Digitale Ungleichheit in Österreich: Warum wir jetzt darüber reden müssen

19. Oktober 2020

ArbeitnehmerInnen werden regelmäßig vonseiten der Wirtschaft dazu angehalten, sich neue Kompetenzen anzueignen, um im Wettkampf mit digitalen Technologien Schritt halten zu können. Jedoch sind diese „neuen“ digitalen Kompetenzen entlang der üblichen Dimensionen sozialer Ungleichheit ungleich verteilt. So entsteht eine Form der digitalen Ungleichheit, die alte Ungleichheitsmuster reproduziert. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass digitale Kompetenz auch durch Learning by Doing erworben wird. Der Kampf gegen digitale Ungleichheit kann also nicht ausschließlich über formelle Bildungsinitiativen gewonnen werden, sondern muss an der Wurzel der sozialen Ungleichheit ansetzen.

Von der digitalen Kluft zur digitalen Ungleichheit 

Debatten rund um die voranschreitende Digitalisierung des Arbeitsmarkts kreisen gerne darum, dass diese Chancen und Risiken birgt. Das Problem jedoch ist: Die Chancen und Risiken sind ungleich verteilt. Ein wesentlicher Aspekt ist der ungleiche Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) entlang der Dimensionen sozialer Ungleichheit (Geschlecht, Alter, Bildung etc.), der seit den 90er-Jahren unter dem Begriff digitale Kluft oder auch „first level divide“ erforscht wird. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche IKT-Nutzung nach soziodemografischen Merkmalen – die sogenannte digitale Ungleichheit oder auch der „second level divide“. Während die digitale Kluft mit der zunehmenden Verbreitung von IKT weiter in den Hintergrund der Öffentlichkeit rückt, verschiebt sich der Fokus vermehrt auf die digitale Ungleichheit in der Bevölkerung, der meist mit der Förderung von digitalen Kompetenzen entgegengewirkt werden soll. Dafür benötigt man jedoch Kenntnisse über die Verteilung digitaler Kompetenzen.

Soziale Herkunft und digitale Ungleichheit in Österreich

Um die digitale Kompetenz der erwerbsfähigen Bevölkerung in Österreich zu vergleichen, verwenden wir repräsentative OECD-Daten, die 2011/12 erhoben wurden. Dazu fokussieren wir auf die Testvariable „Technologiebasiertes Problemlösen“ (PSTRE). Aufgaben, die im Rahmen des Tests gestellt werden umfassen beispielsweise das Sortieren und Versenden von E-Mails, die Bearbeitung virtueller Formulare oder die Beurteilung des Informationsgehalts sowie der Vertrauenswürdigkeit von Internetseiten.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Die Auswertung von PSTRE nach sozialer Herkunft in Abbildung 1 zeigt deutliche Unterschiede zwischen Personen aus Familien mit niedrigem Bildungsstand (kein Elternteil verfügt über einen Sekundarstufe-II-Abschluss) und solchen aus Familien mit hohem Bildungsstand (mindestens ein Elternteil verfügt über einen tertiären Bildungsabschluss).

  • Während 68 Prozent der Männer und 80 Prozent (!) der Frauen aus Familien mit niedrigem Bildungsstand über geringe bis wenig digitale Kompetenz verfügen, ist dies nur für 36 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen aus Familien mit hohem Bildungsstand der Fall.
  • Darüber hinaus fallen 29 Prozent der Frauen aus Familien mit niedrigem Bildungsstand in die unterste digitale Problemlösungskompetenzstufe, während das bei Frauen aus Familien mit hohem Bildungsstand für 8 Prozent der Fall ist.

In einem kürzlich veröffentlichten Forschungspapier konnten wir jedoch zeigen, dass sowohl die Geschlechterunterschiede als auch die Unterschiede in Bezug auf die soziale Herkunft großteils verschwinden, sobald man die Intensität der IKT-Nutzung im Alltag kontrolliert. Da der Test zur Ermittlung der digitalen Problemlösekompetenz Bereiche umfasst, die in der IKT-Nutzung abgefragt werden, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der digitalen Problemlösekompetenz um eine Learning-by-Doing-Fähigkeit handelt. Anders gesagt, wer beispielsweise im Alltag häufig Excel benutzt, ist auch in der Lage, komplexere Testaufgaben mithilfe von Excel zu lösen. Das bedeutet aber in weiterer Folge, dass die Möglichkeit zur Nutzung von IKT gegeben sein muss, um die individuelle digitale Kompetenz zu verbessern. 

COVID-19-Pandemie zeigt Herausforderungen der Digitalisierung 

Insbesondere durch die Schulschließungen während der COVID-19-Pandemie wurde deutlich, dass selbst in reichen Ländern wie Österreich der „first level divide“ noch immer eine Rolle spielt. Beispielsweise mussten für SchülerInnen, die keine Möglichkeit hatten, auf digitale Infrastruktur zurückzugreifen, Endgeräte leihweise zur Verfügung gestellt werden. Es macht einen großen Unterschied für die Qualität des Fernunterrichts, ob ein eigener Laptop zur Verfügung steht, der Familiencomputer geteilt oder mit einem Tablet oder Smartphone gearbeitet wird. Oder auch, ob überhaupt ein entsprechendes Gerät im Haushalt verfügbar ist. Darüber hinaus ist es keine Selbstverständlichkeit, dass jeder Haushalt über unlimitiertes Datenvolumen und schnelle Internetverbindung verfügt. Beides ist aber notwendig, um am Online-Unterricht teilzunehmen – ein Problem, das möglicherweise auch viele StudentInnen betrifft. Gleichzeitig waren viele Personen in dieser Zeit regelrecht dazu gezwungen, sich intensiver und eventuell zielgerichteter als sonst mit digitalen Technologien auseinanderzusetzen. Dies könnte sich durchaus positiv auf die digitale Kompetenz benachteiligter Personen auswirken.

Fazit

Digitale Ungleichheit kann als Symptom bestehender Ungleichheitsstrukturen verstanden werden, welches Ungleichheitsmuster reproduziert und möglicherweise verstärkt. Verschärfend kommt hinzu, dass die Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien nicht nur die Arbeitswelt verändert, sondern für immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein gewisses Mindestmaß an digitaler Kompetenz benötigt wird. Ein wesentlicher Schritt zur Überbrückung der digitalen Kluft besteht in der Bereitstellung des Internets als öffentliches Gut sowie in der gerechten Verteilung ökonomischer Ressourcen. Darüber hinaus müssen Berührungsängste mit den Technologien abgebaut werden. Das könnte beispielsweise durch gezielte Informationskampagnen zur Förderung des Selbstlernens in Kombination mit formalen Bildungsinitiativen erreicht werden.

Dennoch sollten politische EntscheidungsträgerInnen hinterfragen, inwieweit es vernünftig ist, die Verantwortung für den Kampf gegen digitale Ungleichheit auf die Individuen abzuwälzen. Zielführender wäre es, den Fokus auf die bekannten Dimensionen der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft zu legen, damit gesellschaftliche Partizipation im Zeitalter der Digitalisierung nicht zu einer Frage der soziodemografischen Struktur verkommt.

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