© A&W Blog
Aus internationalen Good-Practice-Beispielen lernen
Diese Befunde verdeutlichen einmal mehr, dass gerade für Schulstandorte mit den größten Herausforderungen ganz besondere Anstrengungen notwendig sind, um das Risiko früher Schulabbrüche und niedriger Bildungsabschlüsse zu reduzieren. Bedarfsorientierte Schulfinanzierung über die Basisfinanzierung hinaus kann hier zu wesentlichen Fortschritten führen und sowohl Kompetenzunterschiede reduzieren als auch zu höherer Schulzufriedenheit für Schüler:innen und Lehrkräfte insgesamt beitragen. Zahlreiche regionale und nationale Beispiele in Europa haben dies bereits gezeigt, von London über Hamburg bis in die Niederlande. Das neueste Vorbild für Reformprozesse in Österreich findet sich jedoch in der Bundesrepublik Deutschland.
Dort haben sich Bund und Länder in einem „Startchancen-Programm“ auf Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro über die nächsten 10 Jahre geeinigt, mit denen gezielt die besonders herausgeforderten Schulstandorte unterstützt werden sollen. 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil „sozial benachteiligter Schüler:innen“ sollen finanziell gestärkt werden, ein starker Fokus – rund 60 Prozent des Budgets – soll auf den Grundschulen (Volksschulen) liegen. Die Finanzierung erfolgt je zur Hälfte über den Bund und die Länder. Mittels eines Sozial-Index auf Basis a) des Anteils an armutsgefährdeten Schüler:innen, b) der Kinder und Jugendlichen mit Migrationsbiografie sowie c) des Bruttoinlandsprodukts der Bundesländer werden die Mittel auf die Bundesländer verteilt. Diese teilen die ihnen zugewiesenen Mittel anhand transparenter Kriterien auf die einzelnen Schulen auf. Standorte, die Fördergelder erhalten, müssen 40 Prozent der Fördermittel für Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung (Infrastruktur und Ausstattung) investieren. Rund 30 Prozent der Zusatzmittel sollen als „Chancenbudgets“ für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung verwendet werden; weitere 30 Prozent dienen der Stärkung multiprofessioneller Teams an Schulstandorten und damit dem langfristigen Aufbau von Schulsozialarbeit.
Damit soll an den Startchancen-Schulen auf individueller Ebene die Halbierung der Schüler:innen unterhalb der Mindeststandards in Mathematik und Deutsch, die Stärkung ihrer sozio-emotionalen Kompetenzen sowie die Förderung ihrer demokratischen Teilhabe erreicht werden. Institutionell soll durch datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung eine gezielte Qualifizierung und Professionalisierung der Lehrkräfte sowie die Nutzung einer erhöhten Autonomie der Schulen im Sinne bedarfsgerechter Lösungsentwicklung erzielt werden. Damit soll die Implementierung von Qualifizierungs- und Professionalisierungsprozessen vorangetrieben und neue Formen der Zusammenarbeit gefördert werden, um Kohärenz, Effizienz und Effektivität der Bildungsangebote zu steigern.
Das Startchancen-Programm ist das größte und langfristigste Bildungsprogramm der Geschichte Deutschlands, ein mutiger und notwendiger Schritt. Auch für Österreich ist eine mutige Chancenoffensive dieser Art dringend notwendig, wie die obigen Daten verdeutlichen. Eine ganze Reihe von Schritten in diese Richtung wurden in den vergangenen Jahren bereits getätigt: Seit dem Bildungsreformgesetz 2017 wurden bereits wichtige rechtliche Grundlagen für die Möglichkeit geschaffen, einen Chancen-Index bundesweit anwenden zu können. Sowohl auf Bundes- wie Landesebene wurden von Bildungsverwaltungen auch die Messgrundlagen sozialindizierter Schulstandorteinstufung geschaffen, die für eine solche Umsetzung nötig werden. Und in einigen Pilotprojekten wie dem Projekt „Grundkompetenzen absichern“ oder dem Projekt „100 Schulen 1.000 Chancen“ wurden erste Erfahrungswerte gesammelt, wie vergebene Unterstützungsressourcen für Schulstandortentwicklung, Kompetenzentwicklung und auch strukturelle Ausstattung eingesetzt werden können.
Dass eine solche Offensive zudem breite gesellschaftliche Zustimmung fände, zeigt der Sozialbarometer der Volkshilfe Österreich: 2019 sprachen sich darin 9 von 10 Personen sehr (52 Prozent) oder eher (48 Prozent) für die Einführung einer bedarfsorientierten Schulfinanzierung aus. Was es neben dieser klaren Präferenz in der Bevölkerung jetzt noch braucht, ist auch ein breiter politischer Konsens, diesen Schritt nun mutig anzugehen. Im Sinne der Schüler:innen, im Sinne der Pädagog:innen und Schulleitungen sowie im Sinne der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt. Die bevorstehenden Regierungsverhandlungen können für eine Reformkoalition womöglich das entscheidende Gelegenheitsfenster dazu bieten.
Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist
unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/.
Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung