Seit den einschneidenden Ereignissen im August 2021, als die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernahmen, erleben Frauen im Land eine dramatische Verschärfung ihrer Lebensumstände, was sich auch auf das Leben in der Diaspora auswirkt. Die Auswirkungen von Flucht auf das Leben afghanischer Frauen in Österreich und deren Herausforderungen bei der Arbeits- und soziokulturellen Integration zeigt eine Kooperationsveranstaltung des Vereins AKIS (Afghanischer Kulturverein).
Besonders besorgniserregend ist der Zugang zu Bildung und zu grundlegenden Einrichtungen wie Freizeit- und medizinischen Einrichtungen. Die Taliban haben Frauen jegliche Bildung und Teilnahme am öffentlichen Leben untersagt, was zu einer humanitären Krise führt, die Frauen und Kinder besonders hart trifft.
Entrechtung von Frauen in Afghanistan befeuert Asyl- und Abschiebedebatte in Österreich
Die Verletzung von Menschen- und Frauenrechten durch die Taliban, wie das Verbot von Bildung, Arbeit, Teilnahme am öffentlichen Raum und freier Partnerwahl für Frauen, sowie Zwangsheiraten und frühzeitige Schwangerschaften, obwohl sie selbst noch Kinder sind, ist erschreckend. Die jüngste Verordnung der Taliban vom Dezember 2022 verbietet Frauen und Mädchen den Besuch von Universitäten und die Arbeit in lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen. Frauen, die für ihre Rechte protestieren, werden von den Taliban entführt, gefoltert und vergewaltigt. Negative Schlagzeilen führen dazu, dass die afghanische Community in Österreich ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rückt und erneut Asyl- und Abschiebungsdebatten angefeuert sowie afghanische Männer in Österreich unter Generalverdacht gestellt werden. Afghanische Frauen werden bei all diesen Debatten nicht gehört.
In Kooperation mit dem VIDC (Vienna Institute for International Dialoge und Cooperation) und mit Unterstützung durch die AK Wien organisiert der Verein AKIS (Afghanischer Kulturverein) jedes Jahr eine Konferenz, um auf die Menschen- und Frauenrechtsverletzungen in Afghanistan aufmerksam zu machen sowie die Herausforderungen der afghanischen Frauen bei der Arbeits- und soziokulturellen Integration in die österreichische Gesellschaft aufzuzeigen.
Studien zu den Auswirkungen der Flucht von afghanischen Frauen
Judith Kohlenberger, Professorin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, erforscht seit Jahren die Situation geflüchteter Frauen. Eine aktuelle Studie zeigt auf, in welchen spezifischen Lebenssituationen sich rezent nach Österreich geflüchtete Frauen im Vergleich zu Männern befinden. Die Ergebnisse machen deutlich, dass die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation von persönlichen sozioökonomischen Faktoren abhängen. Dazu gehören die familiäre Situation, formale Bildung, Arbeitserfahrungen und Sprachkenntnisse. Auch gesundheitliche Einschränkungen können eine wesentliche Integrationsbarriere darstellen. Die meisten befragten Frauen zeigen enorme Integrationsbemühungen und hohe Motivation, ihre Zukunft und die ihrer Familien aktiv zu gestalten.
Bildungsbenachteiligung im Herkunftsland erschwert den Arbeitsmarkteinstieg
Der strukturell bedingte jahrzehntelange Ausschluss von Frauen und die Einschränkungen ihrer Rechte beim Zugang zu Bildung in Afghanistan haben dazu geführt, dass der Bildungsstand afghanischer Frauen in Österreich im Allgemeinen niedriger ist als der von einheimischen Frauen. Der Trend aus ihren Heimatländern setzt sich in Österreich fort. Die vielfach fehlende oder geringe Schulbildung erschwert den Spracherwerb und damit auch den gesellschaftlichen und beruflichen Zugang.
Laut Daten der Statistik Austria lebten mit Stichtag 1.1.2022 rund 15.250 afghanische Frauen in ganz Österreich, wobei die größte Anzahl von ihnen in Wien lebt. Das Durchschnittsalter der afghanischen Frauen in Österreich liegt bei knapp über 30 (30,77) Jahren, was sie zu einer der jüngsten im Ausland geborenen Bevölkerung in Österreich macht. Die Erwerbstätigenquote der 15- bis 64-jährigen Frauen mit Geburtsland Afghanistan lag 2019 (Statistik Austria) bei 21,7 Prozent. Die Arbeitslosenquote (2021) der afghanischen Frauen liegt laut Österreichischem Integrationsfonds bei etwa 51,1 Prozent.
Überwinden von Geschlechterdiskriminierung
Kohlenbergers Forschung beleuchtet auch die Familienstruktur der geflüchteten Frauen aus Afghanistan. Diese Frauen sind häufig verheiratet und leben mit ihren Familien und Kindern in Österreich. Frauen benötigen mehr Zeit als Männer, um sich vollständig zu integrieren, da sie sich oft um ihre Kinder kümmern müssen und daher weniger Zeit für Sprachkurse oder den Einstieg in den Arbeitsmarkt haben. In der EU sind nur 45 Prozent der geflüchteten Frauen erwerbstätig, verglichen mit 62 Prozent der männlichen Geflüchteten. Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, in prekären Arbeitsverhältnissen oder als Haushaltshilfen und sind vielfältigen Zwängen und Vorurteilen ausgesetzt, was sich negativ auf ihre psychische Gesundheit auswirkt. Verstärkt wird die Situation, wenn entsprechende Kinderbetreuungsplätze in Österreich fehlen.
Afghanische Frauen in Österreich stehen häufig vor Geschlechterdiskriminierung und patriarchalen Strukturen, die sich in verschiedenen Lebensbereichen manifestieren, von der Familie bis zum Arbeitsplatz. Die Frauen kommen aus einem Land, wo es erhebliche Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen gibt und die Erwerbstätigkeit von Frauen im Allgemeinen niedrig ist. In vielen afghanischen Familien wird eine traditionelle Rollenaufteilung gelebt, die den Frauen die alleinige Zuständigkeit für Familie und Haushalt zuschreibt, während der Vater für das Familieneinkommen zuständig ist.
An dieser Stelle muss betont werden, dass die afghanische Community nicht homogen ist. Trotz aller Schwierigkeiten gelingt es den Frauen innerhalb kürzester Zeit, einen Schulabschluss zu erreichen. Es gibt eine Vielzahl von erfolgreichen afghanischen Frauen in Österreich, die eine wichtige Vorbildwirkung für andere Frauen und Mädchen aus der Community haben.
Frauen auf Afghanistan sind zudem stark von intersektioneller Diskriminierung betroffen – aufgrund ihres Geschlechts, Flucht/Migration, Bildung, Vorurteile Herkunftsland, ökonomische Abhängigkeit usw., die sich gegenseitig verstärken. All diese Faktoren erschweren den Arbeitsmarkteinstieg!
Sorgearbeit, soziale Isolation und negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
Kohlenbergers Untersuchungen zeigen, dass weibliche afghanische Geflüchtete eine größere psychische Belastung aufweisen als syrische oder irakische Geflüchtete. Insgesamt sind afghanische Frauen psychisch stärker betroffen als afghanische Männer.
Auch bei den Sozialkontakten zeigen sich geschlechterspezifische Unterschiede. Geflüchtete Frauen haben weniger Kontakte außerhalb ihrer Familie als Männer. Geflüchtete Frauen in Österreich leben häufiger mit Familienmitgliedern, insbesondere mit minderjährigen Kindern, als Männer und sind häufiger von Mehrfachbelastungen betroffen als Männer. Mehr als ein Drittel der befragten Frauen gab an, in Österreich (erstmals oder erneut) Mutter geworden zu sein. Die Betreuung von (Klein)kindern bei gleichzeitig fehlenden sozialen und familiären Netzwerken stellt geflüchtete Frauen vor große Herausforderungen. Tatsächlich gaben 45 Prozent der befragten Frauen an, keine kurzfristige Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder außerhalb der Kernfamilie zu haben, da Großeltern und Verwandte meist im Ausland leben. Der erhöhte Bedarf an Kinderbetreuungsmöglichkeiten bleibt häufig ungedeckt.
Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen als Integrationsfaktor
Die unbezahlte Arbeit führt zu einem Gefühl der Überlastung und chronischem Stress und bindet zeitliche Ressourcen. Der Sorgearbeit kommt somit ein „ambivalenter Effekt“ für die Integration der Mütter zu. Die zusätzliche Belastung für geflüchtete Frauen, der eigenen (ökonomischen) Integration, aber auch der gesamten Familie nachzukommen, führt bei den Betroffenen oftmals zu einem Gefühl der Überlastung.
Die Studie zeigt aber auch, welchen positiven Beitrag Schulen, Betreuungsangebote oder Sportvereine, die die Kinder besuchen, auf die Integration von geflüchteten Frauen haben. Im besten Fall können Freundschaften mit österreichischen Familien die Sozialkontakte von Müttern nachhaltig erhöhen. Um solche Kontakte zu ermöglichen, ist allerdings eine flächendeckende und niederschwellige Kinderbetreuung zentral.
Österreich als neue Chance
Die Studienergebnisse zeigen auch, dass die Anerkennungsquote für weibliche afghanische Flüchtlinge in Österreich höher ist als für männliche. Im Dezember 2022 und Anfang 2023 kündigten Schweden und Dänemark an, dass sie allen afghanischen Frauen und Mädchen „allein aufgrund ihres Geschlechts“ automatisch Asyl gewähren werden. Diese Entscheidung war eine Reaktion auf die zunehmenden Einschränkungen der Frauenrechte und die wachsende Unsicherheit für Afghaninnen, die Asyl in Europa und anderen Ländern suchen. Frauen aus Afghanistan bekommen damit eine neue Chance, um ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu können.
Allerdings verschärfen sprachliche Hürden, gesellschaftliche Ausgrenzung und ein neu zu lernender Alltag die Situation geflüchteter Frauen. Treffen diese Barrieren auf fluchtbedingte gesundheitliche Vorbelastungen, führt dies zu geringerer psychischer Gesundheit als bei der österreichischen Durchschnittsbevölkerung.
Dennoch empfinden die meisten der befragten Frauen ihr Leben in Österreich als einen Zugewinn an persönlichen Handlungsoptionen. Sie nehmen mehr Eigenverantwortung, Selbstständigkeit und größere Entfaltungsmöglichkeiten in ihrer neuen Heimat wahr.
Trotz dieser Herausforderungen zeigen viele afghanische Frauen in Österreich bemerkenswerte Resilienz und Entschlossenheit, sich ein neues und vor allem besseres Leben aufzubauen. Sie setzen sich in Organisationen und Initiativen für die Rechte von geflüchteten Frauen ein – in Österreich und in Afghanistan. Sie leisten Unglaubliches, sind laut und aktiv und werden trotzdem oft nicht gehört. Ihre Arbeit ist unersetzlich, ihre Wirkung enorm und ihre Vorbildrolle ist sehr bedeutsam.
Dringender Handlungsbedarf
Die Arbeitsmarktintegration ist ein wesentlicher Grundbaustein für die Integration von Geflüchteten. Frauen tragen insgesamt eine wesentliche Schlüsselrolle bei der Integration der Familie in der Aufnahmegesellschaft, umso notwendiger ist es, zugewanderte Frauen gezielt am Arbeitsmarkt zu unterstützen. Um die Mehrfachdiskriminierung von afghanischen Frauen zu beseitigen, braucht es spezifische maßgeschneiderte, niederschwellige Sprach-, Bildungs- und Integrationsangebote, flächendeckende Kinderbetreuung und Beseitigung jeglicher Formen von Diskriminierungen.
Zusätzlich müssen viele afghanische Frauen traumatische Erfahrungen aus ihrer Heimat bewältigen, weshalb psychologische Unterstützung und therapeutische Dienste oft notwendig sind. Ein Ziel muss auch sein, das Bewusstsein für die drängenden Bildungsbeschränkungen afghanischer Frauen und Mädchen zu schärfen und für die dramatische Situation in Afghanistan zu sensibilisieren. Dafür braucht es verstärkte Unterstützung seitens Österreich und der EU. Denn das Problem der afghanischen Frauen ist nicht nur ein afghanisches, sondern ein internationales Problem!