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Erstmals ein internationales Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung
Im Bewusstsein dieser Zustände kämpften Gewerkschafter:innen schon jahrelang für ein internationales Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Nach zähen Verhandlungen wurden das Übereinkommen Nr. 190 und die damit zusammenhängende Empfehlung Nr. 206 schließlich auf der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Juni 2019 beschlossen. Damit wurde erstmals ein internationales Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung verankert.
Zentrale Inhalte sind hierbei:
- Das ILO-Übereinkommen enthält eine Definition von Gewalt und Belästigung sowie im Speziellen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung.
- Der persönliche Schutzbereich ist weit gefasst:Abhängig Beschäftigte unabhängig von ihrem Vertragsstatus, Praktikant:innen und Arbeitssuchende sind von dem internationalen Rechtsakt erfasst.
- Auch ist der örtlicheSchutzbereich umfassend erfasst: Das ILO-Übereinkommen bezieht sich u. a. auch auf Gewalt und Belästigung in Umkleideeinrichtungen und auf dem Arbeitsweg.
- Mitgliedstaaten und Arbeitgeber werden zu Präventionsmaßnahmen verpflichtet.
- Es muss gewährleistet werden, dass Betroffene einen einfachen Zugang zu wirksamen Abhilfemaßnahmen und Gerichten haben.
- Das ILO-Übereinkommen sieht einen Schutz vor Viktimisierungfür Beschwerdeführer:innen vor.
- Die Mitgliedstaaten müssen Sanktionen vorsehen.
- Zum ersten Mal wird in einem internationalen Rechtsakt anerkannt, dass häusliche GewaltAuswirkungen auf die Arbeitswelt haben kann, und es werden Verantwortlichkeiten festgeschrieben, damit umzugehen.
- Zudem sieht das Übereinkommen vor, dass Mitgliedstaaten auch Maßnahmen ergreifen müssen, um besonders verletzliche Gruppen zu schützen.
Verpflichtungen auf dem Weg zu einer sichereren Arbeitswelt
Das ILO-Übereinkommen Nr. 190 sieht eine Reihe an Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten vor, die es ratifiziert haben. Dazu zählen:
- Die Mitgliedstaaten müssen ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt in ihrer Rechtsordnung festschreiben.
- Sie müssen eine umfassende Strategie zu deren Verhinderung und Bekämpfung umsetzen.
- Die Unterstützung für und der Zugang zu Gerichten für Betroffene muss in den Mitgliedstaaten vorgesehen werden.
- Darüber hinaus müssen Leitlinien, Ressourcen und Schulungen bereitgestellt und Sensibilisierungskampagnen durchgeführt werden.
Doch auch Arbeitgeber werden in die Pflicht genommen. Das Übereinkommen sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber in dem jeweiligen Land zu einer Reihe von Maßnahmen verpflichten. Dazu zählen:
- Arbeitgeber müssen Verantwortung dafür übernehmen, ihre Beschäftigten vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu schützen und diese zu verhindern.
- In Beratung mit den Arbeitnehmer:innen und ihren Vertreter:innen, also z. B. Betriebsräten, sollen Arbeitgeber Regelungen („Arbeitsplatzpolitik“) im Zusammenhang mit Gewalt und Belästigung annehmen und umsetzen.
- Beispiele für Inhalte solcher betrieblicher Regelungen sind: Programme zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung; die Festlegung von Rechten und Verantwortlichkeiten; Informationen über Beschwerde- und Untersuchungsverfahren sowie Maßnahmen zum Schutz von Opfern, Zeug:innen und Hinweisgeber:innen vor Viktimisierung.
- Arbeitgeber müssen Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken beim Arbeitnehmer:innenschutz-Management berücksichtigen. In diesem Zusammenhang müssen sie Gefahren ermitteln, Risiken bewerten und Präventionsmaßnahmen setzen.
Das Übereinkommen muss durch die Staaten ratifiziert werden, um für sie völkerrechtlich verbindlich zu werden. Österreich hat auf der ILO-Konferenz 2019 für dieses Übereinkommen gestimmt. Seitdem hat sich in Österreich allerdings nichts dazu bewegt.
Weshalb wäre eine Ratifikation durch Österreich wichtig?
Zum einen sollte Österreich seinen international anerkannten Status als Land mit einem breit ausgebauten Sozialstaat, einem in vielen Bereichen hohen Schutzstandard und einem starken sozialen Dialog (Sozialpartnerschaft) dafür nutzen, um als Vorbild zu dienen. Bis dato haben 13 Mitgliedstaaten der ILO das Übereinkommen Nr. 190 ratifiziert, darunter Griechenland, Italien und Großbritannien. In Deutschland ist die Ratifikation Teil des Koalitionsvertrages. Außerhalb Europas haben etwa Somalia und Namibia das Übereinkommen bereits ratifiziert.
Zum anderen hat Österreich zwar weltweit gesehen einen theoretisch hohen Schutzstandard, vieles davon kommt in der Praxis aber nicht an bzw. bietet keinen effektiven Schutz.
Österreich ratifiziert ILO-Übereinkommen erst, wenn deren Inhalte schon im innerstaatlichen Recht umgesetzt sind. Der ÖGB und die Arbeiterkammer haben Anfang März in einem Brief an Frauenministerin Susanne Raab und Arbeitsminister Martin Kocher appelliert, die zur Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 190 notwendigen formalen Schritte zu unternehmen und die Sozialpartner mit ihrer Expertise und ihren Erfahrungen aus der Praxis des Arbeitslebens in diesen Prozess einzubinden und Gespräche dazu zu starten.
Was aus Sicht der Arbeitnehmer:innen nicht passieren darf
Enttäuschend wäre es, wenn die Bundesregierung lediglich Argumente sammeln würde, die vermeintlich gegen eine Ratifikation sprechen. So war in einem Medienbericht bereits seitens des Arbeitsministeriums zu lesen, dass das ILO-Übereinkommen teilweise nicht ausreichend konkretisiert sei. Internationale Übereinkommen, die sich an 187 Länder mit sehr unterschiedlichen Realitäten und Rechtssystemen richten, brauchen aber gewisse „Interpretationsspielräume“. Das erschwert eine Ratifikation nicht, sondern erleichtert sie.
Wenn die österreichische Rechtslage entsprechend geändert werden muss, dann zeigt dies einen dringenden innerstaatlichen Handlungsbedarf auf – und taugt nicht als grundsätzliches Argument gegen eine Ratifikation.
Die formale Verpflichtung gegenüber der ILO ist jedenfalls leicht zu erfüllen: Hier reicht es, derartige Argumente zu sammeln und dem Parlament als Bericht über die „rechtlichen Hindernisse“ für eine Ratifikation vorzulegen. Wenn seitens der Bundesregierung nur das geschehen sollte, dann würde es wieder still werden um das ILO-Übereinkommen Nr. 190.
Und eine historische Chance wäre vertan.
Die Antwort von Minister Kocher auf den Brief von AK und ÖGB scheint aber leider genau diese Vorgehensweise anzudeuten. Die Ministerantwort beschränkte sich darauf, festzuhalten, dass die österreichische Rechtslage dem Übereinkommen Nr. 190 nicht voll entspräche und eine Ratifikation „mit jetzigem Stand nicht erfolgen“ könne. Die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung sei für die Bundesregierung aber weiterhin ein “wichtiges Anliegen”.
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