Am 3. Juni 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ein zweites Konsultationspapier über mögliche Maßnahmen zur Einführung gerechter Mindestlöhne in den EU-Staaten. Darin bleibt jedoch weiterhin offen, was genau unter „gerechten Mindestlöhnen“ zu verstehen ist und wie sie garantiert werden können. Zur Sicherstellung eines gerechten Mindestlohns sollte eine europäische Richtlinie vorgeben, dass mindestens 60 % des nationalen Medianlohns und 50 % des nationalen Durchschnittslohns erreicht werden, ergänzt um eine Stärkung der Kollektivverträge.
Klares Bekenntnis zu einem europäischen Mindestlohn
Mit dem Konsultationspapier leitet die Kommission die zweite Phase der offiziellen Konsultation von europäischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden im Zuge der im Januar 2020 begonnenen Initiative ein. Nach Abschluss der Konsultationsphase Anfang September wird die EU-Kommission im Herbst dann einen Vorschlag für ein entsprechendes Rechtsinstrument vorlegen. Das Festhalten der Europäischen Kommission an ihrer Initiative zur Einführung gerechter Mindestlöhne in Europa ist ein wichtiges politisches Zeichen, da insbesondere von Arbeitgeberseite jegliche Form einer europäischen Regelung abgelehnt wird. Gerade aber im Kontext der COVID-19-Krise ist die Sicherstellung existenzsichernder und armutsfester Mindestlöhne von besonderer Bedeutung. Der jüngst publizierte Beschäftigungsbericht der OECD zeigt eindrücklich, dass GeringverdienerInnen besonders stark von der COVID-19-Krise betroffen sind – inklusive vieler der im Kontext der Pandemie als „systemrelevant“ gefeierten Beschäftigten. Angesichts der weithin anerkannten gesamtgesellschaftlichen Bedeutung dieser Beschäftigten wäre es angebracht, diesen nicht nur Applaus zu spenden, sondern sie durch eine substantielle Lohnerhöhung auch angemessen zu bezahlen. Eine europäische Mindestlohnregelung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Ziele der Kommissionsinitiative
Nach Jahren der politischen Diskussion ist aktuell die zentrale Frage nicht mehr, ob eine europäische Mindestlohnregelung eingeführt wird, sondern in welcher Form. Neben der konkreten Rechtsform – eher unverbindliche Empfehlung, verbindliche Richtlinie oder eine Kombination aus beidem – fokussiert sich die Diskussion vor allem auf die folgenden vier Punkte: das Niveau des Mindestlohns, seine Reichweite (angesichts zahlreicher Ausnahmeregelungen in vielen Ländern), die Verfahren und Kriterien seiner regelmässigen Anpassung sowie die Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden an der Festlegung des Mindestlohns. Das Ziel der Kommission besteht darin, im Hinblick auf alle vier Punkte gemeinsame europäische Standards zu entwickeln, die in allen EU-Staaten die Durchsetzung angemessener Mindestlöhne fördern. Angesichts der großen Unterschiede in Europa geht es der Kommission explizit weder um die Einführung eines einheitlichen europäischen Mindestlohnbetrags noch um die Harmonisierung existierender Mindestlohnregime.
Konkret bedeutet dies, dass Länder mit einer kollektivvertraglichen Mindestlohnsicherung wie zum Beispiel Österreich, aber auch die nordischen Länder Dänemark, Finnland und Schweden sowie Italien und Zypern nicht gezwungen werden, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Die Grundidee besteht vielmehr darin, auf europäischer Ebene gemeinsame Kriterien für gerechte Mindestlöhne zu definieren, die dann auf nationaler Ebene entsprechend dem dort geltenden Niveau und den traditionell gewachsenen Systemen der Lohnfestsetzung umgesetzt werden. Im Kern besteht die Herausforderung darin, Kriterien für ein angemessenes Mindestlohnniveau zu definieren, das armutsfest und existenzsichernd ist.
Was ist ein gerechter Mindestlohn?
Die Kommission definiert in ihrem Konsultationspapier nicht, was sie unter einem gerechten Mindestlohn versteht. Sie stellt lediglich klar, dass dieser einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen sollte. Als pragmatischer Ansatz hat sich in der politischen Debatte für die Festlegung eines angemessenen Mindestlohns eine Orientierung am sogenannten Kaitz-Index durchgesetzt. Der Kaitz-Index ist ein Maß für den relativen Wert des Mindestlohns im Verhältnis zum nationalen Lohngefüge.
Als Indikator für die Angemessenheit von Mindestlöhnen bietet der Kaitz-Index zahlreiche Vorteile. Er ist leicht zu ermitteln und zu kommunizieren. Er ist in der international vergleichenden Mindestlohnforschung als Indikator bereits anerkannt und er trägt den großen Unterschieden im absoluten Mindestlohnniveau Rechnung, das in der EU von weniger als 2 Euro in Bulgarien bis zu mehr als 12 Euro in Luxemburg variiert.
Demzufolge gilt ein Mindestlohn dann als angemessen, wenn er bei mindestens 60 % des nationalen Medianlohns liegt. In Analogie zur Armutsforschung ist ein Mindestlohn von 60 % des Medianlohns der Lohn, der es einem/einer einzelnen Vollzeitbeschäftigten ermöglichen soll, unabhängig von den Lebens- und Haushaltsverhältnissen ein Leben in Armut zu vermeiden, ohne auf staatliche Transferleistungen angewiesen zu sein. 2019 erfüllte der gesetzliche Mindestlohn dieses Kriterium nur in vier EU-Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Slowenien, Frankreich und Portugal). In allen anderen EU-Staaten mit einem gesetzlichen Mindestlohn sowie Großbritannien lag die Höhe teilweise deutlich unterhalb dieser Schwelle für einen angemessenen bzw. gerechten Mindestlohn: