Soziale Polarisierung in Deutschland durch Hartz-Reformen

07. Juni 2018

Die Hartz-Reformen folgten dem sogenannten Aktivierungsparadigma, das tradierte sozialstaatliche Ziele und Prinzipien neu interpretiert. Darüber hinaus war die Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarktes ein weiteres zentrales Element dieser Reformpolitik. Die Konsequenzen waren eine Polarisierung sowohl der Arbeitsmarktteilhabe wie auch der Einkommen bzw. die Verfestigung von Armut. Notwendig ist daher, dass die unteren Einkommenssegmente sozialpolitisch stärker unterstützt und der Arbeitsmarkt sowie die Löhne re-reguliert werden.

Im Mittelpunkt stand dabei die Reorganisation der Arbeitsvermittlung, die Reform der Transfersysteme für Arbeitslose sowie die Umgestaltung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Insbesondere die Streichung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherungsleistung, die zumeist nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eintritt, hat viel Aufmerksamkeit hervorgerufen. Um einen niederschwelligen Arbeitsmarktzugang zu eröffnen, wurden Leiharbeit, Befristungen sowie Teilzeitarbeit, einschließlich der Expansion der sogenannten Mini-Jobs (ohne individuelle Sozialversicherungspflicht), dereguliert und deren Inanspruchnahme ausgeweitet. Ferner bewirkten die verschiedenen Instrumente der Arbeitsförderung zur Unterstützung von Existenzgründungen eine bedeutende Zunahme an Solo-Selbstständigen.

Um die Investitionsbedingungen zu verbessern und die Nachfrage nach Arbeit zu steigern, wurde auch die Flexibilisierung der Tarifpolitik vorangetrieben, u. a. in Form der Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Der Rückgang der Tarifdeckung in Verbindung mit der Zunahme flexibler Beschäftigungsformen, aber auch die Verpflichtung von (Langzeit-)Arbeitslosen, Tätigkeiten anzunehmen, deren Entgelt unterhalb des Tariflohns liegt, begünstigten die Ausbreitung des Niedriglohnsektors. Die Einführung von Branchenmindestlöhnen oder Landesmindestlöhnen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bildete ein vergleichsweise schwaches Gegengewicht, um das Absinken vor allem der unteren Löhne zu verhindern. Entsprechend kam es 2015 schließlich zur Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, der allerdings deutlich unter der Niedriglohnschwelle liegt.

Die zu beobachtende Abnahme der Arbeitslosigkeit sowie die Zunahme der Beschäftigung gingen mit einer Polarisierung sowohl der Arbeitsmarktteilhabe wie auch der Einkommen bzw. der Verfestigung von Armut einher.

Sinken der Arbeitslosigkeit – Beschäftigungsexpansion durch atypische Beschäftigungsformen

Nachdem in 2005 ein absoluter Höhepunkt der Arbeitslosenquote erreichte wurde, gehen die entsprechenden Zahlen seitdem massiv zurück. Dieser Trend wurde allein durch die Finanzkrise im Jahr 2009 kurz unterbrochen. 2015 lag die Arbeitslosenquote bereits bei 7,1 Prozent. Im April 2018 lag sie mit 5,3 Prozent noch deutlich unter diesem Niveau.

Dies ging mit einem Anstieg der Beschäftigten seit 2005 einher. Aktuell werden in Deutschland 44,46 Millionen Erwerbstätige gezählt. Davon sind 2018 knapp 34 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das bis vor kurzem eher mäßige Wirtschaftswachstum erklärt die aufgezeigte Beschäftigungsentwicklung nur bedingt. Entscheidend scheint vielmehr die demografische Entwicklung, die einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zur Folge hatte. Dies wird begleitet vom Trend der steigenden Frauen- bzw. Müttererwerbstätigkeit, der im Zuge der Aktivierungspolitik vor allem durch den Ausbau der Kinderbetreuung massiv verstärkt wurde. Gleichwohl arbeitet die Mehrheit der Mütter in Teilzeit. Der Anteil der im Normalarbeitsverhältnis (unbefristet, Vollzeit) beschäftigten Frauen (im erwerbsfähigen Alter) liegt mittlerweile bei nur noch knapp 30 Prozent, während dieser bei Männern trotz Flexibilisierungswelle weitgehend konstant bei über 60 Prozent liegt. Entsprechend haben insbesondere die verschiedenen Teilzeitformen, also sowohl sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit als auch Mini-Jobs (ausschließlich geringfügige Teilzeit sowie Nebenjobs), massiv an Bedeutung gewonnen. Weitere atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit und Solo-Selbstständigkeit haben ebenfalls stark zugenommen, sind jedoch insgesamt weniger relevant. Der Befristungsanteil stagniert weitgehend.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Steigende Niedriglohnbeschäftigung – Polarisierung der Löhne

Die Flexibilisierung der Lohnsetzungsmechanismen ging mit einer starken Polarisierung der Löhne einher. In den Jahren 2007 bis 2011 mussten die untersten sechs Dezile (Zehntel) Rückgänge bei den Bruttolöhnen hinnehmen. Im untersten Einkommensdezil waren diese Rückgänge mit 6,1 Prozent am stärksten. In den beiden obersten Dezilen waren dagegen sogar leichte Zuwächse von 0,9 bzw. 0,7 Prozent zu notieren. Dabei zeichnen sich nicht nur Differenzen zwischen tariflich und nicht tariflich festgelegten Löhnen ab, sondern auch zwischen verschiedenen Branchen mit Tarifbindung. So konnte die IG-Metall im verarbeitenden Gewerbe für ihre FacharbeiterInnen in den vergangenen 15 Jahren einen Lohnzuwachs für BerufsanfängerInnen von über 60 Prozent durchsetzen, während entsprechende Zuwächse in den sozialen Dienstleistungsberufen, z. B. bei ErzieherInnen, insbesondere aber in der Kranken- und Altenpflege nur bei rund 20 Prozent lagen. Das Auseinanderdriften der Löhne nach Sektoren scheint nicht unerheblich durch die staatliche Austeritätspolitik bzw. die schwindende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften in öffentlich finanzierten Beschäftigungssegmenten bedingt. Aufgrund der Segregation der Beschäftigung in verschiedenen Branchen nach Geschlecht erklärt dies auch partiell die geschlechtsspezifische Lohnlücke, die für Deutschland im Jahr 2013 mit 22 Prozent bei Vollzeitbeschäftigten vergleichsweise hoch ausfällt. Ob die seit 2010 insgesamt wieder deutlich ansteigende Reallohnentwicklung den Polarisierungstrend unterbricht, ist eher fraglich. Die Einführung des Mindestlohns hat lediglich im untersten Dezil zu einem leichten Lohnanstieg geführt.

Die skizzierte Entwicklung trägt insgesamt dazu bei, dass sich die Niedriglohnquote innerhalb von zwei Jahren von 20 auf 22 Prozent 2014 erhöhte und seitdem stagniert. Da Niedriglöhne (auch für Vollzeitbeschäftigte) vor allem in den personen- und konsumbezogenen Dienstleistungsbranchen deutlich höher sind als in den Industriebranchen oder in den tradierten Dienstleistungsbranchen wie beispielsweise bei Banken und Versicherungen, weisen vor allem HaupteinkommensbezieherInnen in Wirtschaftszweigen wie dem Gastgewerbe mit 35,8 Prozent, bei „Heimen und Sozialwesen“ sowie bei „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“ mit rund 20 Prozent in 2012 hohe Armutsrisikoquoten auf.

Soziale Polarisierung

Betrachtet man die Haushaltsebene, geht die aufgezeigte Entwicklung der Beschäftigungsformen mit einer Polarisierung der Erwerbsteilhabe einher: Zwischen 1996 und 2013 ging in Paarhaushalten mit Kindern unter 18 Jahren der Anteil derjenigen, die dem traditionellen Ernährermodell folgten – also eine Vollzeiterwerbstätig mit Nicht-Erwerbstätigkeit verbanden – von 44 auf 35 Prozent zurück. Der Anteil der Zweiverdienerhaushalte in dieser Gruppe hat von 50 auf 55 Prozent zugenommen. Gleichzeitig nahm jedoch auch der Anteil der Familienhaushalte ohne Erwerbstätige von sechs Prozent in 1996 auf zehn Prozent in 2012 zu. Eine Besonderheit der deutschen Entwicklung besteht allerdings darin, dass im genannten Zeitraum innerhalb der Zweiverdienerhaushalte die Erwerbsintensität abnahm, indem der Anteil mit zwei Vollzeitbeschäftigungen von 45 auf 25 Prozent zurückging, und nunmehr das modernisierte Ernährermodell mit 72 Prozent überwiegt. Dies ist primär im Rückgang der Vollzeiterwerbstätigkeit ostdeutscher Mütter im Zuge der allmählichen Anpassung an das „westdeutsche“ Leitbild begründet. Die positive Beschäftigungsbilanz ist damit zu einem erheblichen Anteil auf eine Art „Arbeitsumverteilung“ innerhalb der Gruppe der Frauen zurückzuführen.

In Haushalten ohne Erwerbstätige sinkt das Haushaltseinkommen auf etwas mehr als ein Drittel der durchschnittlichen Einkommen von zwei vollzeitbeschäftigten Eltern.

Entsprechend ist die effektive Armutsgefährdungsquote mit knapp 70 Prozent auch in Haushalten von Arbeitslosen am höchsten. Dies wiederum ist aufs engste mit der Einführung des ALG II bzw. der Ausdehnung des Personenkreises, der primär auf das System der bedürftigkeitsgeprüften Mindestsicherung verwiesen ist, verknüpft. Im September 2014 erhielten knapp über sechs Millionen Personen in Bedarfsgemeinschaften Hartz-IV-Leistungen. Dies schließt etwa 1,7 Millionen nicht erwerbsfähige LeistungsempfängerInnen ein, z. B. Kinder von ALG-II-EmpfängerInnen, für die „Sozialgeld“ gewährt wird. Darunter sind aber auch ca. 1,3 Millionen erwerbstätige LeistungsbezieherInnen, die mit ihrem Erwerbseinkommen kein für den Haushalt bedarfsdeckendes Einkommen erwirtschaften. Ferner gibt es erwerbsfähige LeistungsempfängerInnen, die nicht der Arbeitspflicht unterliegen, z. B. Elternteile, die Kinder unter drei Jahren betreuen.

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Schlussfolgerungen

Die Ursachen für die zunehmende soziale Polarisierung in Deutschland sind trotz der genannten Entwicklungen nicht ausschließlich in den Reformen der aktivierenden Arbeitsmarktreformen zu sehen. Wichtig sind darüber hinaus säkulare Trends in Form des demografischen und familialen Wandels und der Tertiarisierung von Wirtschaft und Beschäftigung sowie deren Gestaltung im Kontext des spezifisch deutschen Sozialmodells.

Die für die Flexibilisierung der Löhne relevanten Entwicklungen liegen zum Teil in der Spezifik der deutschen Wiedervereinigung begründet. Wesentlich scheint beispielsweise, dass die vergleichsweise hohe Tarifbindung in Westdeutschland nicht dauerhaft auf Ostdeutschland übertragbar war. Zudem ist das veränderte Organisationsverhalten der Arbeitgeber zu nennen, die ihre Mitgliedschaft in Unternehmerverbänden mit Tarifbindung zunehmend aufgeben.

Eingeschränkt durch die sowohl positiven als auch die negativen Entwicklungen, die für Deutschland spezifisch sind, bestätigt sich jedoch die in der internationalen Forschung aufgedeckte Paradoxie der Aktivierungspolitik auf den ersten Blick auch für Deutschland: Die Ausweitung sozialer Dienstleistungen in Form der Kinderbetreuung zeigen durchaus positive Effekte in Bezug auf die Zunahme der Erwerbsteilhabe. Gleichwohl scheinen sich diese positiven Effekte primär in der sogenannten sozialen Mitte zu manifestieren, ohne „unten“ anzukommen. Im Gegensatz dazu schlagen offenbar die Kürzung von Sozialleistungen bzw. der steigende Anteil der Personen, die auf die Leistungen der Mindestsicherung angewiesen sind, voll durch und tragen zur Steigerung von Armut bei den sozial Schwachen und insbesondere den Nicht-Erwerbstätigen bei.

In Bezug auf die zunehmende Prekarisierung scheint u. a. die Polarisierung der Löhne relevant, die dazu beiträgt, dass in immer mehr Branchen selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit vielfach kein für den Haushalt bedarfsdeckendes Einkommen erwirtschaftet werden kann. Der 2015 eingeführte Mindestlohn ist dabei als wichtiger Schritt zu sehen, der aber einer Flankierung über die erneute Stärkung der Tarifpolitik bedarf. Ein wichtiges Ziel dabei wäre, die Lohnentwicklung in den personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen erneut an das Lohnniveau des produzierenden Gewerbes bzw. der unternehmensbezogenen Dienstleistungen anzugleichen. Da sowohl die Lohndifferenzen als auch der Erwerbsumfang in Deutschland stark geschlechtsspezifisch strukturiert sind, ist die Haushaltsebene besonders relevant, um die Prekarisierung von Erwerbsarbeit zu kompensieren. Soziale Gruppen, wie Alleinerziehende, denen diese Kompensationsmechanismen auf der Haushaltsebene fehlen, sind daher in Deutschland stärker von Armut betroffen als in anderen Ländern. Dies scheint auch darauf zurückzuführen zu sein, dass die sozialpolitischen Transfers für Risikofamilien nicht ausreichend sind.

Um dies zu korrigieren, scheint eine zielgruppenorientierte Gestaltung von Transferleistungen notwendig. Insbesondere das verminderte Erwerbspotenzial von Einelternfamilien bzw. das Haushaltseinkommen von Familien in den unteren Einkommenssegmenten müsste sozialpolitisch stärker kompensiert werden. Darüber hinaus erscheint jedoch auch eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes bzw. der Löhne notwendig.