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Die Sozialpartner-Autonomie großer, „integrierend“ agierender Verbände wird auch von der österreichischen Verfassung und dem EU-Recht weitgehend vor staatlicher Intervention geschützt. So sieht das EU-Recht vor, dass die Europäische Kommission das Koalitionsgrundrecht achtet und die Kollektivverhandlungen zwischen repräsentativen Verbänden der Arbeitgeber:innen und der Arbeitnehmer:innen fördert.
Das anerkennen auch die zuständigen Organe der EU (v. a. Wirtschafts- und Sozialausschuss, Europäische Kommission, Europäisches Parlament), denn sie verlangen die entsprechende Repräsentativität von KV-Verbänden. So sind arbeitsrechtliche Expert:innen der Meinung, dass das Absprechen der KV-Fähigkeit einzelner Berufsverbände die Koalitionsfreiheit nicht verletzt.
Adäquate Tätigkeitenbewertung sowie Diskriminierungsfreiheit
Der KV hat laut Gesetz mehrere Funktionen zu erfüllen: neben seiner Schutzfunktion der Arbeitnehmer:innen und seiner Interessenausgleichs-, Kartell- und Friedensfunktion auch eine Funktion der „Arbeitsbewertungsadäquanz“. Die Verhinderung exzessiver Lohnspreizung ist meines Erachtens als Teil davon zu verstehen. Der KV als Ergebnis von Verhandlungen jener Verbände, die, wie eingangs erwähnt, sozial wirkmächtig und umfassend agierend sind, trägt deshalb eine weitgehend anerkannte „Richtigkeitsgewähr“ in sich: eine auch von Gerichten anerkannte Rechtsvermutung, dass Kollektivverträge die Arbeitsleistungen in einer Branche konsensual-ausgleichend bewerten und in diskriminierungsfreier Form in Mindestentgeltansprüche ummünzen.
Anders stellt sich die Situation in einigen wenigen EU-Mitgliedsstaaten dar, etwa in Deutschland, wo auch kleine, wenig repräsentative Verbände Parallel-Kollektivverträge abschließen können. Deshalb wird dort, zur Vermeidung von unternehmensinternen KV-Kollisionen und -Konkurrenzen, ein Tarifeinheitsgesetz benötigt. Es besagt, dass nur jener Tarifvertrag (KV) in einem bestimmten Unternehmen gilt, dessen Gewerkschaft die höchste Mitgliederzahl im Unternehmen hat. Dies wurde 2022 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als verfassungskonform bestätigt. Im Ergebnis hatte aber bereits das deutsche Höchstgericht, das Bundesarbeitsgericht, 2018 geurteilt: „Am Erfordernis der hinreichenden Durchsetzungskraft und organisatorischen Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit haben weder das Mindestlohngesetz noch das Tarifeinheitsgesetz etwas geändert.“ Weil in Deutschland nun aber nach entsprechenden Mitgliedschaften der jeweils involvierten Gewerkschaften „gesucht“ und „gezählt“ werden muss, ist die Rechtslage für alle Beteiligten der Branche, letztlich der Arbeitswelt insgesamt, unsicher.
50 Jahre ArbVG: Richtigkeitsvermutung des KV und Zersplitterungsvermeidung bei den Sozialpartnern
Die Vermutung, dass Kollektivverträge die Arbeitsleistungen in einer Branche korrekt bewerten, kann nur dann Bestand haben, wenn breite Repräsentanz der Verhandler:innen gegeben ist. Würden bloß die Interessenvertreter:innen der Schlüsselkräfte und Spitzenverdiener:innen verhandeln, bestünde wohl entsolidarisierende Wirkung.
Die 1947 als Wiederaufbau-Notwendigkeit (und Arbeitsfrieden stiftender Faktor) in das Kollektivvertragsgesetz (Vorgängergesetz des derzeit geltenden ArbVG) eingefügten Voraussetzungen für die Erlangung der KV-Fähigkeit – hier in der Einleitung kurz skizziert – waren im historischen Kontext nachvollziehbar. Es sollte eine Zersplitterung der KV-Akteure (Berufsverbände) vermieden werden. Dazu ist v. a. von Univ. Prof. Elias Felten in seiner Monografie zu Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassung vieles aufgezeigt worden: Firmenkollektivverträge sollten im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit mit ihren Arbeitskonflikten nicht mehr möglich sein. In der Regierungsvorlage 1946/47 wurde festgehalten, dass „unbedeutende Splittergruppen“ eine planvolle Lohn- und Arbeitspolitik stören könnten und daher fernzuhalten seien und dass jener Gewerkschaftsbund „der übrigens in seinen Fachgewerkschaften alle Gruppen der unselbständig Erwerbstätigen erfasst“ als Akteur auf Arbeitnehmer:innenseite anzusehen sei.
Diese 1947 festgelegten Voraussetzungen wurden nahezu unverändert in das derzeit geltende Recht, das ArbVG, übernommen. Dass dies nicht den damaligen Verhältnisse geschuldet, sondern zeitlos ist, anerkennen wie gesagt neben dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof auch die zuständigen Organe der EU – und die überwiegende Mehrheit der Arbeitsrechtsexpert:innen.
Partikularinteressen-Lobbys als „Gewerkschaften“?
Das Mandat für KV-Verhandlungen soll also aus intern ausgleichenden, alle relevanten Berufsfelder abdeckenden Belegschaften-Kollektiven kommen, und das in Selbstverwaltung und unabhängig vom Staat. Nur dann ist ein „freies Spiel der Kräfte“ bei gleichzeitiger verbandsinterner Ausgleichsfähigkeit im Sinne von Interessenglättungs-Fähigkeit möglich, nur dann kann die Ausgewogenheit und Diskriminierungsfreiheit der Entgelttabellen angenommen werden. Bei Berücksichtigung sämtlicher Berufsbilder unter Zugrundelegung ausverhandelter, diskriminierungsfreier Arbeitsbewertungsfaktoren wird es in der Regel zu keiner exzessiven Entgeltspreizung mit nachfolgenden Ausbildungs- und Arbeitsmarktproblemen kommen. Im umgekehrten Fall, also bei unausgewogenen Bewertungsfaktoren und Strukturen sowie bei Ignorieren der Arbeitsmarkt-Mechanismen, würden nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch Bewerbungen auf Lehr- bzw. Ausbildungsplätze fehlen. Eine unausgewogene Entgeltstruktur aufgrund von Druck von Partikularinteressen könnte gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen haben. Auch für die Arbeitsmarktpolitik.
Umverteilungsfähigkeit in einer sektorbezogenen Entgeltstruktur kann demnach nur von Verbänden geleistet werden, die in der Lage sind, alle Berufsbilder einer Branche abzudecken. Es sollte grundsätzlich den Angehörigen aller Berufsbilder der jeweiligen Branche der Beitritt offenstehen; die Mitgliederakquisition, der Aufbau von Verhandlungsmasse und eine dementsprechende dauerhafte Geschäftsführungsstruktur im Verband muss breit und umfassend angelegt sein.
Kollektivvertrag „nur für (gutverdienende) Männer“ geht gar nicht!
Sollte ein kleiner, kaum repräsentativer Partikularinteressen-Verein beabsichtigen, leitende (überwiegend männliche) Angestellte an der Einkommensspitze zu vertreten und dafür sogar Kollektivvertragsfähigkeit erlangen wollen, wäre das nicht nur im Hinblick auf das Problem der Geschlechterdiskriminierung fragwürdig. Unzählige Partikulargruppen-KV anstelle von Branchen-KV sind weder von der europäischen Gesetzgebung noch von jener der meisten Mitgliedsstaaten vorgesehen.
Der Flächen-KV und die für die KV-Fähigkeit vorausgesetzte soziale Mächtigkeit verhindern Konflikte um Partikularinteressen (wie es sie z. B. in Deutschland gibt) und stellen eine gesamtwirtschaftlich orientierte lohnpolitische Ordnungsfunktion sicher; zudem ist ein gewichtiger Solidareffekt feststellbar, weil auch für niedrige Verwendungsgruppen in Hochlohnbranchen vergleichsweise hohe Entgelte reguliert werden, in den letzten Jahren sogar überproportional ansteigend (durch Sockelbetrags-Abschlüsse oder größere Steigerungsquoten für die unteren Schemagruppen).
Auch ein neues factsheet des Europäischen Parlaments vom September 2024 stellt die Bedeutung stabiler und dauerhafter Sozialpartnerschaft klar: „Die Autonomie der Sozialpartner und ihr Recht auf Kollektivmaßnahmen sind in der EU-Säule sozialer Rechte festgelegt. Die Kommission hat dieses Engagement mehrfach bekräftigt, etwa in den Mitteilungen zum europäischen Grünen Deal und zu einem starken sozialen Europa für einen gerechten Übergang oder in der jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum (…).“
Das österreichische System der Kollektivvertragsverhandlungen sowie seiner handelnden Akteure ist somit verfassungs- und europarechtskonform sowie solidarisch verteilend.
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