Die Bedeutung des EU-Beihilfenrechts in der COVID-19-Krise

02. Mai 2020

Der Großteil der Hilfsmaßnahmen für die heimische Wirtschaft zur Überbrückung der COVID-19-Krise unterliegt dem EU-Beihilfenrecht. Es verwundert daher nicht, dass dieses Rechtsgebiet, das in ruhigen Zeiten ein Schattendasein in der öffentlichen Wahrnehmung fristet, seit Ausbruch der Pandemie verstärkte mediale Aufmerksamkeit erhält. Eine auch nur zeitweilige Aussetzung des EU-Beihilfenrechts, wie sie der österreichische Finanzminister fordert, ist weder sinnvoll noch zweckmäßig. Vielmehr könnte sie die Notlage europäischer Unternehmen zusätzlich verschärfen und Staaten in Bedrängnis bringen.

Staatliche Beihilfen

Staatliche Beihilfen sind finanzielle Begünstigungen, die die öffentliche Hand einzelnen Unternehmen oder bestimmten Wirtschaftssektoren gewährt. Dadurch können unlautere Vorteile gegenüber vergleichbaren Unternehmen im selben Land oder in anderen EU-Ländern erzeugt werden. Um solche Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, sieht Artikel 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein generelles Verbot staatlicher Beihilfen vor. Möchte ein Mitgliedsstaat heimische Unternehmen dennoch durch öffentliche Gelder stützen, muss die EU-Kommission die betreffende Maßnahme vorab genehmigen. Dies erfolgt dann, wenn die Kommission im Zuge ihrer Prüfung der geplanten Beihilfe zum Ergebnis gelangt, dass diese nicht geeignet ist, den Wettbewerb zu verfälschen.

Staatliche Beihilfen in Krisenzeiten

Einer breiten Öffentlichkeit mag der Schutz des Wettbewerbs in akuten Krisenzeiten, in der viele Unternehmen plötzlich in eine wirtschaftliche Talfahrt geraten, nachrangig und dementsprechend die Aufsichtsrolle der Kommission über wirtschaftliche Hilfsprogramme der Mitgliedsstaaten obsolet erscheinen. Eine solche Sichtweise wäre aber verkürzt. Gerade in Krisenzeiten ist ein koordiniertes Vorgehen auf europäischer Ebene notwendig, um zu verhindern, dass durch nationale Alleingänge schädliche Wettbewerbsprozesse in der europäischen Unternehmenslandschaft in Gang gesetzt werden. Heimische Unternehmen könnten infolge einer Aussetzung des EU-Beihilfenrechts heftiger von europäischen Mitbewerbern aus dem Feld gedrängt werden als aufgrund von Umsatzrückgängen infolge der Pandemie.

Besonders in Krisenzeiten besteht die Gefahr, dass es zu „Subventionsspiralen“ kommt, wie z. B. in der Stahlproduktion im Zuge des Erdölschocks in den 1970er-Jahren. Damals gewährten einige der führenden stahlproduzierenden Länder ihren Stahlunternehmen finanzielle Vorteile, um sie am Leben zu erhalten, und lösten dadurch einen grenzüberschreitenden Subventionswettbewerb aus. Um überhaupt Effekte zu erzielen, mussten sich die Staaten in ihrer Unterstützungsleistung jeweils überbieten. Abgesehen von den hohen Kosten für die SteuerzahlerInnen gehörten auch jene Unternehmen zu den Verlierern, die – selbst wenn sie kostengünstiger produzierten – gegenüber höher subventionierten Konkurrenten keine Überlebenschance hatten. Solche Subventionsspiralen erweisen sich immer als kostspielig und wirken letzten Endes nachteilig für die meisten Beteiligten. Auf dieser Einsicht basiert das europäische Modell der Kooperation bei der Aufsicht über die Gewährung staatlicher Beihilfen. Möchte ein Mitgliedsstaat einem Unternehmen finanzielle Vorteile verschaffen, müssen diese einheitlichen Bedingungen entsprechen, damit sich die Mitgliedsstaaten nicht gegenseitig übervorteilen.

Die Bedeutung des EU-Beihilfenrechts liegt sohin darin, dass sie einheitliche Bedingungen für alle Mitgliedsstaaten vorsieht. Die Kommission überwacht die Einhaltung der Regeln und konzentriert sich dabei – aus Effektivitätsgründen – auf die für den Wettbewerb potenziell schädlichsten Maßnahmen. Das EU-Beihilfenrecht sieht keineswegs eine komplette Streichung aller Beihilfen vor. Viele Beihilfen, die wichtige politische Ziele, wie z. B. Beschäftigung und Bildung, verfolgen, sind vom Beihilfenverbot ausgenommen. Wenngleich an der primär marktwirtschaftlichen Orientierung der Kommission häufig berechtigter Grund zur Kritik besteht, ist es während der Corona-Krise essenziell, dass staatliche Hilfsmaßnahmen einem einheitlichen Regelwerk unterliegen.

Prüfung durch europäische Instanz

Wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen müssen auch in der aktuellen Situation von der Kommission auf ihre potenzielle Schädlichkeit für den Binnenmarkt geprüft werden. Diese Prüfung kann nur von einer den Nationalstaaten übergeordneten Instanz erfolgen, die das gesamte Geschehen im europäischen Raum im Blick behält. Eine auch nur temporäre Aussetzung des EU-Beihilfenrechts könnte dazu führen, dass durch nationale Alleingänge rasch ruinöse innergemeinschaftliche Subventionsspiralen in Gang gesetzt werden. Dies würde insbesondere für Staaten, die ohnehin über einen angespannten Haushalt verfügen, aber auch für eine Vielzahl von Unternehmen im Inland oder in anderen EU-Staaten mitunter erhebliche – vielleicht sogar existenzbedrohende – Schwierigkeiten verursachen. Ein Wegfall des EU-Beihilfenrechts könnte nicht nur unter den Mitgliedsstaaten, sondern auch bei ihren Handelspartnern zu ernsthaften Kontroversen führen. Da der Schutz des gemeinsamen Binnenmarktes durch Verhinderung innergemeinschaftlicher Protektionismen für die EU ein wesentliches Anliegen ist, besteht sie in der Regel auch beim Abschluss von Handelsabkommen mit Ländern außerhalb der EU auf eine Angleichung an die europäischen Beihilfevorschriften. Eine Abwendung von den Beihilferegeln müsste gemäß dem Grundsatz der Gegenseitigkeit auch den Handelspartnern offengestellt werden. Das würde den Druck auf europäische Unternehmen zusätzlich intensivieren. Im globalen Wettbewerb müssten sie sich dann gegen weitere staatlich subventionierte Mitbewerber behaupten.

Die temporäre Aussetzung des EU-Beihilfenrechts, wie im Zuge der Corona-Krise vom österreichischen Finanzminister gefordert, wäre aber ohnedies äußerst schwierig, da das Beihilfenrecht im EU-Primärrecht, dem ranghöchsten Recht der EU, verankert ist. Eine Aussetzung könnte nur infolge einer Vertragsänderung erfolgen, die von den 27 EU-Ländern einstimmig beschlossen werden müsste.

Prüfung im Interesse der Allgemeinheit

Die Kommission prüft die vom betreffenden Mitgliedsstaat vorgelegten wirtschaftlichen Maßnahmen nach einheitlich geltenden Grundsätzen. Sie legt Mindestauflagen fest, um sicherzustellen, dass öffentliche Mittel ausschließlich den förderwürdigen Zwecken zugutekommen. Auch in Krisenzeiten kontrolliert die Kommission neben der grundsätzlichen Erforderlichkeit der betreffenden Maßnahmen, ob diese tatsächlich geeignete Instrumente sind, die angestrebten Ziele zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist zudem die Prüfung der Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wichtig. Die Kommission wacht also darüber, dass die Mitgliedsstaaten intelligent und umsichtig mit Steuergeldern umgehen. Beihilfen müssen im Interesse der Allgemeinheit bzw. der Gesamtwirtschaft liegen. Das ist dann nicht der Fall, wenn öffentliche Gelder dazu verwendet werden, Partikularinteressen gut lobbyierender Akteure zu bedienen. Die Staaten werden dazu angehalten, ihre Unternehmen gleich zu behandeln. Bevorzugungen einzelner Unternehmen müssen sachlich begründet sein. Die Maßstäbe, nach denen die Kommission prüft, entsprechen den Erfordernissen von rechtsstaatlichen Demokratien. Eine Prüfung durch die Kommission ist zwangsläufig auch immer eine Missbrauchskontrolle und liegt daher im genuinen Interesse der Allgemeinheit.

Die EU-Kommission erklärt maximale Flexibilität in der COVID-19-Krise

Kurze Zeit nach Ausbruch der Corona-Pandemie, am 13. März 2020, stellte die EU-Kommission in einer Mitteilung klar, dass wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen mit allgemeinem Charakter, also solche, die ein Staat allen heimischen Unternehmen gewährt, nicht unter das EU-Beihilfenverbot fallen. Dies ist zwar immer möglich, aber durch diese öffentliche Bekräftigung bezweckte die Kommission, die Mitgliedsstaaten zu ermutigen, rasch Maßnahmen wie z. B. Lohnsubventionen oder Stundung von Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen zu ergreifen. Die von Österreich eingeführten Bestimmungen zur Kurzarbeit mussten der Kommission daher nicht zur Genehmigung vorgelegt werden. Am 13. März wurde auch eine eigene Hotline eingerichtet, in der MitarbeiterInnen der Kommission den Mitgliedsstaaten sieben Tage die Woche Beratung bei der Ausgestaltung ihrer wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen im Zuge der Corona-Krise anbieten.

Bereits sechs Tage später, am 19. März 2020, erließ die Kommission den „Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19“, der bis Ende Dezember 2020 gelten soll. Darin räumt die Kommission den Mitgliedsstaaten weitreichende Möglichkeiten ein, um der Wirtschaft enorme Hilfen, unter anderem in Form von direkten Zuschüssen, vergünstigten Darlehen, staatlichen Garantien etc., zur Verfügung zu stellen. Vor Jahresende wird die Kommission überprüfen, ob eine Fristverlängerung erforderlich wird. Die Rechtsgrundlage des „Befristeten Rahmens“ bildet Artikel 107 Abs 3 lit b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der bestimmt, dass Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben der Mitgliedsstaaten als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können. Am 3. April wurde der „Befristete Rahmen“ erstmals erweitert, unter anderem um die Möglichkeit, dass Mitgliedsstaaten nun auch einzelnen Unternehmen oder Branchen die Steuern stunden oder die Sozialversicherungsbeiträge aussetzen können.

Das Tempo, in dem die Kommission die angemeldeten Hilfspakete der Mitgliedsstaaten prüft, ist beachtlich. Betrugen die Genehmigungsverfahren vor Ausbruch der Pandemie mehrere Wochen bzw. Monate, prüft die Kommission derzeit in einem Eilverfahren von maximal einer Woche. Etwa vier Wochen nach Veröffentlichung des „Befristeten Rahmens“ hatte die Kommission am 20. April 2020 bereits 76 Maßnahmen von 23 EU-Ländern und Großbritannien bewilligt.

Auch die beiden von Österreich angemeldeten Hilfspakete wurden binnen weniger Tage genehmigt: Am 8. April 2020 wurde das Hilfspaket im Umfang von 15 Milliarden Euro für Zuschüsse und Garantien für Darlehen zugunsten von Unternehmen, die vom Ausbruch der Corona-Krise betroffen sind, genehmigt. Am 17. April 2020 erfolgte auch die Genehmigung für Garantieregelungen für Darlehensbeträge von bis zu 500.000 Euro für Klein- und Mittelbetriebe.

Kontrolle auch in der Krise

Ohne das EU-Beihilfenrecht wären alle EU-Länder derzeit zwar freier in der Ausgestaltung ihrer Wirtschaftshilfen. Diese Freiheit würde hier allerdings auch bedeuten, dass jedes Land schädliche Wettbewerbsprozesse über die eigenen Landesgrenzen hinaus in Gang setzen könnte. Davon wären über kurz oder lang unweigerlich auch heimische Unternehmen negativ betroffen. Für alle EU-Staaten sind in den nächsten Jahren negative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu erwarten. Milliarden von Steuergeldern werden in europäische Unternehmen geleitet werden müssen. In dieser Situation kann eine solche Freiheit wenig wünschenswert erscheinen. Das Beihilfenregime gibt ein Mindestmaß an Bedingungen vor, setzt allen europäischen Regierungen die gleichen Grenzen und unterwirft alle derselben Kontrollinstanz. Diese koordinierte Kontrolle des Wettbewerbs erweist sich insbesondere in Krisenzeiten als vernünftig.

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