Die Rahmenbedingungen haben sich seit der Herausbildung der österreichischen Sozialpartnerschaft in den 1950er-Jahren bis heute stark gewandelt. Ihre Grundfunktion, eine institutionalisierte Konfliktarena zur friedlichen Austragung von Interessengegensätzen zu sein, hat sie allerdings keineswegs eingebüßt.
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Strukturen einer neo-korporatistischen Verhandlungsdemokratie besser in der Lage sind, den Eigeninteressen kapitalstarker Konzerne und Gruppen Einhalt zu bieten.
Das heute in den westlichen Industriestaaten dominante Gegenmodell organisierter Interessenvertretung lässt sich aktuell besonders gut in den Vereinigten Staaten studieren. Große Konzerne wie Amazon, Apple, Facebook und Uber lobbyieren erfolgreich bei Gesetzgeber und Regierungen auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene, bezahlen wenig bis keine Steuern und hebeln das ohnehin niedrige Niveau an Arbeitnehmerrechten aus. Pluralistische Modelle der organisierten Interessenvertretung mit ihrer großen Zahl an partikularistischen Gruppen und Lobbyisten stärken die bereits mächtigen Akteure während weniger durchsetzungsfähige Gruppen und deren Anliegen durch diese dominiert oder ignoriert werden. Zwei Folgen sind die eklatante soziale Ungleichheit und eine monopolartige Wirtschaftsstruktur zulasten der unternehmerischen Vielfalt (beispielweise im Buchhandel und Verlagswesen oder im Personentransport).
Historische Sehnsucht nach friedlichen Lösungen
Es ist kein Zufall, dass sich sozialpartnerschaftliche, neo-korporatistische Muster der demokratischen Willensbildung in Österreich herausgebildet haben. Die blutigen Konflikte der Zwischenkriegszeit und das unbeschreibliche Leid im zweiten Weltkrieg haben die Sehnsucht nach einem friedlichen und gedeihlichen Zusammenleben aller gesellschaftlichen Gruppen gestärkt. Eine offensichtliche, aber weniger häufig zitierte Ursache für den österreichischen Neo-Korporatismus benennt Peter J. Katzenstein, der in seinen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen große und kleine Staaten vergleicht. Das Territorium, das Staaten wie Österreich kontrollieren und verwalten müssen, ist schlichtweg kleiner, das Reisen ist weniger zeitintensiv und „wenn Sie in der Landeshauptstadt eine Feier ausrichten wollen, können Sie hierzu relativ einfach alle wichtigen politischen EntscheidungsträgerInnen einladen“ (Katzenstein 2003, S. 11, eigene Übersetzung). Der hohe Grad an personeller und funktioneller Verflechtung zwischen den Großparteien ÖVP und SPÖ und den ihnen nahestehenden Interessenorganisationen (WKO, Landwirtschaftskammer, AK und ÖGB) ist daher auch eine Folge der räumlichen Nähe – ein sozialer Tatbestand, der selbstverständlich auch auf alle anderen Parteien zutrifft, die in den Nationalrat, die Regierung oder in die Entscheidungsgremien der Gewerkschaft, Arbeiter- oder Wirtschaftskammern gewählt werden. Katzenstein weist noch auf eine weitere wohlbekannte Ursache für die gedeihliche Entwicklung der kleinen offenen österreichischen Volkswirtschaft hin: Ökonomische Schocks (etwa die Stagflationskrise der 1970er-Jahre oder die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008) und politische Herausforderungen (etwa der Beitritt zur Europäischen Union 1995) werden unter Einbeziehung aller großen gesellschaftlichen Gruppen erfolgreich im Verhandlungsweg beantwortet, wodurch sich die institutionelle Lernkapazität und die Fähigkeit zur Adaption internationaler Entwicklungen erhöhen.
Mitgliederorientierung und -mobilisierung notwendig
Die hohe Konzentration der Interessenverbände und – ungeachtet ihrer jeweiligen soziökonomischen Stärke – sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen auf Augenhöhe haben allerdings zu einer Überbetonung der Einflusslogik zulasten der Mitgliedschaftslogik geführt. Die privilegierte Einbindung der Dachverbände von WKO, AK, ÖGB und Landwirtschaftskammer in den Prozess der Politikformulierung und der Implementierung gesetzlicher Regelungen sowie der Teilorganisationen von WKO und ÖGB in kollektivvertragliche Verhandlungen haben vielfach zu einer Ausblendung von Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen und Interessenlagen beigetragen. Als Beispiele lassen sich etwa die stark wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, atypische Beschäftigungen sowie eine höhere Sensibilität für die Umwelt und ökologische Krisen benennen. Erzielte Abschlüsse in Kollektivvertragsverhandlungen kommen einem wachsenden Teil der atypisch, diskontinuierlich und prekär Beschäftigten nur mehr eingeschränkt zugute (Eppel, Leoni, Mahringer 2017); die verstärkte Polarisierung des österreichischen Arbeitsmarktes seit 1995 hat insbesondere die Position von MigrantInnen erheblich verschlechtert (Fernández-Macías, Hurley, Storrie 2012). Als positive Antworten auf diese Entwicklungen sind z. B. die Flexpower-Beratung, bei der ÖGB, Gewerkschaften und die AK Wien eine Erstberatung für freie DienstnehmerInnen und Neue Selbstständige anbieten, die Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender (UNDOK) und das ÖGB-Kompetenzforum Migration in Oberösterreich zu nennen.
Wie bereits in der Regierungszeit der ÖVP/FPÖ-BZÖ-Koalition in den Jahren 2000 bis 2006 ist zu erwarten, dass die neo-korporatistischen Muster in der wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungsfindung und Implementation von Gesetzen erheblich beeinträchtigt werden. In der aktuellen Regierungskonstellation könnte neben dem ÖGB und der AK, auch die WKO eine Schwächung erfahren. Die Abschaffung der Kammerpflichtmitgliedschaft ist von der FPÖ wieder einmal auf die politische Agenda gesetzt worden. Obwohl die WKO und die AK über eine relativ hohe Legitimität unter ihren Mitgliedern verfügen (Tálos 2015), wird diesmal wohl eine stärkere Mitgliederorientierung und -mobilisierung erforderlich sein, um massive Einschnitte in die Mitbestimmungs- und Finanzierungsstrukturen der Kammern zu verhindern.
Es stehen die kollektivvertraglichen Mindeststandards auf dem Spiel
Neben der seit 2007 wieder stärker privilegierten Beteiligung der Sozialpartner an der Willensbildung und Implementierung sozial- und arbeitsmarktpolitischer Gesetze zeichnet sich das österreichische neo-korporatistische Modell durch einen im internationalen Maßstab ausgesprochen hohen kollektivvertraglichen Deckungsgrad aus. Eine beinahe 100-prozentige Deckungsrate durch Branchenkollektivverträge bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten kollektivvertragliche Mindeststandards, ein 13. und 14. Monatsgehalt sowie in einigen Fällen auch eine jährliche Ist-Lohnerhöhung ihrer laufenden Bezüge genießt. Für die Arbeitgeberseite bedeuten Kollektivverträge neben den größeren Spielräumen zur Flexibilisierung der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen vor allem die Bewahrung des betrieblichen Friedens. Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle (diese entspricht zwei Dritteln des Medianbruttostundenlohns) liegen im internationalen Vergleich auf relativ niedrigem Niveau (2014: 14,8 %) und im Vergleich zu Deutschland (2014: 22,5 %) ist der österreichische Niedriglohnsektor im letzten Jahrzehnt auch in geringerem Ausmaß gewachsen (Teitzer, Fritsch, Verwiebe 2014).