Wir müssen reden: Wie alle in der Stadt mehr mit­gestalten können

08. August 2024

In Wien gibt es für Bewohner:innen eine Vielzahl an Möglichkeiten, um in der Stadt und in den Bezirken mitzureden, von Wahlen über Petitionen bis zu Mitmach-Budgets in den Bezirken. Allerdings: Der Status Quo mahnt zum Handeln. Während die Bevölkerung der Stadt wächst, sinkt der Anteil der Wahlberechtigten sowie die Wahlbeteiligung an sich. Die Entwicklung zur Zweidrittel-Demokratie muss aufgehalten werden. Eine aktuelle Studie zeigt: Gerade Menschen mit geringen Einkommen beteiligen sich weniger am Stadtgeschehen. Sie fühlen sich oft kaum angesprochen von den Mitsprache-Angeboten. Die Studie spiegelt einen Trend wider, der in vielen Städten zu beobachten ist: Zu viele Menschen wenden sich von der demokratischen Beteiligung ab.

Wien ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen und ist Österreichs jüngstes Bundesland. Gleichzeitig lässt sich ein internationaler Trend unter Metropolen auch in der Bundeshauptstadt beobachten: Eine sinkende Wahlbeteiligung und zugleich ein sinkender Anteil an Wahlberechtigten führen zur Tendenz einer Zweidrittel-Demokratie. Konkret ist Wien im Zeitraum zwischen 2010 und 2020 zwar um rund 220.000 Menschen gewachsen, gleichzeitig gehen immer weniger Wiener:innen zur Wahlurne und die Zahl der Wahlberechtigten hat sich im gleichen Zeitraum um 11.500 Personen verringert. Das hat zur Folge, dass eine Vielzahl an jungen Wiener:innen, sowie aktuell sechs Prozent der öffentlich Bediensteten, 26 % der Angestellten und 60 % der Wiener Arbeiter:innen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.

Es zeigt sich: Das unterste Drittel der Gesellschaft ist durch Ausschlüsse entlang von Einkommen, Bildung und Nationalität zunehmend politisch unterrepräsentiert. Zu viele Menschen wenden sich von der demokratischen Beteiligung ab oder kommen erst gar nicht an.

Neue Studie: Demokratie in Wien

Die Studie „Mehr Zusammenbringen“ von den Autorinnen Tamara Ehs und Martina Zandonella ermittelte eine Vielzahl an Beteiligungsmöglichkeiten für Wien. Ob im Grätzl, im Bezirk, im Betrieb oder in der Stadt: Demokratie lebt von der vielfältigen Beteiligung und der Begeisterung jener, die sich politisch einbringen, mitreden und gestalten wollen. Für diese Begeisterung braucht es jedoch auch das Wissen: „Ich kann etwas ändern!“ Der erste Teil der Studie ermittelte daher anhand einer Literaturrecherche und Expert:inneninterviews mit Partizipationsverantwortlichen auf Stadt- und Bezirksebene grundsätzliche Unterschiede der Angebote in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit. Im zweiten Teil der Studie wurden innerhalb einer repräsentativen Befragung 1.200 Wiener:innen in Deutsch, Türkisch, Englisch und BKS zur Teilnahme an demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten in Wien befragt.

Zufriedenheit mit dem politischen System

Die Frage nach der Zufriedenheit mit dem politischen System wird von knapp der Hälfte der Wiener:innen mit „sehr“ oder „ziemlich“ gut beantwortet. Es zeigt sich aber: Höhere Einkommens- und Bildungsgruppen sind mit dem politischen System in Wien zufriedener. Im unteren Einkommensdrittel liegt die Zustimmung nur bei knapp einem Drittel. Die Staatsbürgerschaft hat auf die Beantwortung der Frage keinen Einfluss: Die Zufriedenheit mit dem politischen System nimmt mit der Dauer des Aufenthalts in der Stadt ab; die Zufriedenheit mit dem politischen System ist bei jenen am höchsten, die in den vergangenen fünf Jahren nach Wien gekommen sind. Diese Tendenz lässt sich unter anderem mit der Einschätzung der politischen Wirksamkeit erklären. Erleben die Wiener:innen durch ihre politische Mitsprachemöglichkeiten wenig Wirkung, steigt auch die Frustration mit dem politischen System allgemein.

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Politische Wirksamkeit

Zusätzlich ist die Politikverdrossenheit groß: Die Hälfte der Wiener:innen denkt, dass sie mit politischer Beteiligung nichts bewirken kann, im untersten Einkommensdrittel sogar 61 %. 44 % der Wiener:innen empfinden, dass die Politik sie als Menschen zweiter Klasse behandelt, im untersten Einkommensdrittel sogar 58 %. In den Details zeigt sich eine Tendenz zur Demokratie als Klassenfrage: Ob man sich repräsentiert, politisch wirksam oder als Bürger:in zweiter Klasse fühlt, hängt stark mit der ökonomischen Position zusammen. Je besser man finanziell gestellt ist, desto eher traut man sich politische Wirksamkeit zu.

Das muss sich ändern. Auch Wiener:innen, die unter hohem finanziellen Druck stehen und mit Betreuungspflichten und Mehrfachbelastungen jonglieren müssen, brauchen konkrete Erfahrungen demokratischer Selbstwirksamkeit. Nur so kann das Vertrauen in politische Verhältnisse wieder gestärkt und der Teufelskreis aus Ohnmacht, Wut und sinkender Beteiligung durchbrochen werden. Nur ein Mehr an Beteiligung allein hebt die Demokratiequalität in der Stadt.

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Beteiligungsmöglichkeiten

Die verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten in Wien unterscheiden sich grundsätzlich in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit. Zum einen stehen Wahlberechtigten gesetzlich verankerte Beteiligungsrechte wie Landtags- und Bezirksvertretungswahlen, aber auch Petitionen, Volksbefragungen und Volksabstimmungen offen. Zudem gibt es seit einigen Jahren mehr Beteiligungsangebote, die nicht in der Stadtverfassung verankert sind und somit keinen Rechtsanspruch auf Durchführung haben. Darunter fallen etwa Mitsprache-Projekte zur Stadtentwicklung, Mitmachbudgets, Klimateams aber auch die Kinder- und Jugendmillion oder die Wohnpartner der Stadt Wien, die gezielt lokale oder soziale Zielgruppen ansprechen. Diese sind dementsprechend kleineren Zielgruppen bekannt.


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Die Wiener:innen kennen im Durchschnitt 5 der 13 erfassten Angebote. Rund 40 Prozent haben in den vergangenen fünf Jahren mindestens ein Angebot davon genutzt. 15 Prozent, das sind rund 250.000 Wiener:innen, haben bisher von keinem Beteiligungsangebot gehört, und mehr als die Hälfte der Wienerinnen und Wiener (60 Prozent) hat bisher an keinem Angebot teilgenommen. Häufigste Gründe für die Nicht-Teilnahme sind Zeitmangel, fehlende Information und die Einschätzung, dass die eigene Beteiligung nicht politisch wirksam sei.

Sowohl in der Bekanntheit der Beteiligungsangebote als auch in der tatsächlichen politischen Teilhabe zeigt sich eine Schieflage: Personen aus dem untersten Einkommensdrittel nehmen zunehmend von politischer Beteiligung Abstand oder sind aufgrund einer anderen Staatsbürgerschaft als der österreichischen ausgeschlossen. Rund 70% nutzten noch keines der genannten Beteiligungsangebote und aus dieser Gruppe gingen von den Wahlberechtigten auch nur 45 % zur Wiener Landtagswahl. Hier wird die Beteiligungsbereitschaft an Wiener Mitspracheangeboten auch von einer Enttäuschung über die fehlende Anerkennung in der gesamten Gesellschaft, Krisenerfahrungen und angedrohtem Sozialabbau überlagert.

Im obersten Einkommensdrittel wird die fehlende Teilnahme an Beteiligungsangeboten häufiger durch die Ausübung des formalen Wahlrechts kompensiert: Aus den 40 % im obersten Drittel, die kein Beteiligungsangebot nutzten, gingen dennoch 90 % der Wahlberechtigten zur Wiener Landtagswahl.

Zweidritteldemokratie

Die Studie zeigt, dass der internationale Trend zur „Zweidritteldemokratie“ auch in Wien sichtbar ist. Und zwar nicht nur bei Wahlen, sondern auch in anderen Formen der politischen Beteiligung wie etwa Bürgerinitiativen, Petitionen, Mitbestimmung beim Wohnen oder Partizipationsformen in der Stadtentwicklung. Die Ausschlüsse aus dem politischen System verlaufen meist entlang von Einkommen, Migrationshintergrund, Bildung und Alter. Die Exklusion sozio-ökonomisch benachteiligter Gruppen setzt eine Wirkungskette in Gang: Ihre Stimmen werden im politischen System nicht gehört, sodass mitunter Entscheidungen zu ihrem Nachteil getroffen werden, die wiederum eine stärkere Benachteiligung bewirken. Das Schaffen von mehr Angeboten der Beteiligung alleine kann diese Schieflage in Wien nicht beheben: Die Defizite des repräsentativen Systems werden nicht kompensiert – im Gegenteil, dessen Exklusionsmechanismen setzen sich fort, bestätigen die beiden Studienautorinnen Tamara Ehs und Martina Zandonella. Es lässt sich ein Matthäuseffekt beobachten: Wer bereits politisch aktiv ist, nutzt auch die neu geschaffenen Beteiligungsangebote; wer sich bislang nicht beteiligt, tut dies weiterhin nicht. Die Studienergebnisse stellen die gängige politische Praxis, wonach das Überleben der Demokratie von mehr Beteiligung(-sinstrumenten) abhängen würde, infrage. Tatsächlich muss der Fokus von Quantität auf mehr Qualität in der Beteiligung gelegt werden, um nachhaltige und gerechte Verbesserungen zu erreichen. Die Auszeichnung für Wien als Europäische Demokratiehauptstadt muss als Chance genutzt werden, für Demokratie zu begeistern.

Vorschläge für eine bessere Beteiligung in Wien:

  • Mehr Verbindlichkeit in der Einbindung der Wiener:innen und inklusive Zugänge der Wiener:innen sollten verankert werden.

  • Es braucht verbindliche Qualitätsstandards für alle Angebote der demokratischen Mitsprache und eine regelmäßige Überprüfung auf Wirksamkeit und wer damit erreicht wird, um demokratische Repräsentativität sicherzustellen.

  • Multiplikation und Begleitung von niederschwelligen Angeboten durch Sozialarbeiter:innen, Stadtteilinitiativen, Netzwerke im Grätzl. Ressourcen für politische Beteiligung sollten nicht in die Hände privater Akteur:innen gelegt, sondern zentral von der Stadt organisiert und gebündelt werden.

  • Vielfältige Kommunikation in vielen Sprachen, auf vielen Kanälen, sichtbar im Grätzl.

  • Mehr Demokratie und Mitbestimmung im Betrieb, Betriebsrats- und Arbeiterkammerwahlen stehen auch Beschäftigten offen, die eine andere Staatsangehörigkeit als die österreichische haben.

  • Mehr Demokratie braucht öffentliche Räume als Begegnungs- und Versammlungsorte zum Reden oder zur Selbstorganisation: leicht zugänglich, kostenfrei, grätzlnah.

  • Gerechter Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft

Die Langfassung des Artikels ist in der Zeitschrift AK Stadt: „Democra-City in der Schieflage“ Ausgabe 02/2024 erschienen.

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