Gewalt an Frauen – Versuch eines EU-Vergleichs

26. November 2024

Gewalt an Frauen scheint in Österreich omnipräsent. Kaum ein Tag vergeht, ohne in den Medien von schrecklichen Gewalttaten an Frauen zu lesen. Anlässlich der 16 Tage gegen Gewalt gegen Frauen versuchen wir uns an einer internationalen Perspektive, betrachten verfügbares Datenmaterial zu Gewalt an Frauen im Privaten und am Arbeitsplatz und versuchen zu beantworten: Hat Österreich ein Problem mit Gewalt gegen Frauen? Wir konstatieren ein gesamteuropäisches Problem, dem dominante patriarchale Denkweisen zugrunde liegen. Beseitigung ungleicher Machtverhältnisse und die Stärkung ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen wird Gewalttaten und Übergriffe nicht gänzlich verhindern, doch Möglichkeiten eröffnen, (schneller) aus schädlichen Beziehungskonstellationen auszubrechen.

Das nordische Paradoxon: Spitzenreiter bei Gewalt gegen Frauen?

Die Europäische Union für Menschenrechte (FRA) veröffentlichte 2014 eine Gesamtschau auf Gewalt gegen Frauen durch eine EU-weite Erhebung. Die Daten zeigen Unerwartetes: nämlich, dass klassische Vorzeigeländer, was Gleichstellung der Geschlechter betrifft, die höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen aufweisen. So gaben 52 Prozent der Däninnen, 47 Prozent der Finninnen und 46 Prozent der Schwedinnen an, körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen ihrer (Ex-)Partner oder eine andere Person erfahren zu haben. In Österreich waren es „nur“ 20 Prozent und nur ein Land hob eine niedrigere Rate ein: Polen mit 19 Prozent. Sind die nordischen Gleichstellungs-Vorzeigeländer vielleicht doch nicht so fortschrittlich? Hat ökonomische Gleichstellung der Geschlechter vielleicht doch keinen Einfluss?

Hierzu stehen zwei Thesen im Raum: Einerseits sind die Ergebnisse naheliegend, gerade wegen der guten gesellschaftlichen Sensibilisierung, sodass Befragte in skandinavischen Ländern eher dazu neigen, die Fragen offen zu beantworten, und mehr Bewusstsein dafür haben, wo Gewalt beginnt. Dafür spricht auch, dass gerade in Ländern mit hoher angegebener Gewaltrate der Erstkontakt telefonisch geschah, was zusätzlich die Hemmschwelle senkt, um über Gewalterfahrungen zu reden. Auch psychische Gewalt wurde miteinbezogen – eine Form der Gewalt, für die es auch heute, über ein Jahrzehnt später, in den wenigsten Gesellschaften ein Bewusstsein gibt. Andererseits steht auch im Raum, dass dies Ergebnisse einer Backlash-Bewegung sein können, die sich vor allem gegen Frauen formiert, die einen gleichgestellten Platz in der Gesellschaft einfordern. Darauf weist auch das zunehmende Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den skandinavischen Ländern mit typisch misogyner Programmatik.

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Ähnliches Bild bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz

Auf Basis der Istanbul-Konvention sammelt Eurostat Daten über geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und andere Formen interpersoneller Gewalt (EU-GBV) und bietet somit die Gelegenheit, aktuellere Daten als die veraltete FRA-Survey zu liefern. Abstrich: Es liegt (noch) kein Gesamtergebnis für den EU-Raum vor. Auch bei dieser Befragung zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der oben zitierten veralteten FRA-Studie: Nordische Länder sind Spitzenreiter und Länder, die selten als „Gleichstellungsländer“ tituliert werden, geben seltener an, mit sexueller Belästigung konfrontiert zu sein.


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Gewalt gegen Frauen – ein gesamteuropäisches Problem

Während also die EU-Daten ein höchst paradoxes Bild vermitteln, ist klar, dass weiterhin konsequent der Blick auf geschlechtsspezifische Gewalt – im Privaten, in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz – gerichtet werden muss. Internationale Vergleiche stoßen aus mehreren Gründen an ihre Grenzen, Gewalt gegen Frauen vergleichend zu messen: Unterschiedliche Grade an Sensibilisierung, kulturelle Normen, die es (nicht) ermöglichen, über Erlebtes zu sprechen, sorgen für unterschiedliche Ausgangslagen. Auszugehen ist also nicht von groben Unterschieden bei der Häufung von (sexueller) Gewalt gegen Frauen im Vergleich, sondern von unterschiedlichen Möglichkeiten, diese zu artikulieren, worüber uns auch die Interpretation der Daten Hinweise liefern. Heftig zu kritisieren ist, wie inkonsequent und lückenhaft die Datenlage nach wie vor ist und wie lange überhaupt keine Daten dazu erhoben wurden (Hinweis: Aktuell werden dazu zwei Studien erhoben, einerseits die Sicherheit am Arbeitsweg und andererseits Belästigung am Arbeitsplatz in den Branchen Industrie und Gewerbe sowie Information und Kommunikation in Niederösterreich). Die EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sieht bezüglich der Datenlage Verbesserungen vor. Diese müssen bis Mitte 2027 von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden.

Hat ökonomische Unabhängigkeit einen Einfluss?

Während nicht geklärt ist, ob ökonomische Unabhängigkeit vor Gewalt schützt, ist eines klar: Finanzielle Eigenständigkeit, das heißt: nicht auf das Partnereinkommen angewiesen zu sein, erleichtert es, eine Gewaltbeziehung zu verlassen, sicherlich nicht in emotionaler Hinsicht, aber in materieller. Deswegen bleibt die Stärkung von ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen ein wichtiges Werkzeug. Nach wie vor dominiert in Österreich die Vorstellung der Frau als Zuverdienerin: Knapp die Hälfte der Frauen sind in Teilzeit beschäftigt und arbeiten wesentlich häufiger in anderen atypischen Beschäftigungsformen: 2023 waren 61 Prozent der geringfügig Beschäftigten weiblich. Diese Beschäftigungsformen ermöglichen selten ein Auskommen mit dem Einkommen. Zudem werden Branchen, in denen typischerweise Frauen beschäftigt sind (finanziell) schlechter bewertet. Die Bruttostundenlöhne in mit Frauen assoziierten Berufen und Branchen sind unterdurchschnittlich bezahlt und Berufe und Branchen, die typischerweise Männern zugeschrieben werden, überdurchschnittlich bezahlt.

Mehr Sicherheit für Frauen

Frauen brauchen mehr Sicherheit in allen Bereichen. Dazu braucht es ein Maßnahmenpaket, das an unterschiedlichen Stellschrauben ansetzen muss.

Mehr Sicherheit im Privaten:

  • Ausbau und (finanzielle) Stärkung der Präventionsarbeit durch verstärkte Buben- und Männerarbeit.
  • Ausreichend finanzielle und personelle Ressourcen von Frauenhäusern und Frauen- und Mädchenberatungsstellen.
  • Täterarbeit weiter forcieren: Die verpflichtende Gewaltpräventionsberatung von Tätern im Ausmaß von sechs Stunden ist grundsätzlich positiv, aber zu wenig. In sechs Stunden ändert sich nicht das Jahrzehnte indoktrinierte misogyne Weltbild. Expert:innen der Täterarbeit fordern eine bessere Vernetzung der betroffenen Institutionen auch mit dem Opferschutz, um die Rückfallprävention zu optimieren und mögliche Gefährder frühzeitig zu erkennen.
  • Ökonomische Unabhängigkeit von Frauen fördern: Etwa durch Ermöglichen existenzsichernder Vollerwerbstätigkeit durch einen Rechtsanspruch auf ganztägige, kostenlose Kinderbildungs- und -betreuungsplätze sowie die umfassende finanzielle Aufwertung von typischen Frauenbranchen. Nicht zuletzt beugen diese Maßnahmen auch weiblicher Altersarmut vor.

Mehr Sicherheit am Arbeitsplatz: Die Ratifizierung des ILO 190 gegen Gewalt am Arbeitsplatz darf kein leeres Versprechen bleiben!

  • Dienstgeber:innen müssen ihre Fürsorgepflicht besser wahrnehmen: Etwa durch verpflichtende Präventionskonzepte inklusive Schadenersatz bei fehlenden Präventionskonzepten und verpflichtende Schulungen und Sensibilisierung von Führungskräften in den Betrieben. 
  • Anpassungen im Gleichbehandlungsgesetz wie deutliche Anhebung des Mindestschadenersatzes sowie eine finanzielle und personelle Stärkung der Gleichbehandlungsanwaltschaft und der Gleichbehandlungskommission.
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