Hohe Abgabenquote trotz Steuer­senkungen? Die Rolle von steuer­lichen Zufalls­einnahmen

08. November 2024

Die österreichische Steuerdebatte steht vor einem Rätsel. Nach 2017 wurden in Österreich auf der steuerlichen Seite keinerlei Konsolidierungsmaßnahmen gesetzt, aber zahlreiche Steuersenkungen implementiert (Familienbonus, „ökosoziale“ Steuerreform, diverse Lohnnebenkostensenkungen, Abschaffung der kalten Progression etc.). Trotzdem lag die Abgabenquote 2023 mit 43,5 Prozent etwas mehr als einen halben Prozentpunkt über dem Niveau von 2017. Wie kann das sein?

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Die Höhe der Steuereinnahmen wird – vereinfacht gesagt – durch zwei Faktoren bestimmt: (1) Durch die diskretionären Maßnahmen des Gesetzgebers sowie (2) durch die Veränderungen der Steuerbasis bzw. -basen bei gleichbleibender Gesetzeslage. Beispielsweise können die Einnahmen aus der Biersteuer durch eine Erhöhung der Steuersätze (= diskretionäre Maßnahme) oder durch erhöhten Bierkonsum steigen. Betrachtet man nun die Effekte von Veränderungen in den Steuerbasen, so sieht man, dass diese über zwei Kanäle die Abgabenquote erhöhen können: einerseits, wenn BIP-Komponenten an Bedeutung gewinnen, die höher besteuert sind als andere (z. B. Löhne und Gehälter gegenüber thesaurierten Unternehmensgewinnen); andererseits, wenn Steuerbasen ansteigen, die sich nicht im BIP widerspiegeln (z. B. realisierte Wertsteigerungen). In Fachkreisen werden solche Effekte oft als „Revenue Windfalls“ bezeichnet; frei übersetzt so etwas wie steuerliche Zufallseinnahmen.

Die Europäische Kommission durchforstet jedes Jahr die administrativen Unterlagen der Mitgliedsstaaten und veröffentlicht Zahlen zum Gesamtausmaß der diskretionären steuerpolitischen Maßnahmen (grüne Balken in Grafik 1a). Sie wurden von uns um die temporäre Nullsetzung der Ökostrom-Abgaben in den Jahren 2022 und 2023 ergänzt, die offiziell erst seit Herbst 2024 in der Abgabenquote erfasst werden. Stellt man diese diskretionären Maßnahmen den tatsächlichen Einnahmen gegenüber, lässt sich die Höhe der „Windfalls“ ableiten (rote Balken in Grafik 1a).

Die Bedeutung von steuerlichen Zufallseinnahmen für die Abgabenquote

Eine nähere Betrachtung der österreichischen Daten zeigt, dass die diskretionären Maßnahmen auf der staatlichen Einnahmenseite von 2018 bis 2023 etwa -3 Prozent des BIP ausgemacht haben (Summe der grünen Balken in Grafik 1a), während die „Windfalls“ bei ca. 3,5 Prozent des BIP lagen und damit den Steuerausfall der diskretionären Maßnahmen kompensieren bzw. sogar leicht überkompensieren konnten. Ohne diese seit 2018 angefallenen „Revenue Windfalls“ hätte die Abgabenquote 2023 somit knapp unter 40 Prozent des BIP betragen (strichlierte Linie in Grafik 1b).

Inflationseffekte spielen für die Ergebnisse keine (große) Rolle. Die Nicht-Anpassung von Mengensteuern (z. B. der Mineralölsteuer) oder der Tarifstufen der Lohn- und Einkommensteuer (bis 2022) werden von der EU-Kommission nicht als diskretionäre Maßnahme erfasst. Würde man sie berücksichtigen, würde das kumulierte Volumen der diskretionären Maßnahmen 2018 bis 2023 um etwa ¼ Prozentpunkt steigen bzw. die Zufallseinnahmen im Zeitraum im selben Ausmaß niedriger ausfallen. Auch der Konjunkturzyklus sollte an sich keine große Rolle spielen; die tatsächliche Abgabenquote und die zyklisch bereinigte Abgabenquote laut EU-Kommission sind weitgehend ident.

Die Revenue Windfalls sind kein österreichisches Spezifikum. Auch in zahlreichen anderen Euroraum-Staaten waren in den vergangenen Jahren solche „Windfalls“ zu beobachten (blaue Punkte in Grafik 2), in Österreich ist das Ausmaß aber besonders groß.


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Was sind nun die Gründe für diese Entwicklung in Österreich?

Ein entscheidender Faktor ist der starke Anstieg der Lohnquote in diesem Zeitraum. Arbeitseinkommen werden deutlich höher besteuert als einbehaltene Unternehmensgewinne. Wenn Arbeitseinkommen stärker steigen als Unternehmensgewinne, steigt somit die Abgabenquote, ohne dass die individuelle steuerliche Belastung für die Arbeitnehmer:innen oder Unternehmer:innen gestiegen wäre.

Ein zweiter Faktor sind die gestiegenen Vermögenspreise, die zur Realisierung von erheblichen Wertsteigerungen und damit zu einem stark gestiegenen Aufkommen aus Immobilienertragsteuer und Wertpapier-Kapitalertragsteuer geführt haben. Da Wertsteigerungen von Vermögensgütern das Bruttoinlandsprodukt nicht erhöhen, führt dies zu erheblichen „Windfalls“.

Zudem ist das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer im gleichen Zeitraum stark gestiegen, obwohl der Steuersatz lange unverändert blieb und erst 2023/24 in zwei Schritten auf 23 Prozent reduziert wurde. Das gestiegene Aufkommen trotz konstantem Steuersatz weist auf ein starkes Wachstum der Steuerbemessungsgrundlage für Kapitalgesellschaften hin, das über zwei Kanäle zu einer höheren Abgabenquote beigetragen hat: einerseits, weil mit den Unternehmensgewinnen die Ausschüttungen überproportional angestiegen sind, die höher besteuert werden als die thesaurierten Gewinne; andererseits, weil die körperschaftsteuerpflichtigen Gewinne auch stärker angestiegen sind als die Unternehmensgewinne in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (was mit den oben angeführten Wertsteigerungen zu tun haben könnte, die auch auf betrieblicher Ebene realisiert wurden).

Keine Rolle für den starken Anstieg der „Windfalls“ im Zeitraum 2018 bis 2023 spielen die hohen staatlichen Krisensubventionen. Die Kurzarbeitssubventionen und teilweise auch die Subventionen der COFAG erhöhten zwar die Bemessungsgrundlagen zahlreicher Abgaben, aber nicht das Bruttoinlandsprodukt. Damit erhöhte sie 2020 und 2021 die Abgabenquote. 2023 spielten diese Subventionen aber keine Rolle mehr; sie können also nicht erklären, warum das kumulierte Niveau der „Windfalls“ im Jahr 2023 gegenüber 2017 immer noch bei ca. 3,5 Prozent steht. Auch eventuelle Inflationseffekte auf das Mehrwertsteueraufkommen können keine Erklärung darstellen, weil der Anteil der Konsumausgaben privater Haushalte am Bruttoinlandsprodukt 2023 sogar etwas unter dem Niveau von 2017 lag.

Welche Schlüsse können nun gezogen werden?

Keine der zuvor gezeigten Entwicklungen ist unumkehrbar. In der Vergangenheit gab es in anderen Euroraum-Staaten Episoden länger anhaltender „Revenue Windfalls“, die sich anschließend wieder umgedreht haben (beispielsweise in Irland und Spanien). Somit kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass in Österreich trotz wohl anstehender steuerlicher Konsolidierungsmaßnahmen die Abgabenquote wieder sinkt (wenn beispielsweise die Lohnquote wieder zurückgeht). Ein Unsicherheitsfaktor, der bei Beurteilung der fiskalpolitischen Gesamtsituation mitzudenken ist. Gleichzeitig zeigen unsere Ausführungen, dass bei der Interpretation der Höhe von Abgabenquoten generell Vorsicht geboten ist.

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