In Österreich wird die Diskussion über die Ganztagsschule seit Jahrzehnten ideologisch geprägt und parteipolitisch ausgenutzt. Kaum bezieht man Position, wird man in eine Ecke gedrängt und ein sachlicher, ernsthafter und konstruktiver Meinungsaustausch ist nicht mehr möglich. Obwohl internationale Vergleichsstudien wie PISA, PIRLS und TIMSS den Erfolg der Ganztagsschule belegen, werden diese empirischen Erfahrungen kaum zur Kenntnis genommen. Dabei war die Ganztagsschule bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine traditionelle Schulform in Österreich[1]. Die Einführung des Halbtagsunterrichts ist vielmehr auf den Einsatz von Kinderarbeit in der Landwirtschaft und den fehlenden räumlichen Kapazitäten der Schulen zurückzuführen, als auf pädagogische Gründe.
Der Erfolg des PISA-Testsiegers Finnland, der nicht zuletzt auf das flächendeckende Angebot der Ganztagsschulen beruht, ist eines von vielen Belegen der pädagogischen Sinnhaftigkeit der Ganztagsschulen. Dabei könnte hierzulande die Einführung von Ganztagsschulen als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse bei internationalen Leistungstests gesehen werden. Durch die Ausdehnung der individuellen Lern- und Freizeitgestaltung auf Basis eines pädagogischen Gesamtkonzepts können Begabungen erkannt und am besten gefördert werden.
Ich will hier in kürze einige Vorteile der Ganztagsschule schildern und werde mich auf die sozial-und bildungspolitischen Aspekte sowie auf den pädagogischen Nutzen dieser Schulform beziehen. Wenn ich von Ganztagsschule spreche, meine ich natürlich nur die verschränkte Form, die einen ganztägigen Wechsel von Unterrichts-, Lern- und Freizeit zulässt und nicht von einer Nachmittagsbetreuung, die die öffentliche Debatte prägt.
Aus sozialpolitischer Sicht
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat natürlich eine gewichtige Rolle bei der Ganztagsschuldebatte. Wir wissen aus vielen Studien, dass die Geburt eines Kindes einen negativen Einschnitt in die Berufskarriere einer Frau darstellt. Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung und geringes Einkommen sind Begleiterscheinungen der fehlenden Betreuungsplätze für Mütter.
Eine deutsche Studie[2] belegt, dass 40% der zum Befragungszeitpunkt nichterwerbstätigen Mütter, sich vorstellen können, eine Berufstätigkeit aufzunehmen, wenn die Kinderbetreuung gesichert ist. Das ist ein Beweis dafür, dass die Ganztagsschule die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöhen und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen würde. Weiters zeigt der Nationale Bildungsbericht Österreich 2012, dass sich der Anteil der zeitweise unbetreuten Kinder in der Gruppe der 6- bis 8-Jährigen Kinder auf 6,7% beläuft und bei 9- bis 12-Jährigen auf 14,2%. Nur durch ganztägige Betreuungsangebote, können Eltern und hier vor allem Mütter entlastet und Kinder altersgerecht betreut werden.
Aus bildungspolitischer Sicht
Wir wissen aus nationalen und internationalen Vergleichsstudien, dass es in Österreich einen starken Zusammenhang zwischen Bildungsabschluss der Eltern und ihren Kindern gibt. Zuletzt hat eine Erhebung der Statistik Austria über den „Eintritt junger Menschen in den Arbeitsmarkt“ diesen Umstand zum wiederholten Male belegt. Die Wahrscheinlichkeit für Kinder aus Akademikerhäusern eine Universität/Hochschule zu absolvieren beträgt 41%, während es bei Kindern von Eltern mit höchstens Pflichtschulabschluss bloß 5% sind. Das Bildungssystem entzieht sich der Verantwortung für den Bildungserfolg der Kinder und schiebt diese auf die Eltern. Eltern müssen ihren Kindern entweder selber Nachhilfeunterricht geben oder private Nachhilfestunden zahlen. Eine Studie der AK-Wien über Nachhilfe belegt, dass die jährlichen bundesweiten Gesamtausgaben für Nachhilfeunterricht in der Höhe von rund 107 Millionen Euro pro Jahr liegen. Kinder, deren Eltern aus zeitlichen, finanziellen oder anderen Gründen nicht die Möglichkeit einer Nachhilfe haben, müssen schauen, wie sie mit den Herausforderungen klarkommen.
Dagegen würde die Ganztagsschule eine Chance bieten, die soziale Bildungsbenachteiligung effektiv auszugleichen und einen geeigneten Raum sowie genügend Zeit für das Gemeinsame Lernen zu schaffen. Mit dem Ausbau zeitlicher-, räumlicher- und personeller Ressourcen wäre sowohl eine Ausschöpfung der Begabungsreserven als auch eine Anhebung des Bildungsniveaus aller Kinder möglich. Bessere durchschnittliche Leistungen, weniger Klassenwiederholungen, Entlastung bei der Hausaufgabenbetreuung, Unterstützung bei Erziehungsproblemen, positive Auswirkungen auf das Sozialverhalten sind nur einige von vielen Erfolgen der Ganztagsschule.
Aus pädagogischer Sicht
Auf Grund der wachsenden Heterogenität und der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen der modernen Gesellschaft, muss die Schule vielmehr leisten können als Grundkenntnisse des Schreibens, Lesens, Rechnens zu vermitteln. Das ist nur in einer Schule möglich, die ein ausgeweitetes Verständnis von Bildung und Lernen hat; einer Schule, die eine Abwechslung zwischen Freizeit- und Fachangeboten bietet, die fächerübergreifende schulische und außerschulische Projekte umsetzt, individualisierte Lernzugänge ermöglicht, geschlechtersensible und interkulturelle Pädagogik bietet. Die Schule soll vor allem auch Rahmenbedingungen für eine an den Bedürfnissen des Kindes orientierte Förderung der physischen, psychosozialen und emotionalen Entwicklung schaffen. All das ist natürlich nur mit erweiterten Zeit-, Raum- und Personalressourcen möglich.