Ratingagenturen spielen in politischen Debatten eine große Rolle. Immer wieder wird argumentiert, man müsse die aktuelle Wirtschaftspolitik so gestalten, dass man gute Ratings, z.B. für einzelne Länder, nicht verliere. Zuletzt haben wir das bei den Milliardenzuschüssen für die angeschlagene Hypo Alpe Adria gehört. Das Urteil der Ratingagenturen formt offenbar den Rahmen für die Politik. Aber diese Macht der Ratingagenturen kann nicht aus der Qualität ihrer Ratings erklärt werden.
Die zwei großen Ratingagenturen Moodys‘ und Standard & Poor’s verfügen deswegen über so viel Einfluss,
- weil ihnen die USA gesetzlich umfangreiche Kontrollrechte eingeräumt haben,
- die schrittweise auf die ganze Welt ausgedehnt wurden und auch
- in verbindlichen Regelungen, wie Basel II, und in vielen privaten Verträgen sowie in
- Bestimmungen der EU zu finden sind.
Macht trotz Fehlbewertungen?
Aus den letzten zwanzig Jahren sind viele krasse Fehlbewertungen von Ratingagenturen bekannt, z.B. in der Asienkrise (1997 und 1997), bei den Bankrotts von Enron (2001), WorldCom (2002) oder Parmalat (2003) oder in der Finanzkrise ab 2007. In vielen Fällen kam der Absturz von Finanzinstitutionen und Finanztiteln auch für die Agenturen überraschend. Oft haben sie noch Tage vor dem Crash Höchstnoten vergeben.
Die jahrelangen Fehlbewertungen haben den Einfluss von Ratingagenturen in keiner Weise geschmälert. Ihre Stellung hängt nicht von der Qualität ihrer Bewertungen ab. Fehlbewertungen werden nicht durch sinkende Nachfrage „bestraft“. Eine solche Reaktion wäre im herkömmlichen Angebots-Nachfrage-Denken zu erwarten. Bei schlechten Bewertungen müssten Kunden abwandern und sich andere Agenturen suchen. Aber der Markt für Ratings ist kein Konkurrenzmarkt. Er wird von zwei großen Firmen dominiert: Moodys‘ und Standard & Poor’s (S&P), die ungefähr 80 Prozent des gesamten Marktes kontrollieren. (Fitch als drittgrößte Agentur kommt auf gut 15 Prozent. Den Rest teilen sich ungefähr 140 Agenturen, welche meist auf einen lokalen Markt spezialisiert sind.)
Der Einfluss der Ratingagenturen kann also nicht aus der Qualität ihrer Ratings erklärt werden. Er muss institutionell verstanden werden: aus der Stellung der großen Agenturen im globalen Finanzsystem. Diese üben eine weltweite Steuer- und Kontrollfunktion aus. Man schätzt, dass alleine Moody’s und S&P über die von ihnen erteilten Ratings den Fluss von rund 80 % des gesamten Weltkapitals beeinflussen. Aber diese beiden Firmen sind verglichen mit großen Banken „finanzielle Zwerge“: S&P z.B. hat nur ein Zehntel des Umsatzes von Goldman Sachs. Wie kommen so „kleine“ Firmen in eine Rolle, in der sie die größten Banken und sogar Staaten in ernsthafte Schwierigkeiten bringen können?
Eine vom Staat verliehene Macht
Die Stellung der großen Ratingagenturen hat in hohem Maße mit der Politik der USA zu tun. Seit den 30er -Jahren des 20. Jahrhunderts dürfen nationale und in den USA registrierte Banken ihre Anleihen nur noch in Abhängigkeit von den Standards der Ratingagenturen bewerten. Sie dürfen auch nicht oder nur eingeschränkt in Wertpapiere mit schlechten Ratings investieren. Ähnliche Regelungen gibt es für Versicherungen, ab den 70er Jahren auch für öffentliche Pensionsfonds. (Die Pensionsfonds sind auf vielen Aktenmärkten die größten Nachfrager.) 1975 wurde von der US-Regulierungsbehörde Securities and Exchange Commission (SEC) ein neuer Status „registrierter“ Ratingagenturen geschaffen. Sie sind gesetzlich mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet, welche die Macht der „großen Drei“ zementiert. Hunderte von Gesetzen nehmen in den USA auf Agenturen mit diesem Status Bezug. Die großen Ratingagenturen operieren auf einem vom Staat geschaffenen Markt, der unabhängig von der Qualität der Ratings am Leben erhalten wird. Ratingagenturen können auch für ihre Bewertungen gerichtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Ausgehend von den USA wurde der Einfluss der großen Agenturen schrittweise auf die ganze Welt ausgedehnt. Ihre aktuelle Macht ist mit der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie von Deregulierung und der zunehmenden Komplexität der Finanzprodukte gewachsen. Diese Ideologie begünstigte bekanntlich eine „Entfesselung“ der Finanzmärkte, das Entstehen neuer Finanzinstitutionen (wie Schattenbanken) und den Wandel des Wirtschaftssystems zu einem Finanzkapitalismus.
Ein wichtiger Schub geschah unter der Regierung Reagan. Hier wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds neoliberal ausgerichtet. Kredite an Staaten wurden dabei von Ratings abhängig gemacht, vorher waren Ratings für Staaten kaum relevant. Auf diese Weise kamen die Ratingagenturen in den Status von „Schiedsrichtern“ über einzelne Länder. Seither beurteilen sie die Kreditwürdigkeit von Staaten und damit die Bedingungen, unter denen nationale Budgets auf internationalen Kapitalmärkten finanzieren werden können. Dieser Trend setzte sich weiter fort. Heute werden von den Ratingagenturen immer kleinere Gebietskörperschaften bewertet. Das Rating für ein Land oder eine Region ist dabei in vielen Fällen auch für die jeweiligen inländischen Unternehmen bedeutsam. Die Abstufung eines Landes hat oft eine Abstufung der in diesem Land beheimateten Unternehmen zur Folge.
Folgewirkungen von Ratings
Der Einfluss der Ratingagenturen erstreckt sich jedoch nicht nur direkt auf die bewerteten Posten selbst, sondern auch auf die Folgewirkungen, die ausgelöst werden, wenn Bewertungen verändert werden. Wenn Ratings sich ändern, kann das Reaktionen von Finanzakteuren auslösen, man spricht von rating triggers. Viele wichtige private Verträge haben rating triggers eingebaut. Werden z.B. Wertpapiere abgewertet, dann müssen manchmal die Emittenten (die die Wertpapiere herausgegeben haben) nachträglich Zahlungen tätigen, um die Sicherheiten ihrer Papiere zu erhöhen. Abstufungen bei wichtigen Finanzpositionen können Firmen in substantielle Schwierigkeiten bringen, indem ihnen z.B. der Zugang zu Refinanzierungsmöglichkeiten oder zu neuer Liquidität verunmöglicht wird. Dies kann in Extremfällen zum Untergang führen – es sind auch Situationen mit multiplen Triggers möglich.
Fast alle Firmen, die Wertpapiere ausgeben, unterliegen rating triggers. In der Finanzkrise 2008 hatte z.B. der Beinahekollaps von AIG, der weltweit größten Versicherung, eine Abwertung von vielen Derivaten zur Folge. Dies führte in einer sich verstärkenden Spirale zur Forderung nach zusätzlichen Sicherheiten und höheren Liquiditätsanforderungen. Schlussendlich sah sich die amerikanische Nationalbank Fed gezwungen, Liquidität im Ausmaß von über 100 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen.
Und Europa?
All das ist auch für Europa bedeutsam. Ein wichtiger Bereich sind Ratings im Bankensektor. Sie sind durch das Basel Committee on Banking Supervision (BCBS) vorgeschrieben, welche Regulierungsbefugnisse für den Bankensektor innehat. Obwohl diese Einrichtung weder demokratisch legitimiert noch mit einer gesetzlichen Basis ausgestattet ist, wurden ihre Festlegungen in viele Ländergesetze übernommen. Bedeutsam für den Einfluss der Ratingagenturen in Europa waren vor allem die Baseler Eigenkapitalsempfehlungen (Basel Capital Accord), Basel II genannt. Seit 2007 sehen Richtlinien der EU vor, dass alle Kredit- und Finanzdienstleister-Institute in der EU diese Bestimmungen anzuwenden haben. Auf diese Weise bekamen die Ratingagenturen in Europa direkten Einfluss auf die Bilanzierung von Banken und Investmentgesellschaften. Nach Basel II muss jede Bank jedes einzelne Portfolio hinsichtlich ihres Risikos bewerten. Im Standardansatz ist das Kreditausfallrisiko von einer Ratingagentur festzulegen – die großen Firmen verwenden allerdings meist eigene Modelle.
Viele andere EU-Verordnungen zementieren die Macht der großen amerikanischen Agenturen. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) stützt ihre laufenden Geschäfte auf deren Bewertungen. Banken, die sich von der EZB Geld leihen wollen, haben laut Satzung „ausreichende Sicherheiten“ zu hinterlegen. Diese „ausreichende Sicherheit“ ist durch das Rating von anerkannten Ratingagenturen zu belegen. Im Zuge der Finanzierungskrise einzelner Eurostaaten wurden diese Bestimmungen etwas aufgeweicht, aber die Rolle der Agenturen nicht ernsthaft in Frage gestellt. Selbst die angestrebte Lösung für die Krise von Eurostaaten und Banken bestätigt die quasi-hoheitliche Funktion der Ratingagenturen. Auch die europäischen „Rettungsfonds“ EFSF und ESM sind bei den Kosten ihrer Refinanzierung vom Urteil der Ratingagenturen abhängig.
Ratingagenturen als quasi-hoheitliche Instanzen
Ratingagenturen, die das finanzielle Schicksal von Firmen und Länder beeinflussen, befinden sich funktional gleichsam außerhalb des Finanzsystems. Sie steuern und beeinflussen Kapitalströme. Ihre Kontroll- und Regulierungsfunktion kann als quasi-hoheitlich bezeichnet werden. Sie liegt bei privaten Akteuren in Form der großen Agenturen, die auch als private Firmen auf der Börse gehandelt werden. Private Rechtssetzung oder -sprechung dieser Art beschreibt eine „Selbststeuerung“ von Teilen des Wirtschaftssystems durch private Firmen. (Andere Beispiele sind die internationalen Standards der Rechnungslegung, die von privaten Gremien festgelegt werden und gesetzlich verpflichtend sind; oder die großen Wirtschaftsprüfer, die die Zuverlässigkeit von Unternehmensinformationen zu bestätigen haben.)
Das globale Finanzsystem unterliegt damit im hohen Maße einem privaten Steuerungsrahmen (der gleichwohl staatlich legitimiert ist), – mit ein Grund, warum manche Teile des heutigen Finanzkapitalismus (wie Schattenbanken oder die Offshore-Ökonomie) gleichsam „unsichtbar“ geworden sind. Das neoliberale Reden von „dem Markt“ (dem „wir“ uns zu unterwerfen hätten) hat die ideologische Funktion, diese „unsichtbar“ ausgeübte Macht von Privaten (und der sie begünstigten „unsichtbaren“ Strukturen) zu verschleiern.
Eine Vertiefung in die im Beitrag angesprochenen Inhalte bietet der folgende Artikel: www.icae.at/wp/wp-content/uploads/2013/06/WP17.pdf.
Merkmale des Finanzkapitalismus werden zusammenfasst in: www.walteroetsch.at/was-ist-finanzkapitalismus-17-merkmale/.
Valerie Bösch bietet einen guten Überblick über die Rolle der Ratingagenturen in der Finanzkrise, auch im Einfluss auf Staaten : http://media.arbeiterkammer.at/PDF/MWuG_Ausgabe_110.pdf