Von Chancen-Index bis Startchancen-Programm: Sozial­indizierte Schul­finanzierung als Schlüssel für mehr Bildungs­gerechtigkeit

05. November 2024

Im Lichte der beginnenden Regierungsverhandlungen steht ein Thema an der Spitze einer künftigen Reformagenda: Bildung. Ganz gleich in welcher Zusammensetzung, eine künftige österreichische Bundesregierung wird sich der bildungspolitischen Herausforderungen annehmen müssen, die sich nicht zuletzt in den hohen Kompetenzunterschieden von Schüler:innen äußern. Diese schulisch vermittelten Kompetenzen sind im österreichischen Bildungssystem nach wie vor enorm stark von den familiären Hintergründen abhängig, ganz besonders vom Bildungshintergrund der Eltern bzw. der familiären Alltagssprache. Selbst nach acht Jahren im Schulsystem weisen Schüler:innen Kompetenzunterschiede von über drei Lernjahren auf, wie etwa der Blick auf Bildungsstandardüberprüfung in Mathematik aus dem Jahr 2017 zeigt (siehe Grafik).

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Der Bedarf an Unterstützung ist also hoch, jedoch keineswegs über alle Schultypen und Regionen gleich verteilt. Vielmehr unterscheiden sich Schulen markant in ihrer sozialen und sprachlichen Zusammensetzung, weshalb an bestimmten Standorten die Herausforderungen deutlich höher ausfallen als an anderen. Seit zwei Jahrzehnten wird in Österreich deshalb über Modelle einer bedarfsorientierten finanziellen Unterstützung für Schulen diskutiert, die indexbasiert am jeweiligen Grad der Herausforderungen ausgerichtet wird. Die Arbeiterkammer hat mit dem AK-Chancen-Index ein siebenstufiges Modell eines Sozialindex entwickelt, der zusätzliche Finanzmittel für Schulen auf Basis des Bildungstands der Eltern sowie der Erstsprachen der Schüler:innen vergibt – wobei Stufe 1 dem niedrigsten, Stufe 7 dem höchsten Herausforderungsgrad entspricht. Damit werden Schulstandorte entsprechend ihrem Bedarf darin unterstützt, basierend auf einem Entwicklungskonzept mit zusätzlichem Unterstützungspersonal, Schulentwicklungsprozessen, Fortbildungen den Herausforderungen besser begegnen zu können.

Ungleiche Standortbedingungen führen zu ungleichen Chancen

Wie markant die Chancen auf schulische Erfolge sich auch nach Schultypen und Chancen-Index-Stufen unterscheiden, zeigt eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) im Auftrag der Arbeiterkammer Wien. Auf Basis von Registerdaten zur Schüler:inneneinstiegskohorte 2006/07 analysiert sie Bildungsverläufe und u. a. ihre Bildungsabschlüsse im Jahr 2021/22, also 16 Jahre nach Schuleintritt, je nachdem, ob die Schüler:innen eine AHS-Unterstufe oder Hauptschule/Neue Mittelschule besucht haben (siehe Grafik 2).

Dabei zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, Matura zu erlangen (strichlierte Linien), grundsätzlich mit jeder höheren Chancen-Index-Stufe (also höheren Schulstandortherausforderungen) sinkt. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, wenn Schüler:innen die AHS-Unterstufe gegenüber Hauptschule oder Neuer Mittelschule besucht haben, und dieser Unterschied wird mit jeder Index-Stufe größer.

Am anderen Ende des Spektrums nimmt die Wahrscheinlichkeit, maximal Pflichtschulabschluss zu erreichen (durchgehende Linien), hingegen mit jeder Index-Stufe zu, insbesondere ab der Stufe 4. Im Gegensatz zu Schüler:innen mit AHS-Unterstufenbesuch steigt die Wahrscheinlichkeit bei Schüler:innen mit Haupt-/Mittelschulbesuch aber deutlich stärker an, für sie wirkt sich eine höhere Index-Stufe also besonders nachteilig aus. Ab Schulen der Index-Stufe 5 ist ihre Wahrscheinlichkeit, lediglich Pflichtschulabschluss zu erreichen, sogar höher als jene, Matura zu erreichen.

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Aus internationalen Good-Practice-Beispielen lernen

Diese Befunde verdeutlichen einmal mehr, dass gerade für Schulstandorte mit den größten Herausforderungen ganz besondere Anstrengungen notwendig sind, um das Risiko früher Schulabbrüche und niedriger Bildungsabschlüsse zu reduzieren. Bedarfsorientierte Schulfinanzierung über die Basisfinanzierung hinaus kann hier zu wesentlichen Fortschritten führen und sowohl Kompetenzunterschiede reduzieren als auch zu höherer Schulzufriedenheit für Schüler:innen und Lehrkräfte insgesamt beitragen. Zahlreiche regionale und nationale Beispiele in Europa haben dies bereits gezeigt, von London über Hamburg bis in die Niederlande. Das neueste Vorbild für Reformprozesse in Österreich findet sich jedoch in der Bundesrepublik Deutschland.

Dort haben sich Bund und Länder in einem „Startchancen-Programm“ auf Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro über die nächsten 10 Jahre geeinigt, mit denen gezielt die besonders herausgeforderten Schulstandorte unterstützt werden sollen. 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil „sozial benachteiligter Schüler:innen“ sollen finanziell gestärkt werden, ein starker Fokus – rund 60 Prozent des Budgets – soll auf den Grundschulen (Volksschulen) liegen. Die Finanzierung erfolgt je zur Hälfte über den Bund und die Länder. Mittels eines Sozial-Index auf Basis a) des Anteils an armutsgefährdeten Schüler:innen, b) der Kinder und Jugendlichen mit Migrationsbiografie sowie c) des Bruttoinlandsprodukts der Bundesländer werden die Mittel auf die Bundesländer verteilt. Diese teilen die ihnen zugewiesenen Mittel anhand transparenter Kriterien auf die einzelnen Schulen auf. Standorte, die Fördergelder erhalten, müssen 40 Prozent der Fördermittel für Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung (Infrastruktur und Ausstattung) investieren. Rund 30 Prozent der Zusatzmittel sollen als „Chancenbudgets“ für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung verwendet werden; weitere 30 Prozent dienen der Stärkung multiprofessioneller Teams an Schulstandorten und damit dem langfristigen Aufbau von Schulsozialarbeit.

Damit soll an den Startchancen-Schulen auf individueller Ebene die Halbierung der Schüler:innen unterhalb der Mindeststandards in Mathematik und Deutsch, die Stärkung ihrer sozio-emotionalen Kompetenzen sowie die Förderung ihrer demokratischen Teilhabe erreicht werden. Institutionell soll durch datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung eine gezielte Qualifizierung und Professionalisierung der Lehrkräfte sowie die Nutzung einer erhöhten Autonomie der Schulen im Sinne bedarfsgerechter Lösungsentwicklung erzielt werden. Damit soll die Implementierung von Qualifizierungs- und Professionalisierungsprozessen vorangetrieben und neue Formen der Zusammenarbeit gefördert werden, um Kohärenz, Effizienz und Effektivität der Bildungsangebote zu steigern.

Klarer Auftrag für eine mutige Reformkoalition

Das Startchancen-Programm ist das größte und langfristigste Bildungsprogramm der Geschichte Deutschlands, ein mutiger und notwendiger Schritt. Auch für Österreich ist eine mutige Chancenoffensive dieser Art dringend notwendig, wie die obigen Daten verdeutlichen. Eine ganze Reihe von Schritten in diese Richtung wurden in den vergangenen Jahren bereits getätigt: Seit dem Bildungsreformgesetz 2017 wurden bereits wichtige rechtliche Grundlagen für die Möglichkeit geschaffen, einen Chancen-Index bundesweit anwenden zu können. Sowohl auf Bundes- wie Landesebene wurden von Bildungsverwaltungen auch die Messgrundlagen sozialindizierter Schulstandorteinstufung geschaffen, die für eine solche Umsetzung nötig werden. Und in einigen Pilotprojekten wie dem Projekt „Grundkompetenzen absichern“ oder dem Projekt „100 Schulen 1.000 Chancen“ wurden erste Erfahrungswerte gesammelt, wie vergebene Unterstützungsressourcen für Schulstandortentwicklung, Kompetenzentwicklung und auch strukturelle Ausstattung eingesetzt werden können.

Dass eine solche Offensive zudem breite gesellschaftliche Zustimmung fände, zeigt der Sozialbarometer der Volkshilfe Österreich: 2019 sprachen sich darin 9 von 10 Personen sehr (52 Prozent) oder eher (48 Prozent) für die Einführung einer bedarfsorientierten Schulfinanzierung aus. Was es neben dieser klaren Präferenz in der Bevölkerung jetzt noch braucht, ist auch ein breiter politischer Konsens, diesen Schritt nun mutig anzugehen. Im Sinne der Schüler:innen, im Sinne der Pädagog:innen und Schulleitungen sowie im Sinne der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt. Die bevorstehenden Regierungsverhandlungen können für eine Reformkoalition womöglich das entscheidende Gelegenheitsfenster dazu bieten.

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