Anfang des Jahres hat die Europäische Kommission ein Reflexionspapier zur UN-Agenda 2030 vorgelegt. Neben dem Pariser Klimaschutzübereinkommen gilt die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015 verabschiedete Agenda 2030 als Meilenstein für die internationale Zusammenarbeit zur Förderung nachhaltiger Entwicklung und als wesentlicher Kompass für die Verwirklichung ökologisch tragfähiger und sozial gerechterer Gesellschaften. Neben den EU-Mitgliedstaaten sieht die Kommission auch die EU in der Pflicht, sich um die umfassende Umsetzung zu bemühen. Nun ist die Frage zu beantworten, welche Rolle der europäischen Ebene konkret zukommen soll.
Das Reflexionspapier der Europäischen Kommission
Mit ihrem Reflexionspapier möchte die Kommission eine breite Debatte zu Möglichkeiten einer entschlosseneren Unterstützung der UN-Ziele nachhaltiger Entwicklung auf europäischer Ebene anregen. Das Papier und dessen Rezeption sollen auch der neuen Kommission als Inspirationsquelle für die kommende Legislaturperiode dienen. Zur Ideensammlung hat die Kommission bereits im Jahr 2017 eine hochrangige Multi-Stakeholder-Plattform eingerichtet. Nun ist zu klären, durch welche politischen Ansätze die sogenannten SDGs (Sustainable Development Goals) auch stärker strategisch verankert werden sollen.
Im Reflexionspapier werden drei Szenarien skizziert, mit denen die zukünftige Kommission die Implementierung vorantreiben könnte. Zunächst wäre eine Gesamtstrategie mit Unterstützung der höchsten politischen Ebene denkbar. Dann müssten zukünftig alle Strategien und Maßnahmen der EU an den SDGs ausgerichtet werden. Als zweite Option wird die kontinuierliche Einbeziehung der Nachhaltigkeitsziele in die einschlägigen Politikbereiche der EU vorgeschlagen. In diesem Fall würden andere politische Prioritäten gleichberechtigt neben den SDGs stehen, den Mitgliedstaaten und untergeordneten Ebenen bliebe mehr Entscheidungsspielraum. Schließlich könnten die SDGs primär für die Außenbeziehungen der EU handlungsleitend werden. Die Kommission präferiert dabei kein Szenario, im Endergebnis wird eine Kombination einzelner Elemente aus jedem der drei Szenarien erwartet. Grundsätzlich betont die Kommission, dass sie Europa für die Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung in einer guten Ausgangslage sieht. Die europäische Integration habe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur zur Überwindung von Armut und Hunger sowie zur Schaffung eines Raums der Freiheit und Demokratie beigetragen. Soziale Marktwirtschaften hätten bei hohen Sozial- und Gesundheitsstandards Wohlstand geschaffen und für Sicherheit gesorgt, Forschung und Innovation würden heute eine nachhaltigere Ressourcennutzung ermöglichen. Während die Kohäsionspolitik dazu beiträgt, die Unterschiede zwischen den Regionen durch Aufwärtskonvergenz zu verringern, sei die EU auch bei der Bekämpfung des Klimawandels eine Vorreiterin. Die Kommission betont in ihrem Reflexionspapier, dass die Wende in Richtung nachhaltiger Entwicklung nur gelingen kann, wenn sie mit „Wohlergehen für alle einhergeht“, der Europäischen Säule sozialer Rechte wird als zentralem Orientierungsrahmen für das soziale Europa große Bedeutung zugemessen. Diese Perspektive ist vollinhaltlich zu unterstützen. Allerdings mangelt es dem Papier an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, wie bislang dominante Politikansätze die soziale Lage in der EU auch verschlechtert haben. Ohne eine deutliche Abkehr von fehlgeleiteten Politikrezepten – wie beispielsweise im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters – ist zu befürchten, dass auch eine übergreifende EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung keine adäquaten Antworten auf die großen sozialen und ökologischen Herausforderungen bringt. Zwar wäre – nicht zuletzt auch angesichts der auslaufenden EU-2020-Strategie – eine umfassende, ambitionierte, konkrete und kohärente Strategie zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele auf EU-Ebene dringend geboten. Das spräche für die Umsetzung von Szenario 1 – die EU und ihre Mitgliedstaaten müssten ihre Maßnahmen zur Erreichung der SDGs koordinieren und deren Durchführung anhand der konkreten und vielfach sehr ambitionierten Ziele für das Jahr 2030 überwachen. Beispielsweise wäre gemäß Ziel 1 bis 2030 der „Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition leben, mindestens um die Hälfte“ zu senken; nach Ziel 8 müssten im Jahr 2030 für alle Frauen und Männer produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit gesichert sein. In diesem Lichte wäre die Einrichtung eines Verfahrens für die EU-weite Koordinierung der SDGs jedenfalls zu unterstützen. Die Erfahrung mit der Umsetzung der EU-2020-Ziele im Rahmen des Europäischen Semesters lehrt aber, dass derartige Verfahren auch dazu instrumentalisiert werden können, die Mitgliedstaaten zu problematischen „Strukturreformen“ anzuregen – sei es über länderspezifische Empfehlungen oder zukünftig durch die Verknüpfung zwischen EU-Haushalt und Europäischem Semester. So zielten die länderspezifischen Empfehlungen vielfach auf einen Abbau an Arbeitsmarkt- und Sozialstandards ab, beispielsweise durch Eingriffe in soziale Sicherungssysteme. Schon in der Vergangenheit wurde damit dem im EU-Vertrag festgehaltenen Ziel der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes widersprochen, und die sozialen Zielsetzungen der mittelfristigen EU-Strategien wurden untergraben. Die von der Kommission im Endergebnis erwartete Kombination aus den drei skizzierten Szenarien zur Implementierung der SDGs kann einen guten Kompromiss ergeben. Entscheidend ist, dass die Verankerung der SDGs zu einer umfassenden Wohlstandsorientierung führt. Eine detailliertere Position zum Reflexionspapier der Europäischen Kommission finden Sie hier.
Nachhaltige EU-Politik erfordert Wohlstandsorientierung
Eine erfolgreiche und umfassende Nachhaltigkeitsstrategie muss mit einer inhaltlichen Neuausrichtung der EU-Politik in unterschiedlichen Bereichen verbunden sein: