen im branchenspezifischen Arbeitsvolumen führen werden. Das Beispiel MAN Steyr zeigt, wie schnell Veränderungen eintreten können und wie nötig Schutzbestimmungen und Mitspracherechte für ArbeitnehmerInnen sind. Immerhin arbeiten aktuell rund 24 Prozent der Beschäftigten in der EU im Industriesektor. Je nach Industriezweig werden sie unterschiedlich stark von den Anforderungen der Digitalisierung und Dekarbonisierung betroffen sein. Konfrontiert mit den Herausforderungen der COVID-19-Krise und der damit verbundenen Rekordarbeitslosigkeit wie auch mit dem mittel- bis langfristigen Strukturwandel hin zu einer digitalen und CO2-neutralen Industrie, braucht es umfassende regional- und beschäftigungspolitische Strategien. Die derzeit bereitgestellten Mittel über den Just Transition Fund reichen in Anbetracht des Umfangs der Herausforderungen sicherlich nicht aus, um im Prozess des Wandels in ausreichendem Maße Perspektiven für betroffene Regionen und Beschäftigte zu schaffen. Im Zuge des Strukturwandels braucht es Programme, die es einerseits erlauben, die Qualifikationserfordernisse in aufstrebenden „Zukunftsfeldern“ zu erfüllen und in diesen Bereichen neue Möglichkeiten für Beschäftigte zu schaffen, und andererseits eine grundsätzliche wirtschaftspolitische Orientierung hin zu mehr Zeitwohlstand und zu einer besseren Verteilung des bestehenden Arbeitsvolumens. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die dazu genutzt werden können, sind mannigfaltig und reichen von Kurzarbeitsmodellen mit Qualifizierungsmöglichkeiten und Transformationsarbeitsstiftungen bis hin zu Modellen der Arbeitszeitverkürzung.

Der industrielle Strukturwandel muss aktiv gestaltet werden

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Der industrielle Strukturwandel verlangt daher ein politisches Commitment zur aktiven Gestaltung des Wandels unter Einbeziehung aller relevanten AkteurInnen. Politik, Verwaltung, Sozialpartner und die Zivilgesellschaft müssen im Rahmen von regionalen Transformationskommissionen (angelehnt an die deutsche Kohlekommission oder kanadische bzw. US-amerikanische Transition Towns) gemeinsam lokale und regionale Lösungen für die Dekarbonisierung erarbeiten. Diese Transformationskommissionen sind in einer Industriestrategie als zentraler Bestandteil zu verankern.

Außerdem braucht es ein europäisches und gesamtstaatliches Strategie- und Maßnahmenbündel, welches Planungssicherheit gibt, einen umsetzbaren Transformationspfad vorzeichnet, regionsspezifisch beim Eintritt in neue Märkte unterstützt und die Basis für neue nachhaltige Wertschöpfungsketten legt. In einem solchen Transformationsprozess muss jedoch auch klar sein, dass sich Unternehmen, die in der Dekarbonisierung regional- und industriepolitisch unterstützt werden, zu Auflagen zur Standortsicherung und zur Mitsprache der Beschäftigten im gesamten Prozess bekennen und verpflichten müssen. Ein so umfassender Transformationsprozess kann nämlich nur gelingen, wenn er politisch gemeinsam getragen wird.

Während die sektorspezifischen und gesamtstaatlichen Zielkorridore den Rahmen im Großen setzen, braucht es auf betrieblicher Ebene Landkarten der Dekarbonisierung zur (Neu-)Ausrichtung der Unternehmen hin zu einer CO2-freien Produktion. Insbesondere müssen dabei im Umstellungsprozess bestehende Konversionspotenziale vollumfänglich nutzbar gemacht werden, um Arbeitsplätze abzusichern oder sogar neue zu schaffen. Dies muss im engen Dialog mit den Beschäftigten und deren BetriebsrätInnen geschehen, um erstens deren Know-how miteinzubeziehen und zweitens auch Unsicherheiten im Umbau bestmöglich zu reduzieren. Die gemeinsam erarbeiteten betrieblichen Dekarbonisierungslandkarten müssen dabei neben den technischen Umsetzungsschritten auch die jeweiligen Investitionspläne enthalten. Flankiert werden müssen sie außerdem mit einem Impact-Assessment hinsichtlich der Auswirkungen der Dekarbonisierungsprozesse auf Wertschöpfung, Beschäftigung und der für die Dekarbonisierung der Produktion notwendigen Qualifikationen.

Österreich wie auch viele mittel- und osteuropäische Industrien stehen hierbei vor zusätzlichen Herausforderungen. Insbesondere in der automotiven Zulieferindustrie bestehen oftmals starke Abhängigkeitsverhältnisse von Unternehmensentscheidungen der Headquarters oder Auftraggebern im Ausland. Standort- und Investitionsentscheidungen fallen in dieser Konstellation dann nicht vor Ort, sondern in anderen räumlichen oder politökonomischen Zusammenhängen. Gerade in solchen Konstellationen ist die Politik gefordert, Standortsicherheit zu gewährleisten. Die Politik ist hier also sowohl auf lokaler und regionaler als auch auf gesamtstaatlicher Ebene in Verantwortung und Pflicht. Mit dem Versprechen der Europäischen Kommission, niemand zurückzulassen („to leave no one behind“), ist auch sie aufgefordert, sich länderübergreifende Governance-Prozesse zu überlegen, die das Einlösen dieses Versprechens in allen EU-Staaten möglich machen können.

Gerade in der Frage der Gestaltung des Strukturwandels stellt sich auch die bisher in den Diskussionen unterbelichtete Frage nach Rolle und Bedeutung öffentlicher Unternehmen und öffentlicher Beteiligungen. Der öffentliche Sektor und staatliche Beteiligungen könnten als Motor und Vorbild für die konkrete Maßnahmenumsetzung und wirtschaftspolitisch-strategische Ausrichtung wirken. Gerade im Bereich Infrastruktur im weitesten Sinne, aber auch in der öffentlichen Beschaffung kommt hier dem öffentlichen Sektor eine bedeutende Rolle zu. Die Bewältigung der Krise – sei es die Corona- oder die Klimakrise – vor allem dem Markt zu überlassen, erscheint unzureichend und als Fehler, sind doch beide Krisenelemente Ausdruck und Konsequenz eines nicht nachhaltigen Systems. Wenn auch in der Bewältigung der Corona-Krise enorme staatliche Unterstützungen gefordert und zugesagt wurden, so kann doch nicht von der Rückkehr des Staates als öffentlicher Eigentümer oder Unternehmer gesprochen werden. Bislang hat der Staat mit marktbasierten oder marktkonformen Instrumenten interveniert, und die Staatstätigkeit blieb auf den Zeitraum des fehlenden bzw. versagenden Marktes begrenzt.

Mit Blick auf die mit dem Strukturwandel verbundenen Herausforderungen wird deutlich, dass ein gerechter Strukturwandel nur dann gelingen kann, wenn eine abgestimmte Geld- und Fiskalpolitik sowie ökologische, soziale und Verteilungsfragen im Zentrum stehen. Dies bedeutet in der wirtschaftspolitischen Programmentwicklung ein Zusammendenken von Industrie-, Technologie-, Regional-, Verteilungs-, Klima-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik. Die europäische Politik setzt mit ihren Initiativen, der europäischen „digitalen Dekade“, der Industriestrategie und dem European Green Deal dahingehend erste Schritte. Doch auch diese können durch ihren Fokus auf privates Kapital, marktbasierte Lösungen und (materielles) Wachstum ihre grundsätzlichen industrie- und regionalpolitischen Potenziale nicht ausschöpfen.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung