Das Verfahren um die Rechtswidrigkeit der Mindestlohnrichtlinie geht in die finale Runde: Nachdem der Generalanwalt Nicholas Emiliou seine Schlussanträge zum Vorbringen Dänemarks und Schwedens abgegeben hat, wird bald ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs erwartet. Der Grund: Die EU, so die klagenden Parteien, habe keine Kompetenz, Löhne und Tarifverträge zu regeln. Folgt der Gerichtshof dieser Argumentation – was er nicht muss –, wäre dies ein fatales Signal für ein soziales Europa und die Beschäftigten in der EU. Doch der Generalanwalt könnte falsch liegen – wofür einige Gründe sprechen.
Was regelt die Mindestlohnrichtlinie?
Das erklärte Ziel der Mindestlohnrichtlinie ist laut Art. 1 „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere der Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern“. Dieses Ziel verfolgt sie auf zwei Wegen: Einerseits sollen Tarifverhandlungen und die tarifvertragliche Abdeckung gefördert werden (in Österreich Kollektivvertragsverhandlungen und KV-Abdeckung). Art. 4 der Richtlinie trägt deshalb den Mitgliedsstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, die die tarifvertragliche Abdeckung erhöhen und Tarifverhandlungen erleichtern. In Staaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 80 Prozent beträgt, müssen nationale Aktionspläne zu deren Verbesserung ausgearbeitet werden. In der EU zeichnet sich derzeit in vielen Ländern ein Trend weg von hoher Abdeckung ab, auf die der europäische Gesetzgeber hiermit offenbar reagieren wollte.
Der andere Vorstoß, mit dem es zu gerechteren Löhnen in der EU kommen könnte, ist die in Art. 5 der Richtlinie vorgesehene Schaffung transparenter Kriterien für die Festsetzung von gesetzlichen Mindestlöhnen, sofern solche in einem Mitgliedstaat bestehen. Die Richtlinie selbst sieht dabei lediglich vier Mindestkriterien vor, die bei der Festlegung und Aktualisierung der Löhne im Rahmen eines nationalen Berechnungsverfahrens jedenfalls zu berücksichtigen sind, so beispielsweise die „Kaufkraft der Mindestlöhne“. Neben diesen bleiben die Mitgliedstaaten dennoch sehr flexibel und können weitere Kriterien in die Berechnung einfließen lassen und über die Gewichtung der einzelnen Posten frei entscheiden. Es wird außerdem kein Mitgliedstaat dazu verpflichtet, überhaupt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Diese Flexibilität und die eher vorsichtige Regulierung sind Ausdruck des Versuchs, innerhalb der Kompetenzen der Europäischen Union zu handeln.
Wie kommt der Generalanwalt zu seiner Einschätzung?
Die EU darf nur Rechtsakte auf dem Gebiet ihrer Zuständigkeit erlassen. Die Kläger des Verfahrens – Dänemark und Schweden – sowie der Generalanwalt sind nun der Ansicht, dass die EU für den Erlass der Mindestlohnrichtlinie nicht zuständig gewesen sei. Grund dafür ist eine Ausnahmebestimmung (in Art. 153 Abs. 5 AEUV). Demnach hat die EU in einigen Bereichen keine Gesetzgebungskompetenz, darunter fallen die Gebiete „Arbeitsentgelt“ und „Koalitionsrecht“ (also das Recht, sich frei zu Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbänden zusammenzuschließen). Die Kläger sahen einen Verstoß gegen diese beiden Ausnahmen durch Art. 4 und 5 der Mindestlohnrichtlinie als gegeben an. Der Generalanwalt stimmt den Klägern nur teilweise zu und erkennt nur einen Verstoß im Bereich des „Arbeitsentgelts“. Dies begründet er hauptsächlich damit, dass die Mindestlohnrichtlinie zum Ziel habe, Entgelt zu regeln, was einen Eingriff in die Freiheit der Mitgliedstaaten im Bereich der Festsetzung der Löhne bedeute. Es sei dabei unerheblich, dass die Regelungen der Richtlinie sehr flexibel seien und keinen Mindestlohn vorgeben würden – auch ein noch so geringer Eingriff sei ein Eingriff, mit dem die EU ihre Zuständigkeit überschreite. Doch der Generalanwalt könnte sich irren.
Was spricht gegen die Argumentation des Generalanwalts?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich schon mehrfach mit der Bereichsausnahme „Arbeitsentgelt“ befasst (insbesondere in den Urteilen „Del Corro Alonso“, „Impact“, „Bruno u. a.“, „Specht u. a.“). Stets betonte er, dass der Begriff „Arbeitsentgelt“ eng auszulegen sei, also sein Anwendungsbereich auf das Wesentliche eingeschränkt werden müsse. Eine weite Auslegung hätte zur Folge, dass einige Bereiche, für die der EU ausdrücklich eine Gesetzgebungskompetenz eingeräumt wurde (in Art. 153 Abs. 1 AEUV) – hierbei sind insbesondere die „Arbeitsbedingungen“ zu nennen –, „ihrer Substanz beraubt werden“. Der Generalanwalt hat diese Urteile in seine Argumentation eingebracht, vertritt jedoch den Standpunkt, dass es in den dort angegriffenen Richtlinien immer nur indirekt um Arbeitsentgelt gegangen sei. Dementsprechend könne die bisherige Rechtsprechung des EuGH nicht 1:1 auf die nunmehr gegenständliche Mindestlohnrichtlinie übertragen werden.
Diese Lösung mag es ermöglichen, relativ einfach zu unterscheiden, ob ein Rechtsakt gegen die Ausnahmevorschrift von Art. 153 Abs. 5 AEUV verstößt – einfache Ansätze sind im komplexen Gebiet der europäischen Zuständigkeitsvorschriften jedoch fehl am Platz. Indem sich der Generalanwalt auf den Zweck der Richtlinie versteift, lässt er die tatsächlichen Auswirkungen der Richtlinieninhalte außer Acht. Sollte das Gericht diesen Argumentationsstrang teilen, hätte dies zur Folge, dass allein die Formulierung der Zielrichtungen von Richtlinien – unabhängig davon, welche Effekte sie in der Praxis tatsächlich entfalten – über deren Rechtmäßigkeit entscheiden könnte, was in letzter Konsequenz mit enormer Rechtsunsicherheit verbunden wäre. Darüber hinaus hat der EuGH in der Rechtssache „Impact“ klargestellt, dass nur ein unmittelbarer Eingriff in die Festsetzung der Arbeitsentgelte gegen die Kompetenzen der EU verstößt. Der Generalanwalt definiert diesen Eingriff offenbar mit einer unmittelbaren Befassung, in dem Sinne, dass jeder Rechtsakt, der sich direkt mit einem der Ausnahmebereiche (laut Art. 153 Abs. 5 AEUV) befasst, einen Eingriff darstelle.Tatsächlich kann die Rechtsprechung des EuGH aber auch so verstanden werden, dass es für einen „unmittelbaren Eingriff“ darauf ankommen soll, ob die Freiheit der Mitgliedstaaten im Bereich des Arbeitsentgelts durch eine bestimmte Richtlinie beschränkt wird. Das erscheint sehr viel vernünftiger, denn nur wenn dies bejaht wird, kann es sich überhaupt um einen Eingriff handeln. Ein Eingriff würde somit beispielsweise dann vorliegen, wenn ein konkreter Mindestlohn oder eine starre Berechnungsformel, die nur ein einziges „richtiges“ Ergebnis zuließe, durch die Richtlinie vorgeschrieben werden würde.
Doch selbst denjenigen, die die rechtlichen Argumente des Generalanwalts überzeugen mögen, dürfte an dieser Stelle ein logischer Fehler in der Argumentation auffallen: Art. 4 der Richtlinie befasst sich nicht unmittelbar mit dem „Entgelt“. Der Generalanwalt sieht auch keinen unmittelbaren Eingriff in das Koalitionsrecht durch Art. 4 verwirklicht. Eigentlich müsste selbst der Generalanwalt im Zuge seiner Argumentation zum Schluss kommen, dass eine Teilnichtigkeit vorliegt, bei der nur Art. 5 der Richtlinie verworfen werden würde. Warum er die ganze Richtlinie kippen möchte, bleibt unklar.
Was wären die Folgen?
Dem Generalanwalt zufolge müsste der EuGH die Mindestlohnrichtlinie für nichtig erklären. Was daraufhin mit den Umsetzungsgesetzen zur Richtlinie in den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU geschieht, hängt von der jeweiligen nationalen Verfassung und dem Gesetzgebungsverfahren ab. Die Folge wäre aber jedenfalls eine unüberblickbare Zersplitterung der bereits erlassenen nationalen Regelungen, was für alle Betroffenen eine unverhältnismäßig große Rechtsunsicherheit bewirken könnte.
Fazit
Der Generalanwalt nimmt eine unterkomplexe Argumentation vor und lässt dabei außer Acht, inwiefern tatsächlich in die Freiheit der Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Für die Feststellung eines Eingriffs muss betrachtet werden, inwiefern die Mitgliedstaaten tatsächlich durch die Regelungen in ihrer Freiheit beschränkt werden. Da die Mindestlohnrichtlinie nicht direkt in die Festsetzung des Entgelts eingreift, sollte der EuGH aus unserer Sicht entscheiden, dass sie unverändert bestehen bleiben kann.
Sie ist jedoch ein Teil der Umsetzung der sozialen Säule der EU in Bezug auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Verringerung von Lohnungleichheiten. Wie auch dem aktuellen WSI-Mindestlohnbericht zu entnehmen ist, hat die Mindestlohnrichtlinie bereits positive Auswirkungen auf die Entwicklung des Mindestlohns in der EU genommen und dabei dennoch viel Raum für nationale Umsetzungsspielräume gelassen. Eine Nichtigerklärung würde den Mitgliedstaaten kaum mehr Freiheit auf dem Gebiet des Arbeitsentgelts bringen; sie würde jedoch einen dunklen Schatten auf die Ziele der EU in ihrer sozialen Säule werfen.