Paradigmen­wechsel: Die EU-Liefer­ketten­richtlinie ist da

17. Juli 2024

Es war eines der umstrittensten Vorhaben der zu Ende gegangenen EU-Legislaturperiode: die EU-Lieferkettenrichtlinie, kurz CSDDD genannt. Von Wirtschaftsverbänden als „Bürokratiemonster“ geframed stand die Richtlinie noch im März 2024 kurz vor dem Aus. Massives Lobbying verhinderte die Bestätigung des bereits fertig ausverhandelten Kompromisstextes im EU-Ministerrat. Der gemeinsamen Anstrengung aller progressiven Kräfte und der Beharrlichkeit der belgischen Ratspräsidentschaft ist es zu verdanken, dass der längst fällige Paradigmenwechsel bei unternehmerischer Verantwortung nun endlich da ist.

Erfolg der progressiven Kräfte

Vor dem Hintergrund des anhaltenden massiven Wirtschaftslobbyings ist der Durchbruch bei der CSDDD am Ende der Legislaturperiode als unglaublicher Erfolg zu werten. Nur das Zusammenspiel aller progressiven Kräfte, angefangen von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft über engagierte Politiker:innen in allen europäischen und nationalen Institutionen und progressiven Unternehmen bis hin zur stillen Diplomatie der belgischen Ratspräsidentschaft, haben es ermöglicht, dass in letzter Sekunde noch ein neuer finaler Text angenommen wurde. Nach zähen Jahren des Ringens um einen verbindlichen Text kommt sie nun, die CSDDD. Große Unternehmen müssen künftig Sorgfaltspflichten erfüllen, um negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und Umwelt im Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschäftstätigkeit, aber auch die ihrer Tochterunternehmen und Geschäftspartner zu verhindern bzw. zu mindern. Kommt ein Unternehmen seiner Sorgfaltspflicht nicht nach, können Verwaltungsstrafen verhängt werden. Zudem können Unternehmen in engen Grenzen haften, wenn ein Schaden eintritt, weil die Sorgfaltspflicht verletzt wurde. Neu ist zudem, dass Unternehmen einen Klimawandel-Übergangsplan anzunehmen und umzusetzen haben, der gewährleisten soll, dass die Unternehmensstrategie mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist.

Kompromiss mit großen Zugeständnissen

Um zu einer finalen Einigung zu kommen, waren große Zugeständnisse nötig. Besonders schmerzhaft ist die drastische Einschränkung des Anwendungsbereichs. Die CSDDD wird direkt lediglich für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und einem Umsatz von mehr als 450 Millionen Euro gelten. Bei Nicht-EU-Unternehmen ist nur die Umsatzschwelle maßgeblich. Im Gegenzug für die Erhöhung der Schwellenwerte konnte aber eine wichtige Gruppenregelung erreicht werden, die eine Zusammenrechnung bei Gruppen vorsieht. Zudem werden Lizenz- und Franchisegeber erfasst, wenn mehr als 22,5 Millionen Euro an Lizenzgebühren jährlich eingenommen werden und der Umsatz des Franchisegebers 80 Millionen Euro übersteigt.

Des Weiteren kommt die CSDDD erst zeitlich erheblich verzögert zur Anwendung: Je nach Unternehmensgröße tritt die CSDDD für Betriebe sukzessive zwischen 26. Juli 2027 und 26. Juli 2029 in Kraft: Ab 26. Juli 2027 gilt die CSDDD für Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten und mehr als 1,5 Milliarden Umsatz. Ab 26. Juli 2028 sinkt diese Grenze auf Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten und mehr als 900 Millionen Euro Umsatz, bis ab 26. Juli 2029 alle Unternehmen nach den oben erwähnten Schwellenwerten erfasst sind. Auf europäischer Ebene bedeutet dieser Kompromiss, dass nur rund 5.400 Unternehmen Sorgfaltspflichten einhalten müssen, was einer Reduktion von 70 Prozent im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag gleichkommt.

Die CSDDD hat im Laufe der Verhandlungen weitere Abschwächungen erfahren, die von Arbeitnehmer:innenvertretungen und Zivilgesellschaft heftig kritisiert wurden. Im Folgenden soll der Fokus aber auf die grundlegende Funktionsweise von Sorgfaltspflichten gelegt werden, die für ein Verständnis des Regelwerks unabdingbar ist und manches Potenzial in sich birgt.


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CSDDD – das Anti-Wegschau-Gesetz

Die Zuschreibungen und Narrative von wirtschaftsliberaler Seite sind vielfach kommuniziert: ein „gut gemeintes, aber schlecht gemachtes“ „Bürokratiemonster“ oder wahlweise auch ein „Papiertiger“, der „nicht abschätzbare Haftungsrisiken“ mit sich bringt und so Standort und Wettbewerb gefährdet. Leider wurde der medial-politische Diskurs zur CSDDD in den letzten Monaten oftmals sehr polemisch und weitgehend faktenbefreit geführt.

Im Zentrum der CSDDD stehen wie erwähnt Sorgfaltspflichten, die Unternehmen auferlegen, Maßnahmen zu setzen, um für die Wahrung von Menschenrechten und Umweltstandards in ihren Lieferketten zu sorgen. Diese reichen vom Identifizieren der eigenen Lieferketten über das Gewichten von darin bestehenden Risiken für Menschen und Umwelt bis hin zum Setzen konkreter Maßnahmen, um diese Risiken zu mindern. Lara Wolters, die Berichterstatterin zur CSDDD im EU-Parlament, nannte die Richtlinie ein „Anti-Wegschau-Gesetz“. Das Ende des Wegschauens bedeutet, dass Sorgfalt für Menschenrechte und Umweltstandards in Lieferketten Teil der Unternehmenspolitik und der vom Unternehmen betriebenen Risikomanagementsysteme sein muss.

CSDDD als gemeinsame Anstrengung aller Akteur:innen

Gleichzeitig ist klar, dass systemische Änderungen weder von heute auf morgen gelingen können noch von einzelnen Akteur:innen allein zu bewältigen sind. Der Schutz von Menschenrechten obliegt den Staaten. Unternehmen haben aber dazu beizutragen, Menschenrechte zu achten. Die Verabschiedung von Lieferkettengesetzen durch Staaten dient dem Ziel, Menschenrechte besser zu schützen.

Die CSDDD sieht außerdem vor, dass die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten die Unternehmen bei der Umsetzung ihrer neuen Pflichten auf mehrfache Weise unterstützen werden. So wird es Leitlinien für die Umsetzung der einzelnen Sorgfaltspflichtenschritte geben, die Unternehmen dabei helfen, die für sie relevanten menschen- und umweltrechtlichen Risiken zu identifizieren, zu bewerten und entsprechende Maßnahmen zu setzen. Über einen zentralen Helpdesk werden Unternehmen auf alle für sie relevanten Informationen zugreifen können.

Eine besondere Rolle kommt auch den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft zu. Sie sind von Unternehmen als Interessenträger in einzelnen Punkten zu konsultieren. Zudem eröffnet sich für Interessenträger die Möglichkeit, den Unternehmen über verpflichtend einzurichtende Meldemechanismen Bedenken und Hinweise auf Missstände in ihren Lieferketten mitzuteilen. So wird ein schneller Informationskanal geschaffen, über den Unternehmen frühzeitig über Risiken informiert werden und direkt reagieren können. Bleiben Unternehmen daraufhin untätig, können Interessenträger ihr Wissen auch direkt an die zuständigen Verwaltungsbehörden weitergeben, die eine Prüfung der Bedenken vorzunehmen haben.

CSDDD als Bemühenspflicht

Für das grundsätzliche Verständnis der CSDDD ist wichtig, dass Unternehmen bei der Umsetzung der Sorgfaltspflichten keinen „Erfolg“ schulden, sondern ein Bemühen. Ein Unternehmen muss nicht sicherstellen, dass unter keinen Umständen negative Auswirkungen auf Menschenrechte auftreten oder dass diese in jedem Fall gestoppt werden. Sie müssen aber geeignete Maßnahmen setzen, um ihrer Sorgfaltspflicht nachzukommen. Missstände in der eigenen Lieferkette zu finden, sollte also kein Übel sein, das es zu verhindern gilt. Angesichts der weitverzweigten, systemischen Probleme wird das Aufdecken von Risiken eher die Regel als die Ausnahme sein. Ganz im Gegenteil, das Identifizieren von Missständen soll Teil des neuen „Hinschauens“ sein, dem das Setzen von Maßnahmen folgt.

CSDDD als Win-win-Gesetz für Europa und den Globalen Süden

Das von Wirtschaftsseite vorgebrachte Argument, dass die CSDDD für den Globalen Süden schädlich sei, weil Geschäftsbeziehungen bei Missständen beendet werden müssen, zeigt ein fundamentales Missverständnis hinsichtlich des Konzepts von Sorgfaltspflichten auf. Die CSDDD zielt darauf ab, in kontinuierlichen Prozessen Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen der Menschen in unseren globalen Lieferketten zu erreichen. Sie funktioniert gerade nicht nach einer banalen „Cut and Run“-Logik. Das Gegenteil ist der Fall. Überlegt ein Unternehmen, aufgrund anhaltender Missstände in einem Zulieferbetrieb die Geschäftsbeziehung zu beenden, ist es sogar verpflichtet, zu prüfen, ob eine Beendigung sich nicht noch fataler auf die Menschen und Umwelt vor Ort auswirken würde. Nur wenn dies nicht der Fall ist und trotz mehrfacher Bemühungen keine Besserung in Sicht ist, sind Unternehmen bei tatsächlichen schwerwiegenden Auswirkungen auf Menschen und Umwelt zur Beendigung der Geschäftsbeziehung angehalten.

Wie eine von der AK beauftragte Studie belegt, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der CSDDD sowohl für den Globalen Süden als auch für europäische Unternehmen insgesamt positiv zu bewerten. Insbesondere im Globalen Süden wird Compliance mit der CSDDD zu einer Steigerung des allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstands führen. Durch den Wegfall bzw. den Rückgang unfairen Wettbewerbs ist auch mit einem Nutzen für europäische Unternehmen zu rechnen. Nicht zuletzt profitieren Arbeiter:innen weltweit von der CSDDD, deren Position gestärkt wird.

CSDDD als Tool der Kooperation und Partizipation in globalen Wertschöpfungsketten

Die Sorgfaltspflichten sehen vor, dass bei Missständen Maßnahmen in Kooperation und Partizipation mit den Geschäftspartnern gesetzt werden: Dazu gehört etwa das Aufstellen von Aktionsplänen mit fixen Fristen und qualitativen wie quantitativen Indikatoren, wie Probleme im Dialog mit dem Zulieferer angegangen werden können. Hier wird auch explizit auf Multi-Stakeholder-Initiativen verwiesen, die große Expertise bei der Entwicklung solcher Pläne haben. Die Umsetzung solcher Aktionspläne kann dann schriftlich mit dem Geschäftspartner vereinbart werden.

Essenziell ist aber auch die Bestimmung zur Überprüfung der Rolle, die das Unternehmen möglicherweise selbst spielt. Wie ist es um die eigene Beschaffungspraxis des Unternehmens bestellt? Welche Preise bezahlt das Unternehmen dem Lieferanten? Ist damit die Zahlung existenzsichernder Löhne möglich? Werden so kurze Lieferfristen gesetzt, dass der Lieferant – will er den Auftrag nicht verlieren – Mitarbeiter:innen zu Überstunden und Akkordarbeit ohne Pausen zwingt, was ein steigendes Risiko für Arbeitsunfälle mit sich bringt?

Nicht zuletzt ist auch der Verweis in Bezug auf eine gezielte, angemessene Unterstützung von KMU-Lieferanten spannend, wenn diese zur Umsetzung der Maßnahmen erforderlich ist. Konkret geht es um Hilfe beim Kapazitätsaufbau, bei Schulungen und der Modernisierung von Managementsystemen. Je nach Einzelfall kann dies aber auch finanzielle Unterstützung in Form von zinsgünstigen Darlehen oder Garantien bedeuten, wenn Investitionen getätigt werden müssen, weil etwa die Sicherheit von Arbeiter:innen in völlig veralteten Fabriken gefährdet ist.

Wie es weitergeht

Nach dem Inkrafttreten der CSDDD hat Österreich bis 26. Juli 2026 Zeit, die Richtlinie in ein nationales Gesetz zu gießen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe kommt der künftigen Regierung zu. Die CSDDD legt Mindeststandards fest, den Mitgliedsstaaten bleibt es jedoch unbenommen, weitgehendere Regeln einzuführen. Spielraum haben die Mitgliedsstaaten insbesondere bei der Ausgestaltung der einzurichtenden Verwaltungsbehörde sowie bei der Festlegung von Sanktionen für Unternehmen, die Sorgfaltspflichten verletzen. Aus Opferperspektive stellt sich insbesonders die Frage, welche rechtlichen Voraussetzungen es braucht, damit Schadenersatzverfahren vor nationalen Gerichten nicht aufgrund verfahrensrechtlicher Hürden scheitern oder verunmöglicht werden. Der österreichische Gesetzgebungsprozess wird daher vonseiten der Gewerkschaften, Arbeiterkammer und der Zivilgesellschaft weiter intensiv begleitet werden, um ein wirksames Lieferkettengesetz auf den Boden zu bringen.

Und auch auf internationaler Ebene geht das Ringen weiter: Das EU-Parlament, aber auch Mitgliedsstaaten üben jetzt Druck auf die EU-Kommission aus, damit sich die EU nach Verabschiedung der CSDDD endlich aktiv in die seit 2014 laufenden Verhandlungen rund um ein internationales Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten einbringt. Hier ist die EU-Kommission am Zug und muss endlich einen Vorschlag für ein EU-Verhandlungsmandat vorlegen.

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