Vor 60 Jahren schloss Österreich mit der Türkei und dem damaligen Jugoslawien Anwerbeabkommen ab. Diese markieren den Ausgangspunkt für die Arbeitsmigration nach Österreich. Um die Chancen von Zuwanderung nützen zu können, ist die möglichst rasche Einbindung der Zugewanderten in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung.
Migrant:innen sind unverzichtbar
Migrant:innen kommen aus diversen Gründen nach Österreich, sei dies aufgrund von Flucht, Arbeit, Ausbildung oder Familie. Jeder Form von Migration ist gemein, dass Migrant:innen, die dazu in der Lage sind, in Österreich auch arbeiten wollen. Das Jahr 2024 markiert das 60. Jubiläum der Anwerbeabkommen mit der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien als wichtigen Ausgangspunkt für die Arbeitsmigration nach Österreich gestern und heute.
In Wien haben heute 66 Prozent der Arbeiter:innen und 36 Prozent der Angestellten nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte der AK-Mitglieder in Wien einen Migrationshintergrund der ersten oder zweiten Generation besitzen. Menschen aus der Türkei und den ehemaligen jugoslawischen Ländern stellen neben Personen aus Deutschland in Wien die größte Bevölkerungsgruppe mit ausländischer Herkunft dar. Sie sind in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft vertreten und leisten einen unverzichtbaren Beitrag für die österreichische Wirtschaft. Dennoch sind sie unzureichend vor Benachteiligung geschützt und verfügen nicht über ausreichende Mitbestimmungsrechte.
Anwerbeabkommen mit der Türkei und Jugoslawien
Mitte der 1950er Jahre kam es in ganz Zentral- und Westeuropa zu einer steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften. Nach langen Diskussionen vereinbarten ÖGB und Wirtschaftskammer, 47.000 ausländische Arbeitskräfte zuzulassen. Folglich schloss Österreich Anwerbeabkommen, unter anderem mit Jugoslawien und der Türkei. Integrationsangebote wurden den ankommenden Kolleg:innen keine gemacht, da davon ausgegangen wurde, dass diese aufgrund des vereinbarten „Rotationsprinzips“ nach kurzer Zeit Österreich wieder verlassen würden. Die Gastarbeiter:innen übernahmen vor allem körperlich anspruchsvolle und gering entlohnte Arbeiten, die von Einheimischen oft gemieden wurden. Obwohl ursprünglich als temporäre Maßnahme gedacht, blieb ein großer Teil der Arbeiter:innen in Österreich, vielfach wurde (zum Teil informell) die Familie nachgeholt, was langfristig die Gesellschaft und Kultur des Landes prägte. Dieses Kapitel der Geschichte gilt als prägend für die Entstehung der heutigen Migrationsgesellschaft in Österreich.
Aktuelle Rahmenbedingungen der Arbeitsmigration nach Österreich
Arbeitsmigration nach Österreich ist auch derzeit eine Tatsache: Zwei Drittel der in den letzten Jahren entstandenen zusätzlichen Arbeitsplätze wurden durch Arbeitnehmer:innen aus dem Ausland besetzt. Diese kommen entweder aus EU-Mitgliedsländern oder aus Drittstaaten (d. h. aus Nicht-EU-Mitgliedsstaaten). Entsprechend unterschiedlich sind Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten.
Arbeitnehmer:innen aus den Mitgliedsstaaten der EU, aus Norwegen, Liechtenstein und Island (EWR) sowie aus der Schweiz haben freien Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt. Daher ist es nicht möglich, Zugang zum Arbeitsmarkt von diesen Staatsbürger:innen etwa nach Qualifikation zu steuern.
Menschen aus Nicht-EU-Staaten benötigen zur Arbeitsaufnahme ein Aufenthaltsrecht, das auch eine Beschäftigung zulässt. Für den Bereich der qualifizierten Arbeitsmigration wird dies durch das von den Sozialpartnern entwickelte kriteriengeleitete Zuwanderungsystem der „Rot-Weiß-Rot-Karte“ geregelt. In jüngster Vergangenheit wurde das Modell umgestaltet und die Zuwanderung zum Zweck der qualifizierten Erwerbstätigkeit zum Teil deutlich vereinfacht. Das gesamte Modell ist mittlerweile in die Jahre gekommen (die Sozialpartnereinigung aus 2010 ist nur noch in Grundzügen abgebildet) und wird dem Zweck nicht mehr gerecht; so greift insbesondere die bloße Gegenüberstellung von Arbeitsuchenden und offenen Stellen zur Bestimmung der Mangelberufe deutlich zu kurz.
Herausforderungen in der Arbeitsmigration heute
Arbeitsmigration spielt bei Zuwanderung nach Österreich zahlenmäßig gegenüber anderen Zuwanderungsgründen (insb. Familienzusammenführung bzw. Flucht vor Verfolgung) eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz ist dieses Feld ein wesentlicher Baustein jeder Migrationspolitik, insbesondere weil (weitgehend im Gegensatz zu anderen Migrationsfeldern) eine Steuerung nach Qualifikationen der Zuwander:innen und nach dem Bedarf des Arbeitsmarktes möglich ist. Daher kann eine „Win-win-win-Situation“ für Migrant:innen, die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und damit die Gesamtheit der in Österreich lebenden Menschen geschaffen werden. Die absoluten Zahlen der Personen, die im Rahmen eines Arbeitsmigrationsmodells nach Österreich zuwandern, sind nicht entscheidend: Wesentlich ist vielmehr, dass durch ein solches Modell einerseits die Arbeitsplätze, die nicht mit in Österreich lebenden Personen ausgefüllt werden können, besetzt werden, andererseits insbesondere Personen, die ihre Ausbildung in Österreich absolviert haben, eine Perspektive für eine weitere Niederlassung in Österreich geboten wird.
Entscheidend bei potenzieller Neuausrichtung von Arbeitsmigration zu qualifizierter Erwerbstätigkeit muss sein, dass keinesfalls eine Gefahr von Lohn- und Sozialdumping gegeben sein darf; das betrifft sowohl die Zulassungskriterien selbst als auch die weitere Beschäftigung. Weiters darf nicht übersehen werden, dass viele dieser Arbeitsplätze auch mit Personen, die schon in Österreich leben, besetzt werden können, wenn diesen etwas Hilfestellung zur Erweiterung ihrer Qualifikationen gewährt wird: Wir sprechen hier insbesondere von Personen mit internationalem Schutz (Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte), Unionsbürger:innen, aber auch von Österreicher:innen. Jedes Modell für qualifizierte Arbeitsmigration ist daher unvollständig, wenn ein solches nicht gleichzeitig ein Qualifikationsprogramm zur Ausschöpfung des großen Potenzials für in Österreich lebende Menschen enthält.
Entscheidend ist, dass Migrant:innen Rechte haben, aber auch in die Lage versetzt werden, diese Rechte faktisch geltend zu machen. Daher ist es besonders wesentlich, dass Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht nicht von einer bzw. einem Arbeitgeber:in abhängig sind.
Frauen als oft übersehene Arbeitsmigrantinnen
Lange galt bei der Integration von Migrant:innen auf dem Arbeitsmarkt: Männer zuerst. Das gilt gleichermaßen für die Politik und die Unternehmen. Die langfristigen Folgen: Frauen mit Migrationshintergrund sind seltener erwerbstätig und stärker wirtschaftlich von Männern abhängig. Zugewanderte Frauen befinden sich häufig in einer noch schwierigeren Situation als zugewanderte Männer. Bedingt durch viele Faktoren, etwa die ungleiche häusliche Arbeitsaufteilung, Betreuungspflichten, Bildung im Herkunftsland oder Mehrfachdiskriminierung, besteht für Frauen ein erhöhtes Risiko, den Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht zu schaffen. Es ist deshalb besonders wichtig, die Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt so zu gestalten, dass zugewanderte Menschen ausschließlich aufgrund ihrer Qualifikation und nicht aufgrund anderer sichtbarer und zugeschriebener Merkmale bewertet werden.
Gekommen, um zu bleiben: Herausforderungen im Leben von Migrant:innen
Ob die Suche nach Arbeit nun ausschlaggebender Grund für die Migration nach Österreich war oder andere Ursachen im Vordergrund standen, Arbeit ist jedenfalls ein zentraler Baustein im Leben der zugewanderten Menschen. Doch die Erfahrung aus den Anwerbeabkommen der 1960er Jahre hat gezeigt: Die vermeintliche Temporalität der Migration ist meist ein Trugschluss. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, hat es Max Frisch prägnant auf den Punkt gebracht. Und diese Menschen müssen auch jenseits der Arbeitswelt in allen anderen Bereichen des täglichen Lebens, wie Wohnen, Bildung und politische Mitsprache, umfassend teilhaben können.
Leistbares Wohnen ist essenziell für Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe, doch Menschen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von Wohnkostenüberbelastung, schlechter Wohnqualität und Diskriminierung betroffen. Steigende Preise und instabile Mietverhältnisse verschärfen die Problematik zusätzlich. Bildung ist ein Schlüssel zur Integration, doch migrantische Personen erfahren massive Benachteiligungen im Schulsystem und bei Erwachsenenbildungsangeboten. Kinder aus Familien mit maximal Pflichtschulabschluss erreichen selten höhere Bildungsabschlüsse, was strukturelle Hürden und mangelnde Förderung verschärfen. Politische Teilhabe wird durch das restriktive Einbürgerungsrecht stark eingeschränkt. Die hohen Kosten und langen Verfahren führen zu niedrigen Einbürgerungsquoten. Besonders in Städten wie Wien ist ein Drittel der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen, was demokratiepolitische Herausforderungen birgt.
Festakt der Arbeiterkammer „Gast Arbeit Leben“
Um diese Herausforderungen im Leben für Migrant:innen in Österreich zu würdigen und für die Menschen ein Zeichen der Wertschätzung zu setzen, veranstaltete die Arbeiterkammer Wien einen Festakt zum 60. Jubiläum der Anwerbeabkommen mit der Türkei und (kurz darauf) mit dem ehemaligen Jugoslawien. Ein zentrales Anliegen bestand darin, die Leistungen von Migrant:innen hervorzuheben, die trotz oftmals schwieriger Bedingungen und mangelnder Förderung Großes erreicht haben, obwohl sie häufig unter negativem Diskurs und Diskriminierung zu leiden hatten. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der kritischen Auseinandersetzung mit der Idee der „Temporalität des Aufenthalts“. Obwohl sich die Formen der Anwerbung, wie etwa durch die Einführung der Rot-Weiß-Rot-Karte, im Laufe der Jahre verändert haben, bleibt die Denkweise oftmals dieselbe – der Fokus liegt weiterhin primär auf der Verwertung von Arbeitskraft. Es wurde aufgezeigt, dass auch heute noch Probleme wie prekäre Arbeitsverhältnisse oder Hürden bei der Familienzusammenführung bestehen und dass sich diese Herausforderungen in ähnlicher Form wiederholen. Im Festakt wurde daher betont, dass Arbeitsmigration und ihre Auswirkungen nicht nur ein Thema der Vergangenheit sind. Auch in der Gegenwart verdienen diese Leistungen und die damit verbundenen Herausforderungen umfassende Wertschätzung und Anerkennung. Einblicke in die Lebensrealität von Arbeiter:innen der ersten Generation und ihrer Kinder und Kindeskinder lieferten aktualisierte Auszüge aus der Ausstellung „Gastarbajteri“ der Initiative Minderheiten, die ursprünglich zum 40. Jubiläum der Abkommen erstellt wurde.
Fazit
Ohne Zuwanderung würde Österreichs Bevölkerung bereits jetzt schrumpfen, das Fachkräfteangebot wäre nicht ausreichend gesichert, der Alterungsprozess der Erwerbsbevölkerung wäre ungebremst. All das hätte gravierende Folgen für das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum sowie das Sozialversicherungssystem. Um die Chancen von Zuwanderung nützen zu können, ist die möglichst rasche Einbindung der Zugewanderten in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung. Die nötigen Rahmenbedingungen für Integration müssen gewährleistet sein – unabhängig vom Grund der Zuwanderung, sei es Flucht oder Arbeitsmigration, vom Alter der Zuwander:innen, ihrem Geschlecht oder ihrem kulturellen bzw. religiösen Hintergrund. Migrant:innen müssen umfassend am österreichischen Erwerbsleben, an der Gesellschaft sowie in wesentlichen Bereichen wie Arbeitsmarkt, Bildung, Wohnbau und Gesundheit teilhaben können.