„You lose a lot of money here!“ – die Kosten von Kinder­armut in Österreich

13. Juni 2024

Kinderarmut ist auch in wohlhabenden Ländern wie Österreich eine bittere Tatsache. Die Ausgaben, die zu ihrer Bekämpfung notwendig wären, relativieren sich in Anbetracht ihrer hohen Folgekosten, die in Österreich laut Berechnungen der OECD jährlich 3,6 Prozent des BIP (derzeit rund 18 Mrd. Euro) ausmachen. Geringe Aufstiegschancen für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen und Hürden im Bildungsbereich treiben die Kosten nach oben. Das sind die Ergebnisse einer Studie der OECD, die das Thema Kinderarmut von der Kostenfrage aus betrachtet und dazu Antworten liefert, die es in dieser Form bislang für Österreich nicht gab. Sie reiht sich in die jüngsten Forschungsaktivitäten des Sozialministeriums in Sachen Kinderarmut ein und wurde vergangenen November von Bundesminister Johannes Rauch und dem stellvertretenden Generalsekretär der OECD, Yóshiki Takeúchi, in Wien vorgestellt; Zitat: „You lose a lot of money here!“

Kinderarmut als wachsende Herausforderung

Kinder sind häufiger armutsgefährdet als die österreichische Gesamtbevölkerung. In Österreich leben 19,6 % der Kinder (0 bis 17 Jahre) in Haushalten mit niedrigem Einkommen – in der Gesamtbevölkerung sind es 14,9 %. Die hohe Kinderarmut ist ein neueres Phänomen, das seinen Ausgang in der Finanzkrise nahm. Von 2007 auf 2008 ist der Anteil der Kinder, die in armutsgefährdeten Haushalten leben, sprunghaft von 14,8 % auf 18,1 % angestiegen und seitdem auf einem hohen Niveau geblieben (2021: 19,9 %, 2022: 19,2 %, 2023: 19,6 %). Die Folgen von Kinderarmut sind gravierend. Oft fehlt das Geld für Freizeitgestaltung und soziale Teilhabe, armutsgefährdete Kinder fallen häufiger in der Schule zurück und zuletzt nahmen auch gesundheitliche Auswirkungen zu: 2022 war fast jedes dritte Kind (29,2 %) aus sozioökonomisch schlechter gestellten Haushalten von Adipositas oder Übergewicht betroffen, 2018 waren es noch 21,0 %.

Kosten der Kinderarmut trotz guter Voraussetzungen überdurchschnittlich

Kinderarmut geht mit erheblichen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen einher. Die Studie der OECD quantifiziert die Nachteile bei Arbeitsmarktergebnissen und gesunden Lebensjahren von Erwachsenen, die sozioökonomische Benachteiligung in ihrer Kindheit erfahren haben.

Schlechtere Arbeitsmarktergebnisse infolge von Kinderarmut ziehen demnach jährliche Einkommensverluste in Höhe von 1,6 % des BIP nach sich. Umgerechnet auf das prognostizierte BIP für 2024 sind das 8 Mrd. Euro. In Österreich gehen diese Einbußen fast vollständig auf niedrigere Löhne und Gehälter zurück. Auf das spätere Beschäftigungsausmaß hingegen hat die soziale Herkunft in Österreich offenbar wenig Einfluss. Armutsgefährdete Kinder arbeiten zwar später einmal gleich viel wie reichere, verdienen dabei aber weniger.

Kinderarmut führt auch zu gesundheitlichen Einbußen im Erwachsenenalter. Die beiden Autoren der OECD berechnen die Summe der sogenannten „qualitätsbereinigten Lebensjahre“, die den Betroffenen durch sozioökonomische Benachteiligung in der Kindheit verloren gehen. Umgerechnet belaufen sich die Kosten gesundheitlicher Einschränkungen durch Kinderarmut der Schätzung zufolge auf 2,0 % des BIP oder 10 Mrd. Euro im Jahr 2024.

Die jährlichen Kosten der Kinderarmut betragen in Österreich in Summe also 3,6 % des BIP und liegen damit über dem OECD-Durchschnitt (siehe Grafik); und das, obwohl Österreich eines der reichsten Länder ist.

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Das ist insofern bemerkenswert, als die Betroffenheit österreichischer Kinder von Einkommensarmut bzw. kinderspezifischer materieller Deprivation unter dem OECD-Schnitt liegt (siehe Grafik).

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OECD: Bekämpfung von früher sozialer Selektion durch Maßnahmen im Bildungssystem

Den Grund für die relativ hohen Kosten sozioökonomischer Benachteiligung in der Kindheit sehen die Studienautoren in der in Österreich schwach ausgeprägten sozialen Mobilität. So sind hierzulande zwar weniger Kinder als in anderen OECD-Staaten von Armut bzw. materieller Deprivation betroffen, der soziale Aufstieg ist aber besonders schwierig. Mehr als in anderen Ländern bleiben sie ihr Leben lang armutsgefährdet, daher ist der Zusammenhang zwischen früher sozioökonomischer Benachteiligung und den späteren einkommensbezogenen und gesundheitlichen Einbußen in Österreich stärker. Zu einem ähnlichen Schluss kam eine bereits 2019 vom Sozialministerium bei der OECD in Auftrag gegebene Studie, die das Thema der sozialen Mobilität in Österreich genauer unter die Lupe nahm.

Die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern hängen maßgeblich von den Ressourcen, aber auch von den Einschränkungen ihrer Eltern ab. Fallen Kinder zurück, weil es ihnen aufgrund der sozialen Lage ihrer Eltern an Ressourcen mangelt, kann die öffentliche Hand mit Sachleistungen gegensteuern. Diese spielen eine wesentliche Rolle bei der Erhöhung sozialer Durchlässigkeit. Sind öffentliche Leistungen schlecht ausgebaut oder unzugänglich, trüben sich auch die Erfolgsaussichten der Kinder. Ganz zentral für Heranwachsende ist in dieser Hinsicht der Bildungsbereich.

Die Studie empfiehlt daher den Ausbau frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung in Österreich. So ermöglicht flächendeckende ganzjährige Ganztagsbetreuung bis zur Erreichung des Schulalters Kindern – unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund – frühe Sprachförderung und eine gute Vorbereitung auf die Volksschule. Sie macht es zudem für Eltern – insbesondere Frauen – einfacher, Beruf und Familie zu vereinbaren. Höhere Erwerbstätigkeit der Mütter wirkt sich stark armutsreduzierend aus.

Ein Vergleich der europäischen OECD-Länder zeigt jedoch, dass die Teilnahmequoten an frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung der unter Dreijährigen in Österreich niedrig sind (siehe Grafik). Dafür gibt es gleich mehrere Erklärungen: Neben großzügigen Kinderbetreuungsgeld- und Elternkarenzregelungen, die es attraktiv machen, Kinder zu Hause zu betreuen, führen Angebotsengpässe und unflexible Öffnungszeiten bei den Bildungsangeboten zu geringer Inanspruchnahme. Deutlich macht das auch ein Blick auf die Investitionen in frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung: Trotz der jüngsten Erhöhungen betragen die öffentlichen Ausgaben in Österreich mit 0,5 % des BIP immer noch weniger als die Hälfte dessen, was führende OECD-Länder wie Dänemark (1,3 %), Frankreich (1,3 %) oder Schweden (1,6 %) ausgeben. Auch die zusätzlichen Ländermittel für Elementarpädagogik in Höhe von jährlich 500 Mio. Euro, die mit dem neuen Finanzausgleich vereinbart wurden, werden den Abstand zum OECD-Spitzenfeld kaum verringern – die Erhöhung entspricht lediglich 0,1 % des BIP.

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Ein weiteres Hemmnis für die soziale Mobilität in Österreich sehen die Autoren in der frühen Selektion in unterschiedliche Schultypen. In Österreich müssen sich Kinder bzw. deren Eltern im Alter von 9 oder 10 Jahren entscheiden, ob sie in eine Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS) oder eine Mittelschule gehen, während der OECD-Durchschnitt erst mit 14 Jahren eine solche Entscheidung trifft. Dementsprechend absolvieren Kinder in Haushalten mit niedrigem Einkommen die Unterstufe nur zu 17 % in einer AHS; Kinder aus Haushalten mit hohem Einkommen zu 78 %. Dies wirkt sich einerseits auf ihren Lernerfolg aus, andererseits auf die Fähigkeit, Netzwerke aufzubauen, die Teil ihrer späteren sozialen Stellung und Verbindungen in der Gesellschaft sein können.

Um den rezenten Anstieg relativer Einkommensarmut bei Kindern umzukehren, empfiehlt die OECD auch, Transferleistungen für Familien gerechter auszugestalten. Zwar wurden öffentliche Familienleistungen seit 2010 erhöht und werden seit 2023 automatisch an die Inflation angepasst. Sie decken aber nur einen Teil der Kosten und sind wenig treffsicher. Insbesondere die Einführung des Familienbonus Plus, der als Steuerabsetzbetrag konzipiert ist, hat die Geldleistungen für Familien zwar erhöht. Familien mit höherem Einkommen profitieren jedoch in höherem Maße als jene mit geringerem Einkommen.

Armut bzw. Kinderarmut ist ein komplexes, multidimensionales Phänomen. Strategien zu ihrer Bekämpfung bzw. zur Förderung des Wohlbefindens von Kindern sollten daher sowohl strukturelle Ursachen adressieren als auch die Armutsfestigkeit von Transfers und eine hochwertige Sachleistungsversorgung im Auge behalten. Die neueste Studie der OECD bestätigt dabei, dass nicht nur ethische, sondern auch volkswirtschaftliche Gründe für Investitionen in die Bekämpfung von Kinderarmut sprechen.

Die Studie ist in den sozialpolitischen Analysen des Sozialberichts 2024 erschienen (Band II). Dieser seit 1967 erscheinende Bericht ist seither zu einer der wichtigsten Publikationen des Sozialministeriums geworden. Er nimmt seit Langem einen festen Platz in der öffentlichen Auseinandersetzung zum Thema Sozialpolitik ein und trägt zum wissenschaftlichen Diskurs in Österreich bei. Die Ergebnisse wurden am 9. April 2024 dem Parlament vorgelegt und werden dort diskutiert.

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