Eine Analyse des oberösterreichischen Regierungsprogramms – wenn sich Klassenkampf mit Kulturkampf vermischt

16. Dezember 2021

Nach einem Wahlkampf, der auch im Lichte der Pandemiebekämpfung noch zu betrachten sein wird, wurde am 26. September 2021 in Oberösterreich gewählt. Das Ergebnis brachte leichte Zugewinne für die Landeshauptmann-Partei ÖVP, die Grünen und die NEOS, satte Verluste für die FPÖ, eine gleich bleibende SPÖ sowie die Corona-Leugner-Partei MFG in den Landtag. Die Folge war eine Fortsetzung der schwarz/türkis-blauen Koalition und ein neues Regierungsprogramm. Grund genug, es sich genauer auf verwendete Frames und Narrative in Bezug auf Sozialstaat und Armut anzuschauen.

Frame: suggerierter Sozialmissbrauch

Sozialleistungen werden im neuen Regierungsprogramm nicht per se infrage gestellt, sie werden aber immer mit einem Missbrauchs-Frame versehen. Diesen Missbrauch gelte es einzudämmen. So heißt es auf Seite 17: „Soziale Leistungen sollen den Betroffenen treffsicher bereitgestellt werden. Missbrauch muss eingedämmt werden.“ Später bei den Forderungen dann auch wieder: „Missbrauch von sozialer Unterstützung verhindern, allen voran Ausbau der Kontrollen hinsichtlich der Vergabe und Verwendung von Sozialförderungen.“ Das suggeriert, dass der Missbrauch von Sozialleistungen ein besonders großer Missstand sei. Dieser verteilt sich aber nicht gleichmäßig über alle Leistungen des (Sozial-)Staates, sondern trifft speziell auf Sozialförderungen zu. Pflegegeld oder Leistungen aus der Behindertenhilfe werden so zu den Sozialleistungen derer, die sie in jedem Fall verdient haben, während bei Sozialförderungen wie der Mindestsicherung Argwohn besteht. Die Unterscheidung in arme Menschen, die Hilfe verdienen, und die, die sie nicht verdient haben, hat eine lange diskursive Tradition und entspinnt sich an Sozialleistungen und Arbeitslosengeld. Hier findet eine moralische Wertung statt, die diese Leistungen in den Verdacht bringt, an arme Menschen zu gehen, die ihre Armut „verdient“ haben und dementsprechend kein moralisches Recht auf kollektive Hilfe haben. Dementsprechend wird auch dort, wo es um Unterstützung geht, der stigmatisierende Begriff „sozial schwach“ statt „armutsbetroffen“ verwendet: „Unser Ziel ist es, Kindern aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien verstärkt flexible Betreuungsmöglichkeiten anbieten zu können, um ihre gesellschaftliche Integration durch Bildung zu fördern.“ (S. 28)

Leistungskürzungen als Strafe für die Ärmsten

Zur Verschränkung der gesellschaftspolitischen mit der sozialstaatlichen Ebene kommt es, wenn sozialstaatliche Leistungskürzungen als Instrument für mangelnde Integration gefordert werden: „Aus diesem Grund werden wir alle Optionen betreffend eine rechtliche und auch verfassungskonforme Durchsetzbarkeit von Konsequenzen, wie zum Beispiel eine Kürzung von Leistungen oder Rückzahlung von Leistungen, prüfen.“ (S. 23) Das Besondere an dieser Forderung ist, dass sie exklusiv nur arme Migrant_innen trifft. Die Kürzung von Sozialleistungen ist keine Option für deutschsprechende Empfänger_innen. Deren Sprachkenntnisse und Rechtschreibfertigkeiten werden nicht abgefragt. Sie betrifft aber ebenso wenig vermögende Migrant_innen, von denen keinerlei Sprachkenntnisse eingefordert werden, etwa beim Erwerb von Immobilien. Diese Forderung trifft exklusiv eine spezielle Gruppe: arme Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Sie werden so zum verbindenden Feindbild von Kulturkampf und sozioökonomischer Ebene. Dazu passt auf Seite 40 diese Aussage im Zusammenhang mit der Wohnbeihilfe:

„Kein Abweichen von Deutschkenntnissen: Die Landesregierung bekennt sich dazu, dass Personen, die Leistungen vom Staat erhalten, im Umkehrschluss schon etwas geleistet haben müssen.“

Das gilt nicht für Unternehmer_innen, Immobilienbesitzer_innen (etwa bei Förderungen wie dem Gaskesseltausch oder einer kleinen Landwirtschaft) oder Kulturveranstaltungen, sondern exklusiv nur dort, wo arme Menschen betroffen sind. Leistung wird je nach Kontext sehr unterschiedlich bewertet, für arme Menschen ist die zu erbringende Leistung höher als für alle anderen.

Leistung ist nicht gleich Leistung

Der Leistungsbegriff gegenüber benachteiligten Menschen ist ein anderer als gegenüber z. B. Unternehmer_innen. Leistung wird dort gesehen, wo sie (vermeintlich) nicht da ist. Sie ist also eine Lücke, die es zu füllen gilt und deren Fehlen sanktioniert werden muss. Es ist somit ein repressiver Leistungsbegriff. Die zu erbringende Leistung ist dann dementsprechend auch nichts Außergewöhnliches, sondern erlaubt überhaupt erst eine basale Teilnahme an der Solidargemeinschaft. In diesem Arbeitsübereinkommen wird diese Leistung dementsprechend sogar als „Bringschuld“ und nicht als Leistung geframed. Also als etwas, was nicht nur zu erwarten oder zu erarbeiten ist, sondern was eigenständig mitgebracht werden muss und wofür man weder Dank noch Anerkennung erwarten kann. Die Machtverhältnisse werden umgekehrt – die, die eine Arbeit suchen, müssen erst zeigen, dass sie „Respekt“ verdient haben. Ihr bloße bereitgestellte Arbeitskraft allein reicht nicht aus. Dementsprechend wird dieser Leistungsbegriff zur sprachlichen Waffe gegen alle Gruppen, die ihn vermeintlich nicht erfüllen, ohne dass die Erfüllung universell von allen innerhalb der Solidargemeinschaft verlangt wird. Er richtet sich ausschließlich gegen jene mit keinem oder geringem Einkommen. Dieselben Anforderungen gelten nicht für Menschen, die andere Leistungen des Staates (etwa Subventionen für Unternehmen) in Anspruch nehmen möchten, sondern ausschließlich für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung oder des Sozialstaates. Verstärkt wird dies durch eine Vermengung mit gesellschaftspolitischen Aspekten auf der Ebene des Kulturkampfs.

Kulturkampf: gefährliche „Migration“ vs. nützliche „Zuwanderung“

Sozioökonomische und wirtschaftliche Interessen werden immer wieder mit kulturalistischen Aspekten vermischt. So wird „Migration“ durchgehend als problematisierend geframed. Wo sie wirtschaftlich erwünscht ist, wird sie nicht mehr als „Migration“, sondern als „Zuwanderung“ beschrieben, etwa an jener Stelle, an der es um die Anwerbung qualifizierter Facharbeiter_innen geht. „Migration“ bleibt also durchgehend negativ besetzt. Die wenigen Ausnahmen, wo sie gesellschaftlich akzeptabel scheint, werden mit dem synonymen Wort „Zuwanderung“ besetzt. Dies dient der Spaltung einer Gruppe. Die gewünschte und ökonomisch verwertbare Gruppe fällt unter „Zuwanderung“, die unerwünschte Gruppe, die eine Belastung bis Bedrohung darstellt, fällt unter „Migration“. Der Fokus bei Letzterem liegt vor allem auf „Asyl“. Asyl wird als abzuwehrende Bedrohung und nicht als Menschenrecht geframed. Wichtig ist auch hier vor allem der Einsatz bewaffneter Einheiten. So steht als erster Forderungspunkt des Themenbereichs „Klare Regeln für ein geordnetes Miteinander“: „Effizienter Grenzschutz auf österreichischer und europäischer Ebene“. Asyl und Migration, ja sogar Integration funktionieren im Denken der oberösterreichischen Regierung nur unter der Prämisse von Schutz vor der Bedrohung „Migration“.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Migration fast ausschließlich unter den Frames von Sicherheit und Kriminalität gesehen wird, also etwas ist, das Angst erzeugt.

Der „politisch motivierte Islam“ als einziger Extremismus

Damit verwandt wird der Islam als einzige Religionsgemeinschaft überhaupt namentlich erwähnt. Auch hier geschieht dies ausschließlich in einem problematisierenden Kontext, etwa auf Seite 23, wo von der „Bekämpfung von Extremismus, insbesondere im Zuge von Strömungen wie dem politisch motivierten Islam“ die Rede ist. Durch die Heraushebung des „politisch motivierten Islam“ wird suggeriert, dass dieser ein besonderes Problem in Oberösterreich darstelle und den Großteil der Fälle von politischem Extremismus ausmache. Rechtsextremismus kommt hingegen nicht wörtlich vor und stellt demnach kein spezielles Problem für die oberösterreichische Landesregierung dar.

Schuld des Individuums

Es geht auch bei Migration/Integration ausschließlich um Sanktionierung, und dies wird ganz offen so formuliert: „Unser großes Ziel ist es, dass sich Migrantinnen und Migranten analog einer ,Bringschuldʻ in unsere Gesellschaft integrieren und einbringen. Nicht vorhandener Integrationswille erfordert Handeln.“ (S. 23) Integration ist demnach keine gesellschaftliche Leistung und auch kein gesellschaftliches Angebot, sondern eine rein individuelle Schuld. Das entlässt den Staat aus seiner Verantwortung, Möglichkeiten des Spracherwerbs oder der Teilhabe bereitzustellen, und lagert Integration gänzlich am Individuum ab. Diese Art der „Eigenverantwortung“ deckt sich mit neoliberalen Diskursen zu Armut, die auch nur individuell und eigenverantwortlich überwunden werden kann.

Conclusio

Das Programm von ÖVP und FPÖ in Oberösterreich fokussiert sowohl die Ebene des Kulturkampfs als auch die sozioökonomische Ebene auf Migrant_innen, die als arm und muslimisch geframed werden. Sie werden zur Gefahr und Bedrohung, die es am besten gar nicht bis nach Oberösterreich schaffen soll. Dazu werden bedrohliche und angstbesetzte Bilder verwendet. Diejenigen, die schon hier sind, werden autoritär sanktioniert und misstrauisch beäugt. Dort, wo diese beiden Ebenen aufeinandertreffen, bei armen Menschen mit Migrationshintergrund (der implizit als muslimisch geframed wird), werden ohne jeden Anschein des Aufeinander-Zugehens harte Strafen bis hin zum Verlust der ökonomischen Existenz gefordert. Wer nicht Deutsch spricht, der soll auch nicht essen, könnte man es in Abwandlung eines schon im Original zynischen Spruches zusammenfassen. Generell spricht daraus ein autoritäres, ein hierarchisches Weltbild, das Menschen nach Herkunft und ökonomischer Leistung einstuft. Dieses Bild wird von beiden Regierungsparteien in dieser Radikalität geteilt.

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